Im „Deutschen Herbst“ handelte der „Krisenkanzler“ nicht im Alleingang

Was sein Dienstkalender von 1977 über den Menschen und Politiker Helmut Schmidt verrät

Helmut Schmidt sitzt schwarzgekleidet mit anderen Menschen auf einer Kirchenbank.

Liebe Leser*innen,

Dienstkalender von Politiker*innen zählen zu den trockensten, aber zugleich auch aufregendsten Dokumenten. Gewöhnlich reiht sich in ihnen Sitzung an Sitzung, Ausschuss an Ausschuss, Empfänge wollen besucht und Grußworte gehalten werden. Doch besonders im Hinblick auf politische Affären oder Krisenzeiten werden Dienstkalender zu Quellen, die sich lesen wie ein Krimi: Wann haben die Mächtigen der Welt sich mit wem unterhalten? Unter welchen Umständen wurden Entscheidungen von historischer Tragweite getroffen?

Was ein vermeintlich schnöder Kalender mit dem Eintrag „Entführung Schleyer in Köln“ über den Menschen und Politiker Helmut Schmidt verrät, das lesen Sie heute in unserem Schmidtletter

Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Ihnen 
Ihre Bundeskanzler-Helmut Schmidt-Stiftung
 


 

Für Historiker*innen gleichen solche Kalender Schatztruhen, denn sie verraten viel mehr über ihre Besitzer*innen als nur deren Termine. Und so nimmt auch Schmidts Dienstkalender von 1977, dem Jahr des „Deutschen Herbstes“, einen besonderen Platz in der Dauerausstellung des Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Hamburg ein. Der Terror der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), die Entführung Hanns Martin Schleyers, die Befreiung der Lufthansamaschine „Landshut“ in Mogadischu – die Schlüsselereignisse des „Deutschen Herbstes“ spiegeln sich hier wieder. Der Kalender gibt aber nicht nur Auskunft über den Ablauf des Geschehens und des Bonner Regierungshandelns dieser Wochen, das Dokument lässt auch einen genaueren Blick auf die Person und den Politiker Helmut Schmidt zu, auf seine Art zu arbeiten und sein Vorgehen in Entscheidungssituationen. Deutlich wird: Ein im Alleingang handelnder „Krisenkanzler“ ist dort nicht zu finden.

Montag, 5. September: Schleyer-Entführung in Köln

„Entführung Schleyer in Köln“ notieren Schmidts Mitarbeiter*innen am Montag, den 5. September 1977 – diese vier Worte in roter Schrift leiten im Dienstkalender Helmut Schmidts die kommenden Wochen voller schwerer Entscheidungen ein. Blaue und schwarze Schrift dominiert das Kalenderjahr bis dahin, rot sieht man nur selten. Der Griff zum anderen Stift – auch er zeigt die besondere Tragweite dieses Ereignisses. Völlig überrascht wird die Regierung von der Tat nicht: Seit den Morden der RAF an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, nur wenige Monate zuvor, sind die Sicherheitsbehörden in Alarmbereitschaft. Für den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer gilt die „Sicherheitsstufe 1“. Trotzdem weiß niemand, was als Nächstes passieren wird. Die Behörden hoffen, die RAF-Mitglieder der sogenannten zweiten Generation festsetzen zu können, bevor weitere Personen zu Schaden kommen. Diesen Bemühungen zum Trotz wird am 5. September, kurz nach 17:00 Uhr, die Wagenkolonne überfallen, die Schleyer zurück zu seiner Kölner Dienstwohnung bringen soll. Seine Fahrer und Personenschützer sterben bei dem gewaltsamen und bewaffneten Überfall, Schleyer selbst wird entführt. Darüber, dass es sich tatsächlich um eine Tat der RAF handelt, herrscht wenige Stunden später Gewissheit: Ein von der RAF unterzeichnetes Bekennerschreiben wird gefunden.

Helmut Schmidt reagiert umgehend. Vorgesehene Termine fallen für ihn nun aus. Stattdessen: „21:35 ARD-Studio Fernseh-Erkl.[ärung]“. Noch am Abend hält der Kanzler eine Fernsehansprache und richtet klare Worte in Richtung der Entführer*innen: „Gegen den Terrorismus steht der Wille des ganzen Volkes“.

