Vor 40 Jahren - Gründung der Gewerkschaft Solidarność

Als Helmut Schmidt ohne „Best-Practices-Beispiele“ agieren musste

Autor/in:Magnus Koch
Ein Mann steht mit ausgebreiteten Armen auf einem Podest umgeben von zahlreichen Menschen. Eine Frau hält ein Mikrophon vor ihn.

Am 17. September 1980 gründen polnische Arbeiterinnen und Arbeiter die Gewerkschaft Solidarność. Die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung erinnert an die dramatischen Ereignisse vor 40 Jahren während einer „heißen Phase“ des Kalten Kriegs, an damals vorherrschende Problemlagen und historische Rücksichten, die das Handeln Helmut Schmidts als Bundeskanzler bestimmten – und schildert die Kritik, mit der er sich aufgrund seiner Entscheidungen auseinanderzusetzen hatte.

Winter 1981: Helmut Schmidt reist erstmals als Bundeskanzler in die Deutsche Demokratische Republik, das andere, sozialistische Deutschland. In Schloss Hubertusstock nördlich von Berlin und in Güstrow trifft er den Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei (SED) und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker zu politischen Gesprächen. Die Atmosphäre ist angespannt. In Güstrow hat Honecker mit einem Großaufgebot der DDR-Staatssicherheit verhindert, dass Schmidt von der Bevölkerung empfangen wird. Unter schwierigen Vorzeichen steht der Besuch auch aus anderen, weltpolitischen, Gründen: Das Wettrüsten der Supermächte, der Einmarsch der sowjetischen Roten Armee in das Nachbarland Afghanistan und andere Krisen und Kriege bilden den Anlass für einen heute sogenannten Zweiten Kalten Krieg (nach der Entspannungspolitik der späten 1960er- und 1970er-Jahre).

Eine weitere wichtige Entwicklung verschärft die internationale Lage. Im Dezember 1981 ahnt wohl noch niemand, dass sie eine zentrale Wegmarke des späteren Zusammenbruchs der staatssozialistischen Länder Osteuropas bilden sollte: Ein gutes Jahr zuvor, im Sommer 1980, hatte sich in Polen mit der Solidarność erstmals eine freie Gewerkschaft gegründet, die es eigentlich nicht geben durfte. Denn sie vertritt eben jene Interessen von Arbeiterinnen und Arbeitern, für die der sozialistische Staat und seine herrschende kommunistische Partei (KP) zuallererst zuständig sein sollte. Aber die Unzufriedenheit der Menschen in Polen ist allein wegen der miserablen Versorgungslage groß – und entsprechend groß ist der Autoritätsverlust der KP. Kaum zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang auch der Einfluss des polnischen Papstes Karol Wojtyła und damit auch religiöser Aspekte auf die politische Entwicklung im Land.

Unter dem charismatischen Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa hat die Solidarność enormen Zulauf. In kurzer Zeit treten ihr viele Millionen Menschen bei. Die Welt hält gewissermaßen den Atem an und schaut auf den Staat unweit der Nahtstelle des „Eisernen Vorhangs“: Wie würde die Zentralmacht des „Warschauer Pakts“, die Sowjetunion, mit der Situation umgehen? Würde sie, gemeinsam mit den sozialistischen „Bruderstaaten“, mit Gewalt eingreifen, um Streiks und politische Unruhen zu zerschlagen, so wie es 1956 in Ungarn und 1968 während des „Prager Frühlings“ der Fall gewesen war?

Diese Fragen beschäftigen auch Bundeskanzler Helmut Schmidt, als er im Dezember 1981 in die DDR reist. Schon zweimal zuvor war der Besuch auch wegen der Lage in Polen verschoben worden. Er möchte nicht Gast in einem Staat sein, dessen Truppen möglichweise an einem militärischen Eingreifen im Nachbarstaat unmittelbar beteiligt sind. Das ließe ihn nicht nur bei der konservativen Opposition im eigenen Land schlecht dastehen.

Schmidt sieht sich im Zwiespalt: Als Bundeskanzler ist sein „natürlicher“ Ansprechpartner die polnische Regierung, die die Lage nicht kontrollieren kann. Die Solidarność ist ein Teil einer Zivilgesellschaft, die während des „Kalten Kriegs“ aufgrund staatlicher Repression in Osteuropa nur schwach ausgebildet ist; offenbar gibt es zu dieser Zeit für das politische Bonn nur wenige funktionierende Vorbilder oder „Best-Practices-Beispiele“ für den Umgang mit nicht-staatlichen Akteuren. Das Entscheidende aber ist: Die Regierungskoalition aus SPD und FDP (an ihrer Spitze Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher als Außenminister) treibt angesichts der ohnehin angespannten weltpolitischen Lage die Sorge um, dass eine offene Akzeptanz oder direkte Gespräche mit Solidarność-Vertreterinnen und -vertretern als Affront aufgefasst werden und die empfindliche Situation eskalieren könnte. Schmidt sieht die unter Willy Brandt und Egon Bahr (und mit Schmidts vorbehaltloser Unterstützung) eingeleitete Entspannungspolitik insgesamt in Gefahr. Nach eigenen Aussagen schreckt ihn auch die Vorstellung, dass mit der „Nationalen Volksarmee“ (NVA) der DDR nur 35 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Truppen in Polen stehen könnten.

