Wie schneidert man einen „Atomrucksack“? – Auf den Spuren der Kalten Krieges

Zur Eröffnung der Dauerausstellung über Helmut Schmidt hat die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung ein besonderes Stück Zeitgeschichte in Auftrag gegeben.

Zwei Personen stehen in einer Nähwerkstatt und präsentieren einen zylinderförmigen Atomrucksack.

Autorinnen: Anne Müllender und Juliette Maresté

Bei dem Gedanken graut es einem: der Atomsprengkopf für die Tasche. Der olivfarbene „Atomrucksack“ galt in den 1960er-Jahren als Neuheit in der nuklearen Kriegsführung. Landschaften konnten durch den ferngezündeten Sprengkopf undurchdringbar verwüstet und verstrahlt, strategische Infrastruktur dem Erdboden gleichgemacht werden, sodass feindliche Truppen nicht hätten vordringen können. Das kuriose Objekt ist ab 10. November in der neuen Ausstellung „Schmidt! – Demokratie leben“ zu sehen.

Als Helmut Schmidt 1969 Verteidigungsminister wird, befindet sich die Welt schon längst im nuklearen Wettrüsten. Das geteilte Deutschland ist Schauplatz für das Kräftemessen der Weltmächte zwischen Ost und West, man probt für den Ernstfall. Sollten die sowjetischen Truppen einen Angriff starten, so müsse dieser nicht nur durch strategische Kernwaffen, sondern auch durch kleine atomare Sprengköpfe aufgehalten werden, lautete damals die Plan. Diese Sprengköpfe konnten auf Fahrzeugen, aber auch von Personen transportiert werden. Das explosive Gepäck wog etwa 45 kg und ließ sich bei einer Höhe von 71 cm auf dem Rücken tragen. Mitte der 60er-Jahre sollte er laut NATO-Plänen auch an der deutsch-deutschen Grenze deponiert werden.

Im November 2019 erhielt Martina Ditzel, gelernte Herrengewandmeisterin, einen Anruf der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung mit einer ausgefallenen Anfrage: einen solchen Rucksack anzufertigen. „Ich konnte es zuerst nicht wirklich glauben, dass es so etwas wirklich einmal gegeben hat.“, erinnert sie sich. Fast ein Jahr, sehr viel Recherche und über 100 Arbeitsstunden später steht nun dieses grüne Monstrum auf dem Tisch des Gewandwerks. Etwas wuchtig und unhandlich sieht es aus. Zusammen mit Requisitenbauer Christian Petersen hat Ditzel diese Attrappe des Originals, eines US-amerikanischen „Atomrucksacks“ gebaut, im Fachjargon Special Atomic Demolition Munition (SADM) genannt.

Doch wie geht man an so ein Projekt heran? „Es fließt sehr viel Recherche in die Arbeitszeit hinein, denn es sollte natürlich authentisch und einzigartig sein.“, erzählt Petersen. Mit der ersten Recherche begann also im November 2019 für Martina Ditzel die Arbeit, auf Basis von Archivbildern und dem Bild eines anderen Ausstellungsstücks in den USA. Für sie und ihre Meisterkolleginnen des Gewandwerks sind ungewöhnliche Anfragen nichts Besonderes. Neben Bühnenkostümen fertigen sie zumeist ausgefallene und komplizierte Auftragsarbeiten an. Ein Projekt auf welches Ditzel besonders stolz ist? Die Weltraumkuh „Stella“ für das Planetarium Hamburg, die von ihr mit aufwendigem Astronautenanzug und Helm ausgestattet wurde. Das Unmögliche möglich machen – für Ditzel und Petersen Alltag.

