Der Streit um die Kant-Interpretation von Helmut Schmidt

Drei Fragen an Dr. Meik Woyke über die Bedeutung des Philosophen für den Politiker

Autor/in:Meik Woyke
Schmuckgrafik mit Text Immanuel Kant in Urteil eines Politikers

Wer das ehemalige Wohnhaus von Loki und Helmut Schmidt betritt, wird gleich im Wohnzimmer von einer Statue des Philosophen Immanuel Kant begrüßt. Neben Marc Aurel, Max Weber und Karl Popper zählte Kant zu den philosophischen Ankerpunkten Helmut Schmidts.

Er wurde vor 300 Jahren, am 22. April 1724, im preußischen Königsberg geboren und gilt als einer der Hauptvertreter der Aufklärung in Deutschland. Sein Werk „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) markiert den Beginn der modernen Philosophie.

Am 10. September 2024 war unser Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer Dr. Meik Woyke als Experte zum 14. Internationalen Kant-Kongress an der Universität Bonn eingeladen. Er diskutierte unter dem Titel „Immanuel Kant im Urteil eines Politikers“ mit Prof. Dr. Volker Gerhardt (Humboldt-Universität zu Berlin) über die Kant-Interpretationen des Bundeskanzlers Helmut Schmidt.

Wir haben Meik Woyke gefragt, welche Bedeutung die Beschäftigung mit der Philosophie und gerade das Werk Immanuel Kants für Helmut Schmidt hatte und welche Reaktionen seine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Philosophen hervorrief.



Loki und Helmut Schmidt besaßen nicht nur die eingangs erwähnte Statue von Immanuel Kant, sondern insgesamt 23 weitere Objekte mit Bezug zu dem Philosophen. Was macht ihn für Schmidt so besonders?

Helmut Schmidt hat Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) als junger Mann nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg gelesen. Die klare Argumentation und der nüchterne Stil des Philosophen sprachen ihn an; die Lektüre muss ein Labsal für Schmidt nach seinen Fronterfahrungen gewesen sein. Laut Kant war Frieden zwischen Völkern und Staaten kein Naturzustand, sondern müsse schrittweise erarbeitet werden. Diese Grundidee ging in die 1945 beschlossene Charta der Vereinten Nationen ein, und prägte Schmidts politisches Handeln im Bundestag, als Minister der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt und ab 1974 als Bundeskanzler. Natürlich absolvierte Schmidt parallel zu seinen umfangreichen Amtsverpflichtungen kein Philosophiestudium – das wäre allein schon aus Zeitgründen nicht möglich gewesen. Aber immer wieder setzte er sich mit Kant und anderen ihn ansprechenden Philosophen und Soziologen auseinander.

Kant vertrat die These, Regieren und Philosophieren seien zwei verschiedene Tätigkeiten.
Wie passt das mit Helmut Schmidt zusammen?

Dem hätte Schmidt einerseits sicherlich zugestimmt. Auf der anderen Seite legte er großen Wert darauf, nicht als schlichter „Macher“ wahrgenommen zu werden – ein Image, das ihm nach seinem zupackenden Krisenmanagement während der Hamburger Flutkatastrophe 1962 nicht zuletzt aufgrund des Spiegel-Artikels „Herr der Flut“ anhaftete. Vielmehr war Schmidt als Politiker einem Werterahmen verpflichtet, hatte gewissermaßen intellektuelle Leitplanken. Seine intensive Auseinandersetzung mit Kant spielte dabei eine wichtige Rolle. Mit ihm begründete er sein ausgeprägtes Pflicht- und Verantwortungsgefühl, ebenso wie seine Orientierung am Gemeinwohl, der „res publica“, um die von Schmidt bevorzugte Formulierung zu verwenden. Politik war für ihn mit Kant „pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“.

Direkt umsetzbare Handreichungen für das politische Tagesgeschäft oder für konkrete Probleme erwartete Schmidt von der Philosophie nicht, jedoch bot ihm die Beschäftigung mit übergeordneten Fragestellungen und Maximen geistiges Rüstzeug und half ihm, sein eigenes Tun – zumal in und nach Krisensituationen – auf den Prüfstand zu stellen und zu reflektieren. Die Entführung und spätere Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten und Vorsitzenden des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer, im September/Oktober 1977 durch Terroristen der Rote-Armee-Fraktion stellt das prägnanteste Beispiel hierfür dar. Schmidt stand in der Verantwortung als Bundeskanzler und zugleich vor einer ausgesprochen schwierigen Gewissensentscheidung: Darf man aus Gründen der Staatsräson ein Menschenleben gefährden? Angesichts der gewaltigen Dimension dieser Frage war der Rückgriff auf die rigorose Morallehre von Kant und dessen kategorischen Imperativ für Schmidt naheliegend.

Während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt fand 1981 eine Jubiläumskonferenz zum 200. Jahrestag von Kants bekanntester Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ statt. Der Kanzler diskutierte auf dieser Konferenz mit ausgewiesenen Fachleuten. Wie lässt sich seine Teilnahme beschreiben?

Der Kant-Kongress wurde von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert, und Helmut Schmidt hielt am 12. März 1981 in Bonn seinen noch heute lesenswerten Vortrag über „Maximen politischen Handelns. Bemerkungen über Moral, Pflicht und Verantwortung des Politikers“. An Kant, so der Bundeskanzler selbstbewusst vor einer ganzen Reihe von renommierten Philosophen und anderen Fachgelehrten, seien ihm drei Aspekte besonders wichtig: 1) dessen Standpunkt einer Menschheitsethik und der fundamentalen Freiheit aller Menschen; 2) die Pflicht zum Frieden und zur Völkergemeinschaft, sowie 3) die enge Verbindung zwischen dem Prinzip der sittlichen Pflicht und dem Prinzip der Vernunft oder der kritischen Ratio. Mit diesem komplexen Statement brachte es Schmidt sogar in die „Tagesthemen“ der ARD, was aufscheinen lässt, welches intellektuelle Diskussionsniveau und Interesse seinerzeit in der Bundesrepublik herrschten. Wörtlich führte Schmidt auf dem Kant-Kongress aus: „Der Politiker trägt nicht nur Verantwortung für seine guten Vorsätze oder seine gute Gesinnung, sondern vor allem trägt er Verantwortung für die Folgen seines Handelns oder Unterlassens.“ Sich in der Politik durchzuwurschteln („muddling through“), sich einfach verantwortungslos treiben zu lassen oder sich gar in prinzipienlosen Opportunismus zu ergehen – das alles kam für Helmut Schmidt nicht infrage. Die Voraussetzungen für eine friedliche Außenpolitik und eine demokratische Innenpolitik waren nach seiner Überzeugung feste Leitlinien und klare Bewertungsmaßstäbe, was eine mit Lernbereitschaft verbundene Fehlerkultur einschloss.   

Blick auf ein Sideboard mit einer Statue

Im Wohnzimmer der Schmidts begrüßt eine Statue des Philosophen Immanuel Kant die Gäste.

© BKHS/Zapf

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