Liebe Leser*innen,
„Wer nicht redet, wird nicht gehört!“, sagte Helmut Schmidt einst. Damit lag er knapp daneben. Denn wer überhaupt reden darf, ist eine Frage des Privilegs. Auf der ganzen Welt schalten autoritäre Regime Menschen stumm, die ihre Stimme erheben. Im Dezember 2022 waren weltweit 363 Journalist*innen inhaftiert. So viele wie seit 30 Jahren nicht. Darüber hinaus werden Medienschaffende für ihre Arbeit bedroht, diffamiert und getötet – 38 nachgewiesene Morde waren es alleine im vergangenen Jahr. Auch bei uns nehmen Übergriffe auf Journalist*innen zu, auf der Rangliste der Pressefreiheit, die am Mittwoch von der Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlicht wurde, ist Deutschland zum dritten Mal in Folge abgestiegen und liegt nun weltweit auf Platz 21.
Vor 61 Jahren löste ein Angriff auf die Pressefreiheit die erste Regierungskrise der damals jungen Bundesrepublik aus: die sogenannte Spiegel-Affäre. Unsere Historikerin Franziska Zollweg wirft in diesem Schmidtletter einen Blick zurück auf turbulente Monate, beleuchtet die Rolle von Helmut Schmidt in dieser Zeit und zeigt, wie der Skandal zu einem neuen liberalen Hamburger Pressegesetz beitrug.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Helmut Schmidt wusste um den Wert freier und unabhängiger Medien. Er schrieb selbst seit Ende der 1940er-Jahre Artikel und betonte darin die Notwendigkeit, Politik zu erklären und nachvollziehbar zu machen. Im Sommer 1949 wollte er sogar beim Hamburger Echo anheuern, notierte aber kurz danach in seinen Unterlagen lapidar: „Echo will mich nicht“. Auch wenn Helmut Schmidt später Journalist*innen als „Wegelagerer“ bezeichnete und ihnen unterstellte, (vermeintlich oder tatsächlich) nicht gründlich genug zu arbeiten, bediente er wie kaum jemand vor ihm die Logik der Presse und wurde 1983 doch noch ein Teil von ihr als Herausgeber der Zeit. Etwa 20 Jahre früher, im Oktober 1962, kam es zu einer historischen Beschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit. Als in Hamburg die Spiegel-Journalisten Conrad Ahlers und Hans Schmelz verhaftet wurden, geriet auch Schmidt in das Fadenkreuz der Ermittler*innen. Der Vorwurf lautete: Verdacht auf Landesverrat, landesverräterische Fälschung und Bestechung – doch was war passiert?
Die Spiegel-Affäre – ein Anschlag auf die Meinungs- und Pressefreiheit
Am Montag, dem 8. Oktober 1962, war das Hamburger Magazin mit dem Porträt des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Friedrich Foertsch, auf der Titelseite erschienen. Aus Anlass des NATO-Herbstmanövers „Fallex“ urteilten die beiden Autoren in ihrem Artikel „Bedingt abwehrbereit“, dass die deutschen Streitkräfte aufgrund ihrer mangelhaften Ausstattung im Ernstfall nicht zur Verteidigung taugen würden. Damit kritisierten sie vor allem Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) und seine Militärstrategie der atomaren Rüstungspolitik. Auf Drängen von Strauß und unter dem Vorwand des Landesverrats nahm die Bundeanwaltschaft umgehend die Ermittlungen gegen Rudolf Augstein, Herausgeber des Spiegel, die verantwortlichen Redakteure und ihre vermeintlichen Informanten auf. Am Freitagabend des 26. Oktober 1962 stürmten dann Beamte des Bundeskriminalamts, unterstützt von Hamburger Polizisten, die Räume des Nachrichtenmagazins im Hamburger Pressehaus am Speersort – dort, wo mittlerweile Die Zeit sitzt und wo auch Helmut Schmidt von 1983 bis 2015 als Herausgeber sein Büro hatte. Heute trägt das Haus seinen Namen.
Weil er den Artikel bereits vor Veröffentlichung gekannt hatte, zählte auch Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt zu den Informanten und wurde der Beihilfe zum Landesverrat beschuldigt. Doch der Senator reagierte gelassen. Er habe seine Einschätzung der Ermittlungen dadurch zum Ausdruck gebracht, so Schmidt in einem späteren Interview, dass er sich nicht einmal einen Anwalt genommen habe. Er schrieb dem damals inhaftierten Ahlers in einem Brief: „Sie werden vielleicht wissen, dass ich den Spiegel keineswegs immer für erfreulich gehalten habe, nichtsdestoweniger aber für notwendig.“ Damit honorierte Schmidt nicht nur die journalistische Arbeit, sondern positionierte sich auch klar auf der Seite der Medien – und das taten auch zahlreiche Bürger*innen. Die Affäre über die Militärpolitik und der Anschlag auf die Pressefreiheit löste bundesweite Proteste gegen die staatlichen Akteur*innen aus. Sogar in einem Maß, das sie zur ersten Regierungskrise der Bonner Republik auswuchs: Am 30. November 1962 trat Bundesverteidigungsminister Strauß auf Druck des Kabinetts – und damit letztendlich durch Entscheid des Bundeskanzlers Konrad Adenauer – von seinem Amt zurück. Doch gegen Helmut Schmidt wurde noch weitere fünf Jahre weiter ermittelt und damit länger als gegen Augstein. Erst 1967 stellte die Bundesanwaltschaft das Verfahren gegen Schmidt ein.
„Landesverräter“ erweist sich als Verfechter der Pressefreiheit
Der hohe Stellenwert der Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft stand für Helmut Schmidt immer außer Frage. In einer Rede vor der Hamburgischen Bürgerschaft im Jahr 1964 beschrieb er die Pressefreiheit als eine „Fundamentalfunktion der Demokratie“. Schmidt, der „tief gekränkt“ über den Vorwurf des Landesverrats war, setzte sich dafür ein, in Hamburg ein neues liberales Pressegesetz erarbeiten zu lassen.
Die Presse habe einen großen Anteil am Aufbau der Demokratie und dem demokratischen Staatsgefühl der Bürgerinnen und Bürger, so Schmidt in seiner Rede weiter. Es gebe allerdings nicht nur die Pressefreiheit, sondern auch eine Presseverantwortung. Daher legte Schmidt Wert auf ein Gleichgewicht zwischen Staat und Medien – zwischen behördlicher Auskunftspflicht und der Sorgfalt der Medien bei der Verbreitung von Nachrichten. Aus der Krise der sogenannten Spiegel-Affäre ging Schmidt als „glühender Kämpfer für die Pressefreiheit“ hervor und wirkte durch das neue Hamburger Pressegesetz maßgeblich am Erstarken und dem neuen Selbstverständnis der Medien mit.
Zum kritischen Nachdenken anregen
Dieser Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit war nicht nur für Medienschaffende und für die Bürger*innen ein tiefer Einschnitt, sondern auch für Helmut Schmidt. Zeit seines Lebens setzte er sich für die Unantastbarkeit dieses Grundrechts ein. Er erwarte aber gleichzeitig auch einen Journalismus, so Schmidt, der es als sein Ziel ansehe, Zusammenhänge transparent zu machen und zum kritischen Nachdenken anzuregen. Den nach ihm benannten „Helmut-Schmidt-Journalistenpreis“, der erstmals 2006 verliehen wurde, verstand er als Beitrag zu einem mutigen Journalismus, der unbequeme Fragen stellt und mit tiefer Sachkenntnis schlüssig argumentiert.