Darunter ein weiterer Eintrag: Für 24:00 Uhr ist ein Treffen mit Justizminister Hans-Jochen Vogel, Innenminister Werner Maihofer, dem Chef des Bundeskanzleramts  Manfred Schüler und Staatssekretär Klaus Bölling angesetzt. Zusammen mit anderen wichtigen Vertrauten werden sie in den nächsten Wochen Bestandteil der sogenannten „Kleinen Lage“ („Kleiner Krisenstab“ der Bundesregierung) sein. Seine Mitglieder kommen in den nächsten Wochen oft mehrfach täglich zusammen, um über die Geschehnisse zu beraten. 

Dienstag, 6. September: 19:45 Uhr Telefonat m. Frau Schleyer

Noch bis zum 4. September 1977 sind die Kalenderblätter mit „So Pause“ gekennzeichnet. Die parlamentarische Sommerpause ist für Schmidt zwar keine arbeitsfreie Zeit, doch für einige wenige Tage lassen sich zumindest im Dienstkalender keine Termine finden. Der Kanzler macht frei, reist nach Kanada, in die USA und nach Island, besucht die Künstlerkolonie Worpswede – noch ohne zu wissen, wie dringend er in den nächsten Wochen jede Energiereserve brauchen wird.

Bereits am 6. September läuft der Krisenbewältigungsmodus der Bundesregierung auf Hochtouren. Es scheint umfangreiche Terminänderungen gegeben zu haben, denn die ursprünglichen Einträge der Kalenderseite sind mit großen weißen Aufklebern überdeckt. Verschiedene Treffen finden über den ganzen Tag verteilt im Kanzlerbungalow statt. Auch „am Rande kurze Gespräche“ mit Willy Brandt und Helmut Kohl, wie es im Kalender heißt. Inzwischen sind spezifische Forderungen der RAF bekannt geworden: Schleyer soll gegen elf inhaftierte Terrorist*innen ausgetauscht werden, darunter die RAF-Gründungsmitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Keine Überraschung für Kanzler und Regierung, bereits zwei Jahre zuvor werden durch die Entführung von CDU-Politiker Peter Lorenz inhaftierte RAF-Mitglieder freigepresst (hier weiterlesen). Schmidt hält dieses Vorgehen schon damals für einen Fehler und möchte diesen nicht noch einmal begehen. Der Rechtsstaat dürfe sich nicht erpressen lassen. An dieser Position wird er festhalten.

Später am Tag: „19:45 Telefonat m. Frau Schleyer“. Schmidt spricht erstmals mit der Familie des Entführten, bevor dann die Krisenstäbe zusammentreten. Um 21:00 Uhr tagt die „Kleine Lage“, es folgt ein kurzes Gespräch mit dem Bundespräsidenten, bevor um 23:30 Uhr die „Große Lage“ beginnt. Ihr gehören die Partei- und Fraktionsvorsitzenden aller Bundestagsparteien an, der Beratungsstab des Kanzlers sowie die Ministerpräsidenten der vier Bundesländer, in denen RAF-Häftlinge einsitzen. Parteizugehörigkeit spielt jetzt nur noch eine untergeordnete Rolle. Schmidt berät sich umfassend. Das Gremium vertritt gemeinsam die Auffassung, den Forderungen der Terrorgruppe nicht nachzukommen, Schleyer soll gefunden und lebend befreit werden. Es werden umfangreiche Maßnahmen in Gang gesetzt, darunter eine Kontaktsperre zwischen den inhaftierten RAF-Mitgliedern. Noch handelt man hier ohne Gesetzesgrundlage: Das „Kontaktsperregesetz“ wird erst am 29. September im Bundestag beschlossen.

