Letzte Chance für ein faires Welthandelssystem?

Ein Gespräch über EU-Handelspolitik, die transatlantische Handelspartnerschaft und die Zukunft der Welthandelsorganisation

Eine Frau und ein Mann in Arbeitsbekleidung und medizinische Maske betrachten Frachtcontainer, die vor ihnen stehen.

Liebe Leser*innen,

„pandemiebedingt abgesagt“ – wie oft hören wir diese Aussage gerade wieder?

Auch die Minister*innenkonferenz der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) in Genf, die in dieser Woche stattfinden sollte, ist aufgrund der neuen Virus-Mutation Omikron verschoben worden.

Doch ist nicht gerade jetzt die Sicherung eines regelbasierten, fairen und nachhaltigen Welthandels durch eine entschlossene Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg besonders wichtig?

Dazu hat unsere Programmleiterin „Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit“, Elisabeth Winter, mit Bernd Lange gesprochen. Er ist Mitglied des Europäischen Parlaments, Vorsitzender des Ausschusses für Internationalen Handel (INTA) und Berichterstatter für die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA. 

Wie er über die Situation der WTO und den aktuellen Stand der europäischen und transatlantischen Handelspolitik denkt und welche Hoffnungen er in die neue Vorsitzende der WTO, die nigerianische Politikerin Ngozi Okonjo-Iweala, setzt, lesen Sie in unserem Schmidtletter.

Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Nicht erst seit Corona brauchen wir zur Sicherung eines regelbasierten, fairen und nachhaltigen Welthandels eine entschlossene Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg. Jetzt aber erst recht, sollte man meinen. Schließlich hat uns die Pandemie eindrücklich Schwächen unseres aktuellen Wirtschaftens aufgezeigt: Die internationalen Abhängigkeiten beim Mangel an Gesichtsmasken, die Unterbrechung globaler Lieferketten mit monatelangen Folgen durch weltweite Lockdowns, der Streit um die Patentrechte für Impfstoffe oder die schnelle Ausbreitung der Virus-Mutationen aufgrund globaler Mobilität sind nur einige Beispiele dafür. Stärker denn je hat uns die Pandemie vor Augen geführt, wie handelspolitische Abhängigkeiten mit der Bewältigung globaler und lokaler Krisen zusammenhängen. Unser Alltag ist aber nicht nur während einer Pandemie stark von handelspolitischen Fragestellungen geprägt – sie lässt auch die bestehenden Probleme nochmals deutlicher zutage treten.

Umso bedauerlicher ist es, dass die für den 30. November bis 3. Dezember geplante 12. Minister*innenkonferenz der WTO in Genf abgesagt werden musste – ausgerechnet aufgrund der neuen Mutation Omikron ist das Treffen des höchsten Entscheidungsgremiums der WTO nun erstmal verschoben, eventuell wird im März 2022 ein Nachholtermin stattfinden. Unweigerlich musste ich mich fragen, ob wir es uns leisten können, noch so lange zu warten. Schließlich braucht es gerade jetzt dringend internationale Kooperation und Solidarität.

Ich habe letzte Woche mit Bernd Lange über die Situation der WTO und den aktuellen Stand der europäischen und transatlantischen Handelspolitik gesprochen. Als Abgeordneter des Europäischen Parlaments ist er seit 2014 auch Vorsitzender des INTA und Berichterstatter für die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union (EU) und den USA. Er setzt sich seit vielen Jahren für eine faire und nachhaltige Handelspolitik ein.

Transatlantische Handelskooperation

Traditioneller handelspolitischer Partner der EU ist die USA – trotz regelmäßiger Streitigkeiten um Subventionen von Flugzeugherstellern oder den Export von genmanipulierten Lebensmitteln. Ganz aus dem Weg geräumt seien die alten, von Donald Trump errichteten Handelsbarrieren noch nicht, gibt Bernd Lange zu. Die Biden Administration beteuert er, engagiere sich aber ganz klar für Multilateralismus, sodass sich wieder deutlich mehr Kooperationsmöglichkeiten ergeben würden. Gleichzeitig seien aber die USA derzeit stark auf die Innenpolitik fokussiert. Eine Beobachtung, die sicherlich viele teilen. Ich musste auch sofort an Bidens Versprechen einer „Foreign Policy for the Middle Class“ denken. Da außenpolitische Themen gerade nicht die höchste Priorität für die US-Regierung haben, meint Lange, zeigen die USA nicht vollen Einsatz für eine transatlantische Kooperation innerhalb der WTO, ungeachtet des klaren Bekenntnisses für eine multilaterale Zusammenarbeit.

Bernd Lange ist dabei sowohl verständnisvoll gegenüber der innenpolitischen Ausrichtung der USA, betont aber ebenso die Dringlichkeit der transatlantischen Kooperation im Handel. Wir waren uns einig, dass allein aufgrund der Größe des gemeinsamen Markts den bereits stark integrierten Wirtschaften von EU und USA eine zentrale Bedeutung im Weltwirtschaftssystem zukommt. Dementsprechend sieht Bernd Lange in dem kürzlich ins Leben gerufenen Transatlantischen Handels- und Technologieforum (Transatlantic Trade and Technology Council, TTC) einen zentralen Baustein für die Weiterentwicklung des internationalen regelbasierten Handelssystems. Zunächst von zwei gleichgesinnten Partnern entwickelt, soll TTC eine Plattform werden, um gemeinsame Standards zu setzen, die schließlich auf die multilaterale Ebene der WTO gehoben werden können.

Universelle Standards statt handelspolitische Weltpolizei

Mit TTC dürften die USA und die EU aber nicht beanspruchen, dem Rest der Welt Vorgaben machen zu können. Deswegen plädiert Lange klar dafür, dass bei der Entwicklung internationaler Standards sowohl die Interessen der Zivilgesellschaft als auch die von Ländern des Globalen Süden berücksichtigt werden sollen. Er teilte dabei meine Einschätzung, dass es nicht passieren darf, dass die EU und USA im Rahmen des TTC Standards entwickeln, welche ausschließlich transatlantischen Interessen dienen. Angesprochen auf die Positionierung der EU zwischen dem anhaltenden (handels-)politischen Konfrontationskurs zwischen USA und China, würde er sich dennoch wünschen, dass die EU ihre Stärke als globale Wirtschaftsmacht nutzt und auch für eigene Interessen einsteht. Dafür muss die EU die handelspolitischen Instrumente in ihrem Werkzeugkasten schärfen, aber gleichzeitig eine offene Volkswirtschaft bleiben. (Wir haben an dieser Stelle nicht weiter besprochen, inwiefern das eine Zusage an die weitere Handelskooperation mit China und eine Absage an die härtere US-Gangart gegenüber China ist.) Ein wichtiges handelspolitisches Instrument ist für Bernd Lange das europäische Lieferkettengesetz. Es verpflichtet Unternehmen, auch im Ausland elementare Menschenrechte zu schützen und hat so politischen Einfluss weit über die Grenzen der EU hinaus. Für Lange ist klar: Wir sind nicht die handelspolitische Weltpolizei und wir wollen auch nicht unsere Weltsicht exportieren. Stattdessen fordert er, dass sowohl bilateral als auch multilateral auf WTO-Ebene universelle Standards zur Grundlage der gemeinsamen handelspolitischen Ordnung gemacht werden. Konkret nennt er dafür die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labor Organization, ILO), die UN-Umweltnormen, das Pariser Klimaabkommen sowie die Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN (Sustainable Development Goals, SDGs).

Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala hat das Potenzial, die WTO zu modernisieren

Ob mit Minister*innenkonferenz oder ohne, in Anlehnung an einen bekannten James-Bond-Film ist Bernd Langes Ansage in Richtung WTO eindeutig: „No Time To Die!“. Was er damit sagen möchte: Die allgemeine Frage nach Erfolg spielt für ihn derzeit nur eine nachgeordnete Rolle. Viel wichtiger als das Einhalten strenger Erfolgskriterien sei es, den Prozess der multilateralen handelspolitischen Zusammenarbeit am Leben zu erhalten. Er wünscht sich, dass die WTO Signale setzt und zeigt, dass sie nach wie vor die regelnde Instanz für die Welthandelsordnung ist. Wichtige Signale wären für ihn eine stärkere Rolle der WTO für die Handelspolitik im Gesundheitssektor, erste Schritte zur Reformierung der WTO selbst sowie der Abschluss der seit 20 Jahren laufenden Verhandlungen über den Abbau schädlicher Fischereisubventionen.

Auch wenn die WTO nun ihre erste Minister*innenkonferenz kurzfristig absagen musste, Bernd Lange bleibt dabei: Für ihn hat die neue WTO-Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala die Möglichkeit zum „Game-Changer“ zu werden. Für ihn ist klar, ohne sie wäre das Scheitern vorprogrammiert. Auch wenn ich kritisch anmerkte, dass wohl niemand von ihr eine „One-Woman-Show“ erwarten könne – die WTO ist und bleibt schließlich eine auf Konsens beruhende internationale Organisation von 164 sehr unterschiedlichen Mitgliedern. Bernd Lange beteuerte in unserem Gespräch, dass sie bereits eine neue Dynamik in die WTO gebracht habe. So sei es ihr gelungen, Indien wieder stärker einzubinden, obwohl die dortige Regierung sehr vielen WTO-Initiativen skeptisch gegenübersteht. Es sei Okonjo-Iweala gelungen, Raum für einen neuen Dialog in der WTO zu schaffen. Dieser Dialog kann Grundlage für eine Modernisierung multilateraler Prozesse werden. Für eine entschlossen zusammenarbeitende WTO, die einen regelbasierten, fairen und nachhaltigen Welthandel garantiert.

Eine Frau und ein Mann in Arbeitsbekleidung und medizinische Maske betrachten Frachtcontainer, die vor ihnen stehen.

Gerade in der derzeitigen Pandemie sind internationale Kooperation und Solidarität in transatlantischen Handelsbeziehungen sowie ein klares Bekenntnis zu multilateraler Zusammenarbeit besonders wichtig. © BulentBARIS

Ein Mann spricht in ein Mikrophon und gestikuliert dabei mit seiner linken Hand.

Bernd Lange, Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP) und Vorsitzender des Ausschusses für Internationalen Handel (INTA), setzt sich seit vielen Jahren für eine faire und nachhaltige Handelspolitik ein. © European Union 2017

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