Wie Wissensqualität und Diversität zusammenhängen

Über das Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft - Programmleiterin Eva Krick präsentiert Forschungsergebnisse auf Fachtagung in Brüssel

Autor/in:Eva Krick
Gezeichnete Köpfe im Profil, Vielfalt illustrierend.

Sollten wir mehr auf die Wissenschaft hören? Oder haben Expert*innen bereits viel zu viel Einfluss auf die Politik? Welche Rolle spielen wissenschaftliche Erkenntnisse in politischen Entscheidungsprozessen und wie lässt sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik aktiv gestalten?

Diese und andere Fragen diskutierten Politikwissenschaftler*innen und Vertreter*innen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Europäischen Union (EU) auf der Tagung „The organization of the science-policy-relationship – how does it matter?“, die am 2. und 3. Februar 2023 in Brüssel stattfand. Die Leiterin unserer Programmlinie Demokratie und Gesellschaft Dr. Eva Krick forscht seit Jahren zu diesen Themen und hat mit ihrem Paper „Navigating problem-solving and democratic legitimacy in policy advice processes“ zur Konferenz beigetragen.

Follow the science!

Auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik gibt es zwei sehr unterschiedliche Perspektiven:
Aus der einen Sicht ist es Aufgabe der Wissenschaft, die Politik aufzuklären („speaking truth to power“) und es ist die Pflicht der Politik, stärker auf die Wissenschaft zu hören. Diese Forderung wird besonders oft erhoben, wenn es sich um drängende, komplexe und technische Probleme handelt. „Evidence-based policy-making“ ist bereits seit den 1990er-Jahren ein zentraler Grundsatz der Regierungspolitik in Großbritannien (Parkhurst 2017; Smith 2013) und auch in Deutschland häufen sich in letzter Zeit Initiativen aus Politik und Wissenschaft, die eine „evidenzbasiertere Gesetzgebung“ etwa im Gesundheitsbereich oder in der Kriminalitätsprävention fordern. Politik, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut, so die Hoffnung, ermöglicht rationalere, informiertere Entscheidungen, die dem politischen Meinungsstreit und dem Kampf um Akzeptanz und Mehrheiten weitgehend enthoben sind.

Auch in der Klimapolitik scheint einiges für eine solche Evidenzbasierung zu sprechen. Wie keine zweite soziale Bewegung verbindet die Letzte Generation ihre Identität mit der Wissenschaft und baut die Legitimität ihrer Forderungen auf der Glaubwürdigkeit und Autorität wissenschaftlicher Erkenntnisse auf. „Listen to the science“, „follow the science“‘ und „unite behind the science“ sind häufig genutzte Slogans der Klimabewegung.

Democratise expertise!

Eine andere Perspektive auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik hinterfragt die „Expertisierung“ von Politik und erkundet Wege der „Demokratisierung“ von Wissensquellen (Fischer 2009, Jasanoff 2003). Sie kritisiert die Macht von demokratisch nicht-legitimierten Expert*innen als Technokratie und weist darauf hin, dass auch die Zuschreibung des Expertenstatus und die Anerkennung bestimmter Statements als „Evidenzen“ oder „Fakten“ durchaus gesellschaftliche Machtstrukturen widerspiegeln können. Aktuelle Debatten rund um „Wissensgerechtigkeit“ und „epistemische Ungerechtigkeiten“ machen darauf aufmerksam, dass bestimmte Stimmen in unseren Gesellschaften – unabhängig von Bildungsgrad und tatsächlichem Erfahrungsschatz des Sprechers – systematisch als kompetenter wahrgenommen werden (Fricker 2007; Medina 2012). Älteren, männlichen Personen mit bildungsbürgerlichem Habitus und ohne Migrationshintergrund wird in der Regel aufmerksamer zugehört und besonders viel Glauben geschenkt.

Am äußeren Rand der kritischen Perspektive auf die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik finden sich nicht zuletzt sogar gesellschaftliche Subgruppen, denen das Vertrauen in staatliche Institutionen grundsätzlich abhanden gekommen ist, und die wissenschaftlichen Erkenntnissen mit „alternativen Fakten“ begegnen.

Wie lässt sich die Abhängigkeit moderner Staaten von Expertise und der damit einhergehende Machtzugewinn von Expert*innen mit demokratischen Ansprüchen vereinbaren? Wie kann wissensbasierte, rationale Politik befördert und gleichzeitig verhindert werden, dass wir von Expert*innen regiert werden? Und wie wirken sich soziale Ungerechtigkeiten auf die Wissenproduktion aus?

Diversifizierung von Wissensquellen

Ein Weg, die Spannungen zwischen dem Gleichheitsprinzip der Demokratie und der elitären Logik spezialisierten Wissens zu reduzieren, liegt in der Diversifizierung von Wissensquellen. Dafür müsste grundsätzlich größerer Wert auf die disziplinäre und demographische Diversität von Expert*innen gelegt werden. Auch ist es sinnvoll, die Interaktion zwischen Wissenschaftler*innen und Nicht-Wissenschaftler*innen zu verstärken, indem Nicht-Wissenschaftler*innen etwa im Sinne der „partizipativen Forschung“ in die Analyse mit einbezogen werden und verschiedene Wissensformen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrungsexpertise und Stakeholderwissen, miteinander in Dialog gebracht werden.