Dienstag, 13. September: 18:03-18:18 Uhr Telefonat m. Präs. Giscard

Dienstkalender sind keine Tagebücher. Trotzdem lassen sich Druck, Anspannung und höchste Konzentration beim Blick auf die eng beschriebenen Zeilen erahnen. Die Seiten sind weiterhin häufig großflächig überklebt. Man sieht ihnen an, dass es kaum normale Arbeitstage sind – selbst für einen Kanzler. So reiht sich am 8. September Termin an Termin, der letzte um 2:50 Uhr in der Nacht. Was an diesem Abend im Krisenstab passiert berichten anderen Quellen: Schmidt fragt nach „exotischen Vorschlägen“ zur Bekämpfung der Terrorist*innen. Alle drastischen Ideen, wie Repressalien gegen nahe Angehörige der RAF-Mitglieder, werden schnell verworfen. Mit allen verfügbaren Mitteln soll weiterhin nach Hanns Martin Schleyer gesucht werden. Die Regierung spielt auf Zeit, es werden Kontaktpersonen benannt, immer wieder fordert man Lebenszeichen von Schleyer. Zum Schein beginnt man Verhandlungen mit den Ländern, in welche die inhaftierten RAF-Mitglieder ausgeflogen werden wollen. Inzwischen diskutiert die ganze Bundesrepublik über den Fall. Immer wieder spricht Schmidt auch mit der Familie des Entführten, seiner Frau und den Söhnen. Sie drängen auf einen Austausch. Der Druck auf Schmidt und die Regierung nimmt zu.

Neben den Krisenstäben kommt Schmidts „Kleeblatt“ zusammen, sein enger persönlicher Beraterkreis. Mit dabei auch Hans-Jürgen Wischnewski. Er fliegt schließlich nach Algerien für Scheinverhandlungen, um die Terrorist*innen glauben zu lassen, man gehe tatsächlich auf ihre Forderungen ein.
Auch mit seinen europäischen Amtskollegen spricht Schmidt in diesen Tagen: Es sind mehrere Gespräche mit dem französischen Präsidenten und Freund Valéry Giscard d’Estaing sowie dem britischen Premierminister James Callaghan vermerkt. 

Sonntag, 16. Oktober: 16:00 Uhr Herren Böll, Lenz, Frisch und Unseld 

Es ist schwer zu beurteilen, ob sich in diesen vielen Wochen der andauernden Geiselhaft Schleyers auch eine Art „Krisenroutine“ entwickelt. Kein Tag gleich dem anderen. Ende September werden die Abstände zwischen den Lagebesprechungen jedoch größer. Schmidt nimmt wieder einige Termine wahr, die nicht mit den unmittelbaren Regierungsgeschäften in Verbindung stehen: Er kommt zur „Stippvisite“ auf das Jenfelder Schützenfest am 24. September, besucht die Hamburger Staatsoper und eine Ausstellung im Ernst Barlach Haus. Kunst und Musik haben Schmidt schon immer durch schwere Zeiten geholfen, genauso wie die Philosophie. Nicht als theorieloser Pragmatiker zu gelten ist ihm wichtig. Auch deshalb lässt er sich mitten im „Deutschen Herbst“ einen Termin mit bekannten linksliberalen Intellektuellen nicht nehmen, obwohl sich ab dem 13. Oktober die Lage noch einmal drastisch verschärft: Ein palästinensisches Terrorkommando entführt die Lufthansa-Maschine „Landshut“ auf ihrem Weg von Mallorca nach Deutschland. Plötzlich erhöht sich die Anzahl der Geiseln dramatisch. Trotzdem empfängt der Kanzler am 16. Oktober vier Literaten und zwei Minister zum Gespräch in Bonn: „16:00 Uhr Herren Böll, Lenz, Frisch, Unseld, Matthöfer, Ehrenberg, Bungalow“. In seinen Erinnerungen schreibt er später, die Autoren könnten die Terroristen vielleicht besser verstehen als die Politiker im Parlament. Daher bittet er auch die Minister Herbert Ehrenberg und Hans Matthöfer dazu.

Fünf Stunden nimmt sich Schmidt für das Gespräch Zeit. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch notiert sich später, dass Schmidt das Treffen immer wieder verlässt, um sich mit dem Krisenstab zu beraten. Ob der Kanzler die erhofften Antworten von seinen Gästen erhalten hat, ist unbekannt. 
Am 18. Oktober lässt Schmidt im vollen Bewusstsein um das Risiko der Operation das entführte Flugzeug, das inzwischen die somalische Hauptstadt Mogadischu erreicht hat, von der Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9), einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes (seit 2005  Bundespolizei), befreien. Im Kalender sind zuvor ein Gespräch mit dem Präsidenten Somalias sowie dem Bonner Botschafter des Landes vermerkt. Die Befreiungsaktion gelingt, ohne dass die Geiseln verletzt werden. Ein überwältigender Erfolg für Schmidt. Jedoch bedeutet dies das Todesurteil für Hanns Martin Schleyer. Die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder begehen daraufhin kollektiv Suizid, nur die Terroristin Irmgard Möller überlebt. Schleyer wird von seinen Entführern erschossen.

