Alles Krise oder was? Wie Hamburgs Jugend auf die Demokratie blickt

Demokratie-Sprechstunde: Neues Angebot der BKHS zeigt, wie Austausch zu konstruktiven Ideen führt

Ein Schild mit der Aufschrift „Wähl Liebe, damit es bunt bleibt“, das auf einer Demonstration hochgehalten wird.

Liebe Leser*innen, 

hätten Sie spontan eine Antwort auf folgende Frage parat: Wie zufrieden sind Sie im Moment mit der Demokratie in Deutschland? Sicher eine große Frage in politisch unruhigen Zeiten. Unsere Kolleginnen Alisa Rieth und Merle Strunk haben sie trotzdem Hamburger Schüler*innen in den Wochen vor der Bundestagswahl gestellt. Das Ergebnis: Die Zustimmung zur Demokratie ist hoch, ebenso aber auch die Verunsicherung. Neben Sorgen haben die jungen Menschen vor allem eines: viele Fragen und Gesprächsbedarf. Wie wir in unserer neuen Demokratie-Sprechstunde mit ihnen in den Austausch kommen, das lesen Sie heute in unserem Schmidtletter.

Eine interessante Lektüre wünscht 
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Einige wenige Schüler*innen stehen in sich gegenüberliegenden Ecken des Klassenraums. Sie sind mit dem Zustand der Demokratie in Deutschland entweder sehr zufrieden oder aber er bereitet ihnen große Sorgen. Der Großteil der Klasse drängt sich jedoch in der Mitte des Raums zusammen. Diese Gruppe blickt mit gemischten Gefühlen auf die aktuelle Situation. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einige beschäftigt die zunehmende Verbreitung rechtsextremer Positionen. Sie fragen sich, ob die demokratischen Institutionen genug geschützt sind. Andere fühlen sich von der Politik nicht beachtet. Viele von ihnen sind Erstwähler*innen. Wem sie ihre Stimme geben werden, wissen viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ob sie überhaupt wählen gehen sollten und welchen Einfluss ihre Stimme haben kann, sind nur einige der Fragen, die im Raum stehen.

Das oben beschriebene Stimmungsbild ist der Ausgangspunkt der Demokratie-Sprechstunde „Alles Krise oder was?!“ – dem neuen Bildungsformat der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (BKHS), das sich gezielt an Schulklassen richtet. Angesichts aktueller weltpolitischer Umbrüche, dem Aufstieg populistischer und rechtsextremer Kräfte und dem gefühlten Sekundentakt krisenhafter Ereignisse, Eilmeldungen und Sondersitzungen zielt das interaktive Format darauf ab, jungen Menschen einerseits einen Raum zu öffnen, um eigene Sorgen, Stimmungen und Perspektiven zu äußern und andererseits die Demokratie mit ihren politischen Institutionen, Strukturen und Prozessen genauer unter die Lupe zu nehmen. 

Live dabei: Dauerkrise im Newsfeed

Neuere Jugendstudien zeigen (etwa hier und hier), dass die Belastung junger Menschen durch aktuelle Krisen zugenommen hat. Besonders die Überlagerung vieler krisenhafter Ereignisse und der permanente und oft ungefilterte Nachrichtenkonsum in den sozialen Medien wirkt sich auf das psychische Wohlbefinden aus. Unsere Gespräche mit Jugendlichen in den vergangenen Wochen haben gezeigt, dass auch Hamburger Schüler*innen hier keine Ausnahme sind. Allerdings sind sich viele von ihnen dieser Situation bewusst. Einige regulieren ihren Nachrichtenkonsum in Stressphasen bewusst herunter. Viele können die Meldungen kritisch einordnen, hinterfragen das Framing von Beiträgen und unterscheiden zwischen den verschiedenen Absendern. Die Rolle von freien Medien in der Demokratie wird von ihnen grundsätzlich als wichtig eingestuft. Was genau jedoch darunter zu verstehen ist, darüber sind sich die Schüler*innen oft uneinig. Auch zeigt sich, dass es in fast allen Klassen einen Teil an Schüler*innen gibt, denen es schwerfällt, den Zusammenhang zwischen Medien und Demokratie herzustellen. Dabei wissen sie beispielsweise sehr wohl, dass Fake News problematisch sind, ohne jedoch genau benennen zu können wieso. Der Begriff löst diffuses Unsicherheitsgefühl bei vielen jungen Menschen aus und reiht sich damit in eine Reihe von Schlagwörtern wie Inflation oder Pflegenotstand ein, die bei ihnen ein latentes Krisengefühl hervorrufen. Dies ist nur eines von mehreren Beispielen das zeigt, dass „Demokratie“ oft immer noch ein abstrakter Begriff ist, der mit Leben gefüllt werden muss, um dem Gefühl von Unsicherheit und Krise mit Wissen und Orientierung selbstbewusst entgegentreten zu können.

