Liebe Leser*innen,
was fällt Ihnen ein, wenn Sie „Helmut Schmidt-Archiv“ hören? Vermutlich denken Sie an Regalreihen voll mit Aktenordnern, Fotos, Büchern und gesammelten Briefen. Dass sich in diesen Papieren neue geschichtliche Erkenntnisse verbergen, zeigen im heutigen Schmidtletter die wissenschaftliche Leiterin unsere Korrespondenzprojekts Franziska Zollweg und unser studentischer Mitarbeiter Simon-Lennard Till.
Ihr Fund eines extrem kurzen Briefwechsels zwischen Helmut Schmidt und dem Kernphysiker Werner Heisenberg führt uns vor Augen, wie Schmidt als Verteidigungsminister vor der Bundestagsdebatte über die Ostverträge im Mai 1972 nichts dem Zufall überließ.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Fragiles Papier, Akten mit kryptischen Signaturen und tausende Bücher – das ist es, was viele Menschen mit dem Helmut Schmidt-Archiv verbinden. Doch es ist vielmehr ein Ort gelebter Geschichte. Hier werden die Nachlässe von Loki und Helmut Schmidt, seinem Bruder Wolfgang und Karl-Wilhelm Berkhan aufbewahrt und der Wissenschaft zugänglich gemacht. Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die Briefe, die Helmut Schmidt Zeit seines Lebens schrieb und bekam. Mit Blick auf seine politische Bedeutung und sein umfangreiches Wirken sind sie von außerordentlichem gesellschaftlichem und historischem Wert. Denn sie enthalten Aussagen zu Schmidts Arbeit, seine persönlichen Einschätzungen sowie Informationen zu bedeutenden historischen Ereignissen.
Knallrote Rollregale voll mit Aktenordnern reihen sich im Helmut Schmidt-Archiv aneinander, sie enthalten zehntausende Schmidt-Briefe. Im Ordner „936“ sind uns bei der Recherche zwei besondere Schreiben in die Hände gefallen. Sie stammen von Helmut Schmidt und dem deutschen Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg. Es ist wohl einer der kürzesten Briefwechsel: zwei Briefe, die von den schwierigen Verhandlungen über die Ostverträge handeln und aufzeigen, wie Helmut Schmidt nichts dem Zufall überließ.
Die „Aktion Ostverträge“
Am 17. Mai 1972 stimmte die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten dem Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion und dem Warschauer Vertrag mit Polen zu. Doch der Weg dorthin war eine große politische Herausforderung für die Bonner Republik und führte das erste Kabinett unter Bundeskanzler Willy Brandt in eine Regierungskrise.
Nach Auffassung der ersten sozial-liberalen Koalition auf Bundesebene sollten die Ostverträge die Grundlage für Zusammenarbeit und Frieden in Europa schaffen, für Entspannung zwischen Ost und West sorgen und vor allem dem Auseinanderleben der beiden deutschen Staaten entgegenwirken.
Erheblichen politischen Gegenwind bekamen die regierenden Parteien von der Opposition. Sie warnten vor dem „Ausverkauf deutscher Interessen“, immerhin seien Millionen Deutsche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus ihrer früheren osteuropäischen Heimat vertrieben worden.
Schmidt, der zu dieser Zeit Verteidigungsminister war, hatte sich in den Wochen davor „sehr besorgt“ darüber gezeigt, „daß die Auseinandersetzung über die beiden Ostverträge und damit auch über das Berlin-Abkommen ausschließlich den Exponenten der politischen Parteien überlassen zu werden scheint“. Er hielt es für sehr wichtig, dass nicht nur die eigene Nation, sondern auch alle Nachbarstaaten erkennen könnten, dass die Verträge von einer breiten Öffentlichkeit gewollt werden. Schmidt suchte deshalb den Kontakt zu Werner Heisenberg, den er Mitte März 1972 bei einem gemeinsamen Abendessen mit dem früheren Bundesministers für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink (parteilos) persönlich kennengelernt und mit dem er sich über den öffentlichen Diskurs der bevorstehenden Ostverträge ausgetauscht hatte. Schon Anfang der 1960er-Jahre sprach sich der Kernphysiker öffentlich für eine politische Öffnung Richtung Osteuropa aus, und so bat Schmidt in seinem Brief vom 29. März 1972 um dessen Unterstützung: „Es scheint mir an der Zeit, daß das geistige Deutschland zu erkennen gibt, auf welcher Seite es sein Gewicht in die Waagschale werfen will.“ Er gehe „mit großer innerer Sicherheit“ davon aus, so Schmidt, dass der Moskauer und Warschauer Vertrag zustande kämen. Es sei ihm jedoch wichtig, „daß diese Verträge nicht nur von einer kleinen Mehrheit von Berufspolitikern herbeigeführt, sondern daß sie vom Volk gewollt werden“. Schon eine Woche später lag ein Memorandum vor, von dem Heisenberg hoffte, dass es von wichtigen Vertretern der Wissenschaft unterzeichnet würde.
