Liebe Leser*innen,
die überraschende Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten am Mittwoch wäre schon Grund genug, dass der 6. November 2024 als denkwürdig in die Geschichte eingeht. Doch am gleichen Tag folgte in Berlin das Ende der Ampelkoalition – mit einem wahren Wumms: Bundeskanzler Olaf Scholz trat vor die Presse und erklärte das Ende der Zusammenarbeit. Der FDP als Koalitionspartnerin fehle es an Bereitschaft, zum Wohle des Landes zu handeln. Mehrfach habe Christian Lindner sein Vertrauen gebrochen. Deshalb bat Scholz den Bundespräsidenten, den Finanzminister zu entlassen.
Deutliche Worte, die an die Rede von Helmut Schmidt im Bundestag am 17. September 1982 erinnern. Wie vor 42 Jahren schon einmal die Regierungskoalition an unüberbrückbaren Differenzen zwischen der SPD und der FDP zerbrach, schildert unser Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer Dr. Meik Woyke in einer aktuellen Sonderausgabe unseres Schmidtletters.
Eine spannende Lektüre wünscht Ihre
Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Bonn, im Deutschen Bundestag am 17. September 1982: Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) erklärt die gemeinsame Regierungszeit mit der FDP in einer geschliffenen Rede für beendet. Den Sozialdemokraten sei die Festigkeit der Demokratie wichtiger als taktische Vorteile zugunsten der eigenen Partei. Es gehe um die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik. Die vier FDP-Minister kamen ihrer Entlassung aus dem Kabinett offenbar durch einen Rücktritt knapp zuvor.
Dass die sozial-liberale Koalition auseinanderbrach, sollte nicht allein mit Verweis auf das zunehmend angespannte Verhältnis zwischen SPD und FDP erklärt werden. Auch in seiner eigenen Partei traf Schmidt auf eine ganze Reihe von Konfliktpunkten, insbesondere der von ihm herbeigeführte NATO-Doppelbeschluss sorgte für Dissens, vor allem mit dem linken SPD-Flügel.
Zunehmende Distanz der Koalitionspartner in der Wirtschafts- und Sozialpolitik
Allerdings kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die FDP in den letzten beiden Jahren merklich von ihrem Koalitionspartner distanziert hatte. Wegen der schlechten ökonomischen Rahmenbedingungen und der angespannten Haushaltslage wurde die Suche nach Kompromissen in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik immer mühsamer. Die SPD war keynesianisch orientiert und den Gewerkschaften verpflichtet, während die FDP verstärkt neoliberal argumentierte und die Interessen der Wirtschaftsverbände vertrat. Helmut Schmidt setzte als Kanzler auf die Konsolidierung der Staatsausgaben bei gleichzeitiger Investitionsförderung. Er verfolgte einen mittleren Weg und hielt nichts davon, den Sozialstaat kaputtzusparen. Demgegenüber forderten die an Einfluss gewinnenden Wirtschaftsliberalen innerhalb der FDP die Wiedereinführung von Karenztagen für Arbeitnehmer im Krankheitsfall und die Senkung des Arbeitslosengelds. Im Jahr 1981 boten die Koalitionsparteien ein monatelanges, von den Medien dankbar aufgenommenes Sommertheater über Verteilungsfