Liebe Leser*innen,
kennen Sie die Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ in der Hamburger Innenstadt – in der Nähe des Chile-Hauses? Sie gibt nicht nur einen Einblick in Helmut Schmidts Biografie, sondern widmet sich vor allem den Themen – von Energieversorgung bis Weltwirtschaft –, die heute ebenso kontrovers diskutiert werden wie zu seiner Kanzlerschaft. Anhand von Objekten lässt die Ausstellung zudem fast ein ganzes Jahrhundert deutscher Zeitgeschichte lebendig werden. Wenn Sie die besinnliche Weihnachtszeit und den Jahreswechsel nutzen möchten, um sich einen tiefen Einblick in Schmidts Leben und seine Themen zu verschaffen, und Sie sich anhand von Fallstudien namhafter Expert*innen kritisch damit auseinandersetzen wollen, dann empfehlen wir Ihnen unser reich bebildertes Buch „Schmidt! Demokratie leben“, das als Begleitband zur Ausstellung nächste Woche erscheinen wird. Und damit Sie auch ausreichend Muße haben, um darin zu schmökern, legen wir bis Mitte Januar mit unserem Schmidtletter eine kleine Pause ein.
Viel Spaß bei der Lektüre und ein frohes Fest!
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Der Begleitband zur ständigen Ausstellung wirft Schlaglichterauf ein knappes Jahrhundert deutscher wie internationaler Zeitgeschichte. Schon im Titel kommt zum Ausdruck, welche herausragende Bedeutung für Helmut Schmidt die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform hatte – einschließlich ihrer Prinzipien von Debatte und Kompromiss auf der Basis von Meinungs- und Pressefreiheit. Ganz in diesem Sinn finden gesellschaftlich umstrittene Themen eine multiperspektivische Darstellung, die dem Lesepublikum für eine eigene Meinungsbildung die jeweiligen Pro- und Kontra-Positionen nahebringt.
Das reich bebilderte Buch beginnt mit einer Zeitleiste, die wichtige Etappen aus dem privaten wie politischen Leben Schmidts zusammenfasst. Historische Fallstudien widmen sich heute noch kontrovers diskutierten Themen von Atomkraft bis Weltwirtschaft, aber auch biografischen Aspekten wie seiner Zeit in der Wehrmacht oder den vielfältigen Aktivitäten als Altkanzler. Zudem präsentieren Objektgeschichten über die papierne Überlieferung hinaus materielle Zeugnisse, die Geschichte besonders lebendig werden lassen: beispielsweise ein Haarnetz, eine Weinbrandflasche oder ein AKW-Modell.
Mehr Haar wagen
Mit seiner Ernennung zum Verteidigungsminister im Herbst 1969 machte es sich Schmidt zur Aufgabe, die Streitkräfte gemäß dem als Abgrenzung zur NS-Zeit entstandenen Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“ weiter zu reformieren. Zu seinen umstrittensten Entscheidungen gehörte dabei der „Haarnetzerlass“ vom 5. Februar 1971, durch den Soldaten den bisher vorgeschriebenen Kurzschnitt textil umgehen konnten.
Dessen Vorgeschichte und Umsetzung hinterließ Quellenspuren auf ganz verschiedenen Ebenen: So erhielt der Wehrbeauftragte des Bundestags mehrere Eingaben, die mit dem grundgesetzlichen Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ argumentierten. Während Parlamentsdebatten führten Anspielungen etwa auf Glatzen und Koteletten wiederholt zu Momenten parteiübergreifender Heiterkeit, auch fand das Thema aufgrund eines offiziell festgestellten Regelungsbedarfs Eingang in zwei „Weißbücher“ des Verteidigungsministeriums. Eine eigens einberufene Beschaffungskommission prüfte bürokratisch korrekt mehr als ein Dutzend angebotene Modelle, bevor insgesamt 739.177 Exemplare für knapp 352.000 DM gekauft wurden.
Für seine Bemühungen um Frisurenfreiheit bekam Schmidt vom Aachener Karnevalsverein den Orden „Wider den tierischen Ernst“ verliehen, zur feierlichen Übergabe erschien aber nur Staatssekretär Karl Wilhelm Berkhan. Nach teils harscher Kritik am Erscheinungsbild der Truppe galten ab dem 13. Mai 1972 wieder die alten Regeln – offiziell aus hygienisch-sanitären Gründen.
Destillat der Freundschaft
Schon als Bundeskanzler verband den Sozialdemokraten Schmidt ein enges Verhältnis mit dem liberalen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing. Während dessen Amtszeit von 1974 bis 1981 trieben sie als bilaterales Tandem die institutionelle Weiterentwicklung und weltpolitische Stärkung der Europäischen Gemeinschaft voran.
Ein persönliches Geschenk Giscards ist der auserlesene Weinbrand aus der Region Gascogne im Südwesten Frankreichs, destilliert in Schmidts Geburtsjahr 1918 und nach jahrzehntelanger Fassreifung 1980 abgefüllt. Auf den Wachsverschluss geprägt sind die Initialen der familiengeführten Destillerie Francis Darroze, das Etikett zeigt neben der geschützten Ursprungsbezeichnung „Bas-Armagnac“ den Namen des Weinguts Gachot und den Alkoholgehalt von 40 Vol.-%. Ihre letzte Ruhestätte fand die 0,7 Liter-Flasche zusammen mit Spezialitäten wie chinesischem Duftblütenwein, lippischem Wacholderschnaps und rumänischem Pflaumenbrandy auf einem Spirituosenregal der legendären Langenhorner Hausbar, „Ottis Bar“, die nach Schmidts Personenschützer Ernst-Otto Heuer benannt wurde.
Als deren umfangreiche Bestände 2018 in einer Datenbank erfasst wurden, weckte das hochprozentige Freundschaftsgeschenk mit der Inventarnummer BO 324 schnell das Interesse des Ausstellungsteams. Für den Durst des Empfängers kann man das offenbar weniger sagen, denn als Objektstatus vermerkte der akribische Bearbeiter „ungeöffnet, Füllhöhe 21 cm“.
Spaltprozesse
Als Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit gab die von Siemens geführte Kraftwerk Union AG beim Spezialverlag J. F. Schreiber das detaillierte Modell „DWR 1300 MW“ in Auftrag. Es zeigt einen Druckwasserreaktor der 1.300 Megawatt-Klasse, wie er sich 1983 an den Standorten Isar 2 (Bayern), Emsland (Niedersachsen) und Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) im Bau befand.
Für die Ausstellung erfolgte die Montage der insgesamt 1.154 Teile aus 18 Bögen durch den Entwickler Thomas Pleiner selbst mit viel Fingerspitzengefühl und Geduld, die dann beim Blick in eine durch herausnehmbare Dachteile einsichtige Reaktorkuppel belohnt wurde. Zusammen mit Broschüre, Grundplan und Poster lag der Bausatz im Maßstab 1:1350 in den Besucher- und Informationszentren von Kernkraftwerken aus; ferner gehörten zur Zielgruppe Bildungseinrichtungen wie Schulen. Mit einer deutschsprachigen Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren sollte das Werbepaket für die umstrittene Technik faszinieren und zugleich deren vermeintliche Kontrollierbarkeit vermitteln.
Jedoch verlor das auch von der Regierung Schmidt verfolgte Ziel bezahlbarer wie sicherer Kernenergie mit jedem nuklearen Zwischenfall und ohne funktionierende Endlagerung weiter an Rückhalt in Bevölkerung und Politik. Nach vier Jahrzehnten oft heftiger gesellschaftlicher Debatten beendeten am 15. April 2023 die Meiler Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 als letzte laufende Atomkraftwerke der Bundesrepublik ihren Betrieb.