Damit solche Versuche der Pluralisierung von Expertise nicht einfach bestehende Machtstrukturen reproduzieren, muss man sich allerdings klar machen, dass epistemische Ungerechtigkeiten von Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft ausgelöst werden, dass also viele Exklusionsdynamiken strukturelle Gründe haben: Weil beispielsweise im deutschen Schulsystem viel zu früh selektiert wird, schaffen es weniger Kinder mit Migrationshintergrund auf Gymnasien. Weil an Universitäten u.a. der bildungsbürgerliche Habitus und implizites (Herrschafts)wissen über die Funktionsweise des Wissenschaftssystems die Chancen auf eine dauerhafte Anstellung beeinflussen, gelingt in Deutschland überproportional vielen Oberschichtssprössen der Sprung auf die Professur (Möller et al. 2020). Der Frauenanteil unter den Professuren verbleibt in Deutschland mit etwa 25% auf äußerst niedrigem Niveau (Leopoldina 2022). Die soziale Selektivität des Wissenschaftssystems hat sich in den letzten Jahrzehnten sogar noch zugespitzt. Gerade in der neuen Statuskategorie der Juniorprofessor*innen findet sich ein verschwindend geringer Anteil sozialer Aufsteiger (Blome et al. 2019; Möller 2018). Die ausgeprägte Prekarität und der „radikal verschärfte Wettbewerb“ der wissenschaftlichen Arbeitswelt (Funken et al. 2015, 202) verringern die Chancen von Personen, die über weniger Ressourcen verfügen oder Care-Arbeit übernehmen, weiter.

Reform des Bildungs- und Wissenschaftssystems

Wenn die Diversität von Blickwinkeln erhöht werden soll, ist es daher ausgesprochen wichtig, den zunehmenden Exklusionstendenzen im Bildungs- und Forschungsbereich etwas entgegen zu setzen. Dabei geht es um nichts weniger als grundlegende Reformen zur Realisierung von Chancengleichheit, die im Bildungssystem ja zumindest teilweise bereits angegangen werden, deren Notwendigkeit im Bewusstsein vieler Wissenschaftler*innen und Wissenschaftsmanager*innen aber noch nicht angekommen ist. Ein selbstkritischer Reflexionsprozess, der sich die Erkenntnisse der Ungleichheits-, Inklusions- und Genderforschung zu Herzen nimmt und den weit verbreiteten Mythos vom „meritenbasierten“ Wissenschaftssystem hinterfragt, in dem sich eben der oder die Beste durchsetzt, müsste am Anfang stehen.

Klar ist: Eine aktivere Rekrutierungspolitik allein wird es nicht richten, denn Privilegien und strukturelle Benachteiligungen, etwa von Frauen oder Menschen mit Behinderung, wirken sich bereits früh auf Bildungs- und Erwerbsbiographien aus und befördern bestimmte gesellschaftliche Gruppen ganz systematisch ins Hintertreffen. Mit einem „interessanten“ – bzw. gebrochenen – Lebenslauf ist eine Etablierung im deutschen Wissenschaftssystem, das durch Reformen wie das Wissenschaftszeitvertragsgesetz von 2007 auf knallharten Wettbewerb getrimmt wurde, im Grunde nicht zu erreichen.


Bibliografie

Blome, Frerk/Möller, Christina/Böning, Anja. 2019. Open house? Class specific career opportunities in German Universities. Social Inclusion 7(1), 101-110.

Fischer, Frank. 2009. Democracy and expertise. Reorienting policy inquiry. Oxford University Press.

Fricker, Miranda. 2007. Epistemic injustice. Power and the ethics of knowing. Oxford University Press.

Funken, Christiane/Rogge, Jan-Christoph/Hörlin, Sinje. 2015. Vertrackte Karrieren.
Zum Wandel der Arbeitswelten in Wirtschaft und Wissenschaft. Campus.

Jasanoff, Sheila. 2003. (No) Accounting for expertise? Science and Public Policy 30(3), 157-162.

Leopoldina - Nationale Akademie der Wissenschaften. 2022. Stellungnahme: Frauen in der Wissenschaft. Entwicklungen und Empfehlungen.

Medina, Jose. 2012. The epistemology of resistance. Gender and racial oppression, epistemic injustice and resistant imaginations. Oxford University Press

Möller, Christina. 2018. Prekäre Wissenschaftskarrieren und die Illusion der Chancengleichheit, in: Laufenberg, Mike/Erlemann, Martina/Norkus, Maria/Petschick, Grit (Hrsg.): Prekäre Gleichstellung. Geschlechtergerechtigkeit, soziale Ungleichheit und unsichere Arbeitsverhältnisse in der Wissenschaft. Springer, 257-278.

Möller, Christina/Gamper, Markus/Reuter, Julia/Blome, Frerk.  2020. Vom Arbeiterkind zur Professur. Gesellschaftliche Relevanz, empirische Befunde und die Bedeutung biographischer Reflexionen, in: dies. (Hrsg.): Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen. transcript. 9-63.

Parkhurst, Justin. 2017. The politics of evidence. From evidence-based policy to the good governance of evidence. Routledge.

Smith, Katherine. 2013. Beyond evidence-based policy in public health. Palgrave Macmillan.

 

Blick in Konferenzsaal, Menschen am Tisch schauen in Bildschirm

Am 2. und 3. Februar 2023 fand die Tagung „The organization of the science-policy-relationship – how does it matter?“ in Brüssel statt.

© BKHS/Eva Krick

Gezeichnete Köpfe im Profil, Vielfalt illustrierend.

Ein Weg, Spannungen zu reduzieren, wäre, größeren Wert auf die disziplinäre und demographische Diversität von Expert*innen zu legen.

© Annaspoka

Protestierende auf einer Demonstration mit Plakaten.

Protestmarsch in Washington DC für Wissenschaftsfinanzierung und wissenschaftliche Analysen in der Politik.

© Vlad Tchompalov/Unsplash

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