Nach der Recherche begann dann das Handwerk. Bei der Herstellung und Verarbeitung der Bänder, Kordeln und Schnallen des Rucksacks sah Ditzel keine Probleme, ihre Werkstatt ist hochprofessionell ausgestattet. Doch für den Behälter bat sie Christian Petersen, selbstständiger Requisitenbauer, um Hilfe. Beide kennen sich und haben schon öfters an gemeinsamen Projekten gearbeitet. Auch für Petersen, der Requisiten für Filmsets, Theater und Werbespots in seiner Werkstatt in Altona baut, gehören ungewöhnliche Aufträge zur Tagesordnung, wie zum Beispiel überdimensional große Möbelstücke oder Baseballschläger aus Schaumstoff für Stuntszenen. Er benutzte also ein Kanalrohr für den Behälter und fertigte den Deckel aus Holz, sowie weitere Elemente aus Moosgummi und Schweißdraht an. Der Look der 60er-Jahre, inklusive Gebrauchsspuren, das war das Ziel. Alles sollte etwas abgenutzt wirken. Im Internet fand Martina Ditzel Schnallen aus Metall, die im gebrauchten Stil gestaltet worden waren. Für die Kordeln und Bänder färbte sie dicke Baumwolle dunkelgrün ein. Sowohl die Schnallen als auch die Bänder schleifte und schmirgelte sie mit speziellem Werkzeug ab. Man denkt nun tatsächlich, dass der Rucksack einmal vor 60 Jahren im Wald nahe der Grenze zur DDR positioniert worden wäre. Damals ging es vor allem darum, die sogenannte „Fulda-Lücke“ zu schließen, also einen potenziellen Angriff an der schwächer gesicherten Stelle an der Grenze um Fulda herum abzuwehren.

Helmut Schmidt war angesichts dieser Art von Waffen schier entsetzt. Er bevorzugte es, eine „weniger selbstmörderische Form der Verteidigung“ zu wählen, denn die kleine Atombombe in Erdlöcher oder im Wasser zu versenken und zu zünden, war mit einem hohen Risiko verbunden. Auch in den Reihen der Bundeswehrgeneräle wurden Zweifel laut. So warnte General Franz Pöschl in einem Brief an Schmidt, der Einsatz des Rucksacks werde vor allem für die Zivilbevölkerung „den sicheren Tod und die totale Verwüstung ihrer Heimat“ bedeuten. Zudem war auch nicht sicher, ob die Träger des Rucksacks den Einsatz überleben würden.

So versuchte Schmidt die Positionierung der Sprengköpfe an der innerdeutschen Grenze zu verhindern, was ihm in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Verteidigungsminister Melvin Laird gelang. Diskussionen rund um den Umgang mit der Sowjetunion, der NATO und den USA als Partner im Kalten Krieg kennzeichneten Schmidts politisch aktive Jahre. Deshalb ist der extra angefertigte „Atomrucksack“ auch ein besonderes Stück in der Ausstellung „Schmidt! – Demokratie leben“.


Livestream zur Ausstellungseröffnung: Martina Ditzel erzählt (ca. ab Minute 16) vom Atomrucksack

Eine Schneiderin steckt mit einer Stecknadeln ein Band an dem fast fertiggestelltem Rucksack fest.

Martina Ditzel, gelernte Herrengewandmeisterin, fertigt einen „Atomrucksack“ für die neue Ausstellung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung „Schmidt! – Demokratie leben“ an. © BKHS/Michael Zapf

Objekt-Foto des miltärgrünen, zylinderförmigen Atomrucksacks.

Zur Eröffnung der Dauerausstellung über Helmut Schmidt hat die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung wurde ein besonderes Stück Zeitgeschichte – ein nachgestellter „Atomrucksack“ aus den 1960er-Jahren – nachgebaut. © BKHS/Michael Zapf

Nahaufnahme zeigt, wie eine Schneiderin das Ende eines gewebten Bands festnäht.

Für die Kordeln und Bänder färbte Ditzel dicke Baumwolle dunkelgrün ein. © BKHS/Michael Zapf

Zwei Personen stehen in einer Nähwerkstatt und präsentieren den fertigen Atomrucksack.

Zusammen mit Requisitenbauer Christian Petersen hat Martina Ditzel, gelernte Herrengewandmeisterin, diese Attrappe des Originals, eines US-amerikanischen „Atomrucksacks“ gebaut, im Fachjargon Special Atomic Demolition Munition (SADM) genannt. © BKHS/Michael Zapf

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