Untersuchen, unterhalten und aushalten

In der Demokratie-Sprechstunde fragen wir die Schüler*innen, welche Merkmale für sie eine Demokratie ausmachen: Parteienvielfalt, Meinungsfreiheit oder ob alle zufrieden und glücklich sind? Die Jugendlichen bestimmen selbst, worüber sie sprechen möchten und wie sie diese Eigenschaften aktuell bewerten. Im Rahmen der Sprechstunde werden sie ermutigt, miteinander ins Gespräch zu kommen und von dem gemeinsamen Wissen und den unterschiedlichen Perspektiven zu profitieren. Der offene Austausch hilft ihnen effektiv, Verbindungen zu aktuellen Ereignissen und Debatten herzustellen, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu vertreten sowie andere Positionen auszuhalten und auf diese Bezug zu nehmen. 

Viele Schüler*innen diskutieren über die grundlegenden Säulen des demokratischen Systems: regelmäßige Wahlen, das Parlament, das Grundgesetz und unabhängige Gerichte. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen ist zufrieden damit, wie die politischen Institutionen arbeiten. Sie wissen um den hohen Stellenwert des Grundgesetzes und die parlamentarischen Verfahren, die unsere Demokratie stärken und schützen. Das ist für die Schüler*innen ein ermutigender Befund. Nicht alles bedeutet bei genauerem Hinsehen so viel Krise, wie es durch aktuelle Debatten den Anschein hat: Auf den Bruch einer Regierungskoalition folgt nicht der Zerfall der öffentlichen Ordnung. Die Demokratie hat mit Regeln und Prozessen für solche Fälle vorgesorgt. 

Zukunftssorgen beeinflussen Wahlergebnis

Und doch schwingen bei den Gesprächen Verunsicherung, Frustration und das Gefühl mit, dass die eigenen Interessen und Probleme nicht gesehen und ernst genommen werden, dass aktuelle Debatten nicht um oder gar mit jungen Menschen geführt werden und dass politische Maßnahmen nichts mit dem eigenen Alltag zu tun haben. 

Mit Blick auf das Ergebnis der Bundestagswahl zeigt sich dies unter anderem daran, dass die Parteien der gescheiterten Ampelregierung, aber auch die CDU als vermeintlich letzte „große“ Volkspartei bei den 18- bis 24-Jährigen vielfach Vertrauen und Stimmen verloren haben. Klarer Wahlsieger in dieser Altersgruppe war stattdessen Die Linke mit 25 %. Damit verzeichnete sie einen Stimmenzuwachs von 17 Prozentpunkte im Vergleich zur Bundestagswahl 2021. Nicht nur lässt sich hier schlussfolgern, dass die Zeit der Volksparteien zumindest im Moment und mit Blick auf junge Menschen vorbei ist, sondern auch dass der Wunsch nach Veränderung groß scheint. Und dass Parteien punkten können, wenn sie soziale Themen wie Wohnen, Lebensmittelpreise und Bildung klar in den Mittelpunkt rücken – Themen, an die junge Menschen unmittelbar mit der eigenen Lebenssituation anschließen können und die ihnen zunehmend Sorgen bereiten.  Aber auch die AfD konnte ihr Ergebnis in dieser Altersgruppe im Vergleich zur vorherigen Wahl von 7 % auf 21 % steigern. 

Jugend beteiligen und Potenziale wecken

Wie die Gesamtgesellschaft ist auch die Jugend zunehmend polarisiert. Darin spiegelt sich jedoch auch ein grundsätzlich gesteigertes Interesse an politischen Themen wider, das sich bei der Bundestagswahl unter anderem in der hohen Wahlbeteiligung von 82,5 % niederschlägt. Das wachsende Bedürfnis danach, dass die eigene Stimme Einfluss hat, sollte daher auch als Chance verstanden werden, für demokratische Parteien ebenso wie für zivilgesellschaftliche Organisationen, den jungen Menschen Angebote zu machen, bei denen ihre Perspektiven sichtbar werden und die ihren Gestaltungswillen wecken. Damit die Jugend in der Krise nicht nur die Option sieht, diejenigen mit den vermeintlich einfachen Lösungen zu wählen. Das demokratische Potenzial der jungen Menschen ist hoch. Nicht zuletzt zeigt das Wahlergebnis doch auch, dass die große Mehrheit der jungen Menschen dem Rechtsruck im Land etwas entgegensetzen möchte, dass knapp 80 % ihre Stimme demokratischen Parteien gegeben haben. 

