Liebe Leser*innen,
kommenden Dienstag wählen die USA eine oder einen neuen Präsident*in. Für beide Kandidat*innen spielten außenpolitische Fragestellungen eine nur geringe Rolle im Wahlkampf. Doch auch wenn die USA sich zunehmend auf sich selbst konzentrieren, sind sie nach wie vor einer der einflussreichsten Akteure in den anhaltenden Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten. Der Ausgang der Wahl am 5. November wird also gravierende und sehr unterschiedliche Auswirkungen auf Europa und die internationale Politik mit sich bringen.
Um Szenarien für die internationale Konfliktlösung und Friedensförderung nach der US-Wahl zu skizzieren, trafen sich Ende September in Hamburg 13 Nachwuchswissenschaftler*innen von drei verschiedenen Kontinenten im Rahmen des Workshops „Future of Transatlantic Relations (FOTAR)“. Alle zwei Jahre laden die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (BKHS) und das Europa-Kolleg-Hamburg (EKH) Expert*innen zu einem transatlantischen Austausch ein. Gemeinsam diskutierten unsere FOTAR-Scholars verschiedene Szenarien – je nachdem, welche Partei das Weiße Haus übernehmen wird.
In unserem Schmidtletter stellt Ihnen unser Autor Matthew Delmastro die wichtigsten Ergebnisse gebündelt vor. Wir haben Ihnen zudem alle 13 Policy Briefs unserer Scholars hier auf unserer Website zusammengestellt.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Die US-Präsidentschaftskandidat*innen Donald Trump und Kamala Harris stritten sich in den letzten Monaten leidenschaftlich um innenpolitische Themen wie Abtreibungsrecht, Inflation oder Einwanderung. Wenngleich der Einfluss Amerikas in der Welt schwindet, werden die Prioritäten und Maßnahmen der nächsten amerikanischen Präsidentin bzw. des nächsten amerikanischen Präsidenten auf der globalen Bühne jedoch in vielen Bereichen tiefgreifende außenpolitische Auswirkungen haben. Die FOTAR-Policy Briefs zeigen anhand konkreter Themen und Konflikte auf, dass für die internationale Konfliktlösung und Friedensförderung unterschiedliche Szenarien denkbar sind. So gehen unsere Scholars unter anderem der Frage nach, wie die Haltung der Demokraten zu einer Deeskalation des Konflikts im Nahen Osten beitragen kann. Zudem befassen sie sich zum Beispiel auch damit, wie sich die US-Wahlen auf globale Strategien zur Verhinderung und Verfolgung von konfliktbezogener sexueller Gewalt auswirken könnten. Über die konkreten Konflikte hinaus, lassen sich aber auch allgemeinere Beobachtungen feststellen.
Kontinuität vs. Unvorhersehbarkeit
Die meisten FOTAR-Scholars sind sich einig, dass die Außenpolitik einer Präsidentin Harris sich größtenteils durch Kontinuität auszeichnen wird. Sie erwarten in vielen Bereichen eine Fortsetzung der Außenpolitik Bidens. Als Vizepräsidentin vertritt Harris die Politik der letzten vier Jahre und es gab keine Anzeichen für wesentliche Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Biden. Für politische Kontinuität sorgt außerdem die Besetzung außenpolitischer Berater: Harris Team stammt aus demselben Personenkreis wie auch schon unter Obama und Biden. Allerdings ist noch unklar, was genau Harris Prioritäten im Falle ihrer Wahl sein werden. Im Gegensatz zu Biden würde Harris mit sehr wenig außenpolitischer Erfahrung ins Weiße Haus einziehen, und es gäbe keine aussagekräftige Erfolgsbilanz, aus der sich ihr künftiges Handeln ableiten ließe.
Einig waren sich die FOTAR-Scholars auch über die Unwägbarkeiten, die eine zweite Trump-Präsidentschaft mit sich bringen würde. In seiner ersten Amtszeit hat Trump einige seiner radikaleren Vorschläge, wie den Austritt der USA aus der NATO, nicht umgesetzt. In einer zweiten Amtszeit hätte er jedoch vom ersten Tag an mehr Loyalisten in seinem Kabinett, die seine Befehle treu ausführen würden. Es gäbe weniger „Erwachsene im Raum“, die Trumps störende Impulse mäßigen und einzudämmen versuchen würden.
Das Trump-Szenario und sein großer potenzieller Schaden für die transatlantischen Beziehungen und das multilaterale System veranlasste viele der FOTAR-Scholars zu einer oft wiederholten Forderung: Europa muss mehr tun. Sie fordern, dass die EU unabhängiger werden und eine größere Führungsrolle bei der Konfliktlösung und der Stärkung des UN-Systems übernehmen solle.
Aussichten für die Konfliktlösung im Jahr 2024 und darüber hinaus
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine machen die Policy Briefs deutlich, dass eine Präsidentin Harris ein verlässlicherer Partner für die Ukraine und ihre europäischen Unterstützer wäre. Es wird erwartet, dass sie Bidens Politik der klaren Unterstützung für die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland fortsetzen wird. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass ein von den Republikanern dominierter Kongress ihre Regierung daran hindern könnte, der Ukraine weitere finanzielle und militärische Hilfe zukommen zu lassen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit für die europäischen Staaten, ihre Unterstützung für die Ukraine zu erhöhen, um die von den USA hinterlassene Lücke zu schließen. In einem Trump-Szenario könnte sich die US-Politik völlig umkehren, so dass Europa die USA ablösen und zum wichtigsten Unterstützer der Ukraine werden müsste.
Im Nahostkonflikt ist es unwahrscheinlich, dass einer der beiden Kandidaten den Kriegsverlauf ändern würde, obwohl es im Falle eines Harris-Siegs möglich ist, dass sie eine härtere Gangart gegenüber Israel einschlägt. In den Territorialkonflikten im Südchinesischen Meer würden beide Kandidaten einen ähnlichen Ansatz verfolgen, der im Einklang mit der US-Politik seit Obamas Präsidentschaft steht. Allerdings würde Trump wahrscheinlich zu einer aggressiveren und militaristischeren Rhetorik greifen, die das Potenzial hätte, die Spannungen zwischen den USA und China zu verschärfen. In Westafrika und der Sahelzone befindet sich die US-Politik an einem kritischen Punkt, insbesondere nach dem Putsch in Niger und der Entscheidung der regierenden Junta, die militärische Zusammenarbeit mit den USA zu beenden. Harris wird wahrscheinlich versuchen, in der Region engagiert zu bleiben, um die US-Terrorismusbekämpfung fortzusetzen, aber Trump könnte sich aufgrund seiner isolationistischen Instinkte und seiner Überzeugung, dass die Interessen der USA in Afrika nicht auf dem Spiel stehen, zurückziehen.
Gegenwind für die Gleichstellung der Geschlechter
Eine weitere Präsidentschaft Trumps dürfte, nach Meinung der FOTAR-Scholars, die weitere Zusammenarbeit im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter stark behindern. Ein Großteil der Arbeit im Bereich der Geschlechtergleichstellung und der Friedenskonsolidierung findet im Rahmen der UN statt. Trump könnte die Mittel für die UN insgesamt kürzen, sehr wahrscheinlich aber nur für Programme, die sich mit spezifischen Themen wie der Gleichstellung der Geschlechter und Jugend beschäftigen. Harris hingegen würde die Unterstützung der Biden-Administration für die Frauen-Friedens- und Sicherheitsagenda (WPS) und andere damit zusammenhängende Agenden fortsetzen. Sie würde vielleicht sogar noch einen Schritt weiter gehen, indem sie einen stärker transformativen Ansatz für die Geschlechterbeziehungen in Konflikten und bei der Friedenskonsolidierung in den Vordergrund stellen würde.
Die Rolle der UN in den kommenden Krisen
Unsere FOTAR-Scholars sind sich einig: Auch wenn eine Präsidentin Harris die UN zweifellos mehr unterstützen würde als Trump, sind die aktuellen Probleme der UN so tiefgreifend, dass Änderungen dringend erforderlich sind – unabhängig davon, wer gewählt wird. Da ist zunächst die allgemeine „Liquiditätskrise“, die dadurch verursacht wird, dass die Mitglieder ihre Beiträge nicht vollständig und pünktlich zahlen. Die USA als größter Beitragszahler der UN tragen einen großen Teil der Verantwortung der seit Jahrzehnten bestehenden nicht ausreichenden UN-Finanzierung. Strukturelle Reformen des UN-Haushalts sind dringend erforderlich.
Damit eng verknüpft ist die Krise der UN-Friedensoperationen, da diese durch Haushaltsdefizite, die Lähmung des UN-Sicherheitsrats und ein verändertes geopolitisches Umfeld ineffektiv geworden sind. Insgesamt hat die UN im Bereich Frieden und Sicherheit immer mehr an Bedeutung verloren und bedarf einer grundlegenden Reform. Wahrscheinlich werden weder Harris noch Trump diese Agenda vorantreiben. Eine Präsidentin Harris würde der multilateralen Agenda aber zumindest nicht aktiv schaden.