Dienstag, 25. Oktober: 10:30 Uhr Trauerfeier für Dr. Schleyer in Sttgt.

Die Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer findet am 25. Oktober 1977 in der Sankt Eberhard Kirche in Stuttgart statt. Für Schmidt ist es einer der letzten großen Termine im Zusammenhang mit den Terrorakten der RAF, mit Sicherheit ist es der emotionalste. Bilder zeigen den Kanzler tief betroffen zwischen Schleyers Witwe und deren ältestem Sohn. Waltrude Schleyer wird Schmidt nie verzeihen können, mit Hanns-Eberhard Schleyer kommt es viele Jahre später aber zu einer Aussöhnung: 2012 verleiht er Schmidt den „Hanns Martin Schleyer-Preis“ für „Verdienste um die Festigung und Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens“. Für Schmidt bleibt der „Deutsche Herbst“ mehr als nur eine Episode, die mit der Beerdigung der Opfer oder der späteren Verhaftung von RAF-Mitgliedern endet. Die Ereignisse und die von ihm getroffenen Entscheidungen begleiten ihn noch sein Leben lang.

Der „Deutsche Herbst“ im Unterricht

Unser Lernmodul „Deutschen Herbst 1977“ zeigt Schüler*innen, dass Geschichte stets aus einer Perspektive erzählt wird. Sie beziehen selbst Position, indem sie die akuten und existentiellen Bedrohungen der Menschen, die unter hohem Zeitdruck Entscheidungen trafen, einschätzen. Lernende erkennen, dass die Zukunft für die Zeitgenossen offen war.

Ein Kooperationsprojekt der BKHS und des Sonderforschungsbereiches „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen
Mehr Informationen hier.

Doppelseite aus Schmidts Kalender vom 13. Und 14. Oktober mit blauen und roten Einträgen.

Mit der Entführung der Lufthansamaschine „Landshut“ spitzt sich am 13. Oktober 1977 die Lage im „Deutschen Herbst“ dramatisch zu. Mit Rotstift ist das Ereignis im Kalender dokumentiert, ebenso die Gespräche mit Helmut Schmidts europäischen Vertrauten, dem britischen Premierminister Callaghan und dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing. © Helmut Schmidt-Archiv

In Leder eingebundenes kleines Buch mit dem Adler-Bundeswappen und der Aufschrift „Der Bundeskanzler“

Äußerlich schlicht, aber für seinen Besitzer unverzichtbar: der Dienstkalender von Bundeskanzler Helmut Schmidt aus dem Jahr 1977. © Helmut Schmidt-Archiv, BKHS/Michael Zapf

Helmut Schmidt spricht in eine Kamera in einem Studio, vor ihm liegt seine Rede auf Papier.

„Gegen den Terrorismus steht der Wille des ganzen Volkes“: Noch am Abend der Entführung von Hanns Martin Schleyer hält Helmut Schmidt eine Ansprache im Fernsehen, 05.09.1977.

© picture alliance

Helmut Schmidt sitzt schwarzgekleidet mit anderen Menschen auf einer Kirchenbank.

Helmut Schmidt nimmt bei der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer zwischen seiner Witwe Waltrude und ihrem Sohn Hanns-Eberhard Platz. Die Mitverantwortung für Schleyers Tod wird ihn viele Jahre lang schwer belasten, 25.10.1977.

© picture-alliance/ dpa, Foto: Heinz Wieseler

Titelgrafik des Lernmoduls zeigt fotografische Eindrücke des Deutschen Herbsts hinter einem roten Filter.

Das Lernmodul ist ein Kooperationsprojekt der BKHS und des Sonderforschungsbereiches „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen.

Autorin: Merle Strunk, M.A.

Referentin für Bildung und Vermittlung

Merle Strunk, M.A., ist Historikerin mit dem Schwerpunkt der Wissensvermittlung in Museen. Sie war in verschiedenen Einrichtungen an Ausstellungs- und Publikationsprojekten beteiligt, darunter im Museum der Arbeit. Als Geschichtsvermittlerin beschäftigt sie sich in der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung damit, Brücken zwischen historischen Ereignissen und der Gegenwart zu schlagen. Daneben arbeitet sie zu Fragen der Visual und Public History.

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