Wie schnell der gemeinsame Austausch zu konstruktiven Ideen führen kann, konnten wir in den Demokratie-Sprechstunden bereits feststellen. In einer Runde, in der noch nicht alle Teilnehmer*innen volljährig waren, kam die Idee auf, vor der Wahl gezielt den Dialog mit älteren Menschen zu suchen. Die Schüler*innen haben sich vorgenommen, dafür eine Einrichtung für Senior*innen in der Nähe zu besuchen, um sich über die unterschiedlichen Perspektiven von Jung und Alt auszutauschen und den Blick für junge Stimmen zu erweitern. Politik und Zukunft gestalten, so das Credo der Gruppe, das geht nur gemeinsam.

Interesse?

Die Demokratie-Sprechstunde ist ein kostenfreies Angebot und kann entweder in Schulen oder den Räumen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in der Hamburger Innenstadt (Kattrepel 10) durchgeführt werden. Bei der Durchführung in der BKHS bietet sich zusätzlich ein Besuch unserer Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ an. Bei Interesse schreiben Sie bitte eine E-Mail an buchung@remove-this.helmut-schmidt.de
 

Ein Mensch hält ein Schild auf einer Demonstration hoch. Die Hände der Person sind in betender Haltung aneinander gelegt.

Bei einer Protestaktion hält eine Teilnehmerin ein Schild mit der Aufschrift „Pflege in Not - Existenzen bedroht!“. Mit der Aktion werden bessere Arbeitsbedingungen und sachgerechte Bezahlung in der Pflege gefordert. Das Schlagwort „Pflegenotstand“ löst bei vielen jungen Menschen ein diffuses Unsicherheitsgefühl aus. © picture alliance/Jens Büttner

Ein Mensch hält ein Schild auf einer Demonstration hoch. Darauf steht "Hamburg ist bunt".

Mehr als 60.000 Menschen demonstrierten am 28. Januar 2025 in Hamburg friedlich mit Fahnen, Bannern und Protest-Schildern gegen die AfD. Die große Mehrheit nicht zuletzt der jungen Menschen möchte dem Rechtsruck im Land etwas entgegensetzen. Doch zur Realität gehört auch, dass die AfD bei der Bundestagswahl vier Wochen später ihr Ergebnis in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen im Vergleich zur vorherigen Wahl von 7 % auf 21 % steigern konnte. © picture alliance/ABBfoto

Ein Schild, das auf einer Demonstration hochgehalten wird.

Ein Schild mit der Aufschrift „Wähl Liebe, damit es bunt bleibt“ ist bei der Kundgebung von Hamburg Pride gegen „Hass und Hetze“ auf dem Spielbudenplatz auf der Reeperbahn zu sehen. Der Aktionstag im Stadtteil St. Pauli fand im Rahmen der bundesweiten Christopher-Street-Day-Kampagne „Wähl Liebe“ statt. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

Autorin: Alisa Rieth, M.A.

Referentin Wissenstransfer „Frieden und Sicherheit“

Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Friedens- und Konfliktforschung in Marburg, Den Haag und Frankfurt/Main war Alisa Rieth am Peace Research Institute Frankfurt in der Wissenschaftskommunikation und in einem Projekt zur Evaluation von Extremismusprävention und politischer Bildung tätig. Seit September 2022 arbeitet sie bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, zunächst als Projektmanagerin von „Unlock Europe – Das Escape Game zu Frieden und Sicherheit in Europa“ und aktuell als Referentin Wissenstransfer „Frieden und Sicherheit“.

 

Autorin: Merle Strunk, M.A.

Referentin für Bildung und Vermittlung

Merle Strunk, M.A., ist Historikerin mit dem Schwerpunkt der Wissensvermittlung in Museen. Sie war in verschiedenen Einrichtungen an Ausstellungs- und Publikationsprojekten beteiligt, darunter im Museum der Arbeit. Als Geschichtsvermittlerin beschäftigt sie sich in der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung damit, Brücken zwischen historischen Ereignissen und der Gegenwart zu schlagen. Daneben arbeitet sie zu Fragen der Visual und Public History.

Teile diesen Beitrag: