Dr. Hürcan Aslı Aksoy, Leiterin des Centrums für Angewandte Türkeistudien (CATS) an der Stiftung der Wissenschaft und Politik, Berlin, gab der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (BKHS) in einem Workshop vor der Helmut Schmidt Lecture „For a Just Democracy!“ einen umfassenden Überblick über die politischen Entwicklungen in der Türkei, die aktuellen Herausforderungen für die Demokratie und das Verhältnis der Türkei zur EU. Der Speaker der Lecture ist der türkische Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu, Oberbürgermeister von Istanbul.
Historischer Kontext
Die Türkei hatte schon immer mit demokratischen Einschränkungen zu kämpfen, etwa durch häufige Parteiverbote und militärische Eingriffe. Diese Faktoren sowie die eingeschränkten Rechte für die kurdische Minderheit führten zu einer sogenannten „defekten Demokratie“ mit starkem Einfluss des Militärs und der Bürokratie auf die Regierung. Seit dem Jahr 2011 lassen sich verschiedene Versuche beobachten, die demokratischen Institutionen zu schwächen. Diese erfolgten beispielsweise durch eine Kontrolle der Medien sowie eine starke Politisierung der Justiz. Im Jahr 2017wurde das parlamentarische System mit einem Referendum in ein Präsidialsystem umgewandelt. Seit dem Jahr 2018 kann die Türkei folglich als eine Autokratie bezeichnet werden. Die AKP-Regierung hat schließlich ihre Kontrolle über die Institutionen gestärkt und das Parlament sowie die Opposition weiter geschwächt.
Türkei-EU-Beziehungen
Die zunehmende Rückentwicklung der Demokratie hat das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei belastet. Trotz dieser Herausforderungen bleibt die Türkei ein wichtiger Partner aufgrund ihrer strategischen Lage zwischen Asien und Europa und ihrer Rolle in der NATO. Kooperationsmöglichkeiten bestehen weiterhin, insbesondere in den Bereichen Handel, Migration und ökologische Transformation. Außerdem tendiert die türkische Gesellschaft aktuell als Reaktion auf die anhaltende ökonomische Krise zu einem EU-Beitritt der Türkei.
Sozioökonomische und gesellschaftliche Herausforderungen
Die anhaltende Inflation und wirtschaftliche Krise haben die türkische Mittelschicht stark geschwächt. Auch das Thema Migration spielt eine Rolle: in der Türkei herrscht aktuell ein xenophobes Klima. Die Angst vor schweren Erdbeben in infrastrukturschwachen Städten beherrscht auch das gesellschaftliche Klima.
Insgesamt verdeutlichte der Vortrag von Dr. Aksoy die komplexe Situation in der Türkei und zeigte mögliche Wege auf, wie die EU durch indirekte Unterstützung zu einer langfristigen Stabilisierung und Demokratisierung beitragen kann. Die EU und Deutschland können nicht direkt in die türkische Innenpolitik eingreifen, um eine Demokratisierung zu erreichen, sie können jedoch dafür sorgen, dass die Situation in der Türkei auf der politischen Agenda bleibt, z.B. durch die Ermöglichung von Stadtplanung (in von der Opposition regierten Städten) durch Fördergelder.
Wir freuen uns auf die aktuellen Diskussionen bei der Helmut Schmidt Lecture am 21. November zum Thema „For a Just Democracy!“ im Museum für Kommunikation in Berlin.