Im Nachlass Heisenbergs findet man die dazugehörige Akte „Aktion Ostverträge“ – sicher verwahrt im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft. Sie enthält unter anderem das Memorandum, das an die Abgeordneten des Bundestags gerichtet war und die Ratifizierung der Ostverträge befürwortete. Es sei außenpolitisch geboten und innenpolitische Rücksichten müssten zurückstehen, forderten Heisenberg und andere Wissenschaftler wie Carl-Friedrich von Weizsäcker darin. Am 28. April 1972 sollte das Papier veröffentlicht werden und die öffentliche Debatte mitprägen. Doch in der Zwischenzeit mündete die weiterhin bestehende Kritik an den Verträgen in ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt. Nachdem das Votum mit nur zwei fehlenden Stimmen außerordentlich knapp gescheitert war, einigten sich Koalition und Opposition mit Blick auf die Ostverträge auf den Kompromiss, die Verpflichtung zum Gewaltverzicht aufzugreifen, nicht aber die Festsetzung der Grenzen Deutschlands. Am 17. Mai 1972 nahm der Bundestag schließlich beide Verträge an.
Als Schmidt drei Wochen nach dem offiziellen Inkrafttreten dieser Ostverträge vor den Führungsgremien der SPD in Berlin eine Zwischenbilanz zog, erinnerte er daran, dass die Außenpolitik „im Ansatz […] schon auf dem Dortmunder Parteitag 1966 in die Richtung skizziert war, in der wir sie tatsächlich jetzt ausführend getrieben haben“. Und auch wenn er nicht unmittelbar wie Brandt, Bahr und Scheel zum Architektenteam gehörte, unterstützte er die Neue Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition vorbehaltlos.
Archive sind systemrelevant
Der kurze Briefwechsel zwischen Schmidt und Heisenberg gewährt einen spannenden Einblick hinter die Kulissen der Macht: auf das, was abseits der Öffentlichkeit geschieht und doch politisch mitentscheidend ist. Der Inhalt zeigt, dass Schmidt strategisch Politik machte und ein feines Gespür für die Prominenz und öffentliche Autorität einzelner Wissenschaftler hatte. Nach der „Aktion Ostverträge“ schrieben sich Heisenberg und Schmidt übrigens nie wieder, sie hatten situativ erfolgreich zusammengearbeitet.
Stets gibt ein solcher Briefwechsel unwillkürlich auch weitere Information preis: Umfang, involvierte behördliche Apparate, datenreiche Briefköpfe, besonderes Briefpapier, handschriftliche Vermerke, Eingangsstempel und Briefentwürfe des Büro Schmidt.
Briefe können ein Instrument politischer Machtbeteiligung sein. Der Blick in die Literatur verrät wenig über die ungewöhnlich erscheinende Kooperation zwischen dem Verteidigungsminister Schmidt und dem Kernphysiker im Ruhestandsalter bei der „Aktion Ostverträge“. Das Aufzeigen von historischen Zusammenhängen, die niemand mehr erinnert oder kennt, überhaupt erst zu ermöglichen, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Archiven. Erst durch das Helmut Schmidt-Archiv und das Archiv der Max-Planck-Gesellschaft konnten wir Schmidts und Heisenbergs gemeinsames Handeln nachvollziehbar machen.