Für Schmidt sind die Franzosen und die Polen die wichtigsten europäischen „Nachbarn“, denen sich Deutschland besonders verpflichtet fühlen müsse. Die Deutschen trügen, vor allem aufgrund der furchtbaren Besatzungsverbrechen mit der Vertreibung, Versklavung und Ermordung von Millionen Polen zwischen 1939 und 1945, eine besondere Verantwortung. Bereits in einem Grundsatzpapier für den Dortmunder SPD-Parteitag 1966, also vor der Aushandlung der „Ostverträge“ durch Willy Brandt, macht er unmissverständlich klar, dass ein dauerhafter Frieden in Europa nur möglich sei, wenn die bestehenden Grenzen vor allem zwischen Deutschland und Polen nicht zur Diskussion stünden, die Unversehrtheit des polnischen Territoriums also von deutscher Seite nie mehr infrage gestellt würde.

Als im Dezember 1981, also während des Staatsbesuchs auf dem Schloss Hubertusstock und in Güstrow, schließlich die Nachricht über die Verhängung des Kriegsrechts in Polen eintrifft, ist Schmidt bestürzt und erleichtert zugleich: bestürzt über das gewaltsame Eingreifen des polnischen Staats und die daraus folgende harsche Repression gegenüber der aufkeimenden zivilgesellschaftlichen Bewegung; erleichtert, weil es eben nicht die Rote Armee, die NVA und andere Warschauer-Pakt-Truppen sind, die die Reformbewegung (vorerst) gestoppt haben, sondern polnisches Militär – so sollte er selbst es später darstellen. Kritik erntet Schmidt in den Tagen rund um das deutsch-deutsche Gipfeltreffen in der DDR auch von Teilen der konservativen Opposition im eigenen Land: Der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß wirft Schmidt vor, sich mit seinem pragmatischen Handeln gegenüber den kommunistischen Machthabern in Polen „feige“ verhalten zu haben. Schmidt hätte entschlossener gegen die Unterdrückung der polnischen Opposition protestieren sollen. Ähnliche Kritik muss Schmidt zum Jahreswechsel 1981/1982 auch aus Frankreich und aus den USA einstecken, und zwar aus konservativen Kreisen, denen er sich eigentlich eng verbunden fühlt. Vorwürfe von polnischer Seite, zuletzt aus dem Jahre 2007, die von ihm geführte Bundesregierung habe seinerzeit die polnische Protestbewegung von 1980 und den Folgejahren nicht ausreichend unterstützt, weist Schmidt stets zurück.

Er hält dagegen, dass man angesichts der angespannten weltpolitischen Lage die Polen nicht zu einer Revolution habe ermuntern dürfen, denen der Westen nicht zu Hilfe kommen konnte. Stets verweist er auf seine Grundposition, dass sich politischer Wandel friedlich und gemäß UN-Charta und Menschenrechtskonvention zu vollziehen habe. In Washington wirbt Schmidt bei US-Präsident Ronald Reagan im Januar 1982 dafür, Polen und der Sowjetunion behutsam, mit einer Kombination aus wirtschaftlichem und politischem Druck gegenüberzutreten. Er selbst habe, so befindet er später, mit seiner Unterschrift unter die Schlussakte von Helsinki 1975 dafür gesorgt, dass die Menschenrechte zentraler Bestand des großen europäischen Friedensvertragswerks wurden – dies habe letztlich die Oppositionsbewegungen in Osteuropa gestärkt und damit zu ihrem Erfolg beigetragen.

Schmidt verteidigt sein Handeln und seine Prioritätensetzung im Kalten Krieg bis zum Schluss: Eine seiner letzten großen Reisen führt Helmut Schmidt 2011 ins Baltikum und nach Russland; in Polen macht er lange Station und trifft, wie stets bei seinen Besuchen, hochrangige Vertreter aus Politik und Gesellschaft, darunter den früheren Solidarność-Vorsitzenden und späteren Präsidenten des Landes Lech Wałęsa. Die beiden sprechen miteinander am 10. August 2011 in Danzig, eben dort, wo die Bewegung ihren Anfang nahm. Schmidt selbst betonte oft, wie wichtig der „Warschauer Frühling“ von 1980 und den Folgejahren auch für das Gelingen der Vereinigung der deutschen Staaten von 1989/1990 gewesen sei.


Leseempfehlungen:

  • Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.
  • Hier Helmut Schmidts Brief an Lech Wałęsa vom 13. Oktober 2011 lesen.
  • Offizieller Bericht Helmut Schmidts zum Besuch in der DDR, abgedruckt als Plenarprotokoll der Bundestagssitzung vom 18. Dezember 1981.
  • Hier Helmut Schmidts Redemanuskript zu dieser Bundestagssitzung aus dem Helmut Schmidt-Archiv mit seinen persönlichen Korrekturen lesen.
Ein Mann steht mit ausgebreiteten Armen auf einem Podest umgeben von zahlreichen Menschen. Eine Frau hält ein Mikrophon vor ihn.

Abschied in Güstrow: Erich Honecker reicht ein Hustenbonbon, Güstrow, Dezember 1983. © Bundesregierung, Engelbert Reineke

Helmut Schmidt streckt seine Hand aus einem geöffneten Zugfenster, während Erich Honecker, der auf dem Bahnsteig steht, ein Bonbon in Schmidts Hand legt.

Abschied in Güstrow: Erich Honecker reicht ein Hustenbonbon, Güstrow, Dezember 1983. © Bundesregierung, Engelbert Reineke

Viele Demonstrierende mit Flaggen von Polen auf einer Straße.

Kundgebung der Gewerkschaft Solidarność, Danzig 1982. © Picture alliance/AP Images

In einem Brief an Lech Walesa bedankt sich Helmut Schmidt für ein Gespräch.

Helmut Schmidts Brief an Lech Wałęsa vom 13. Oktober 2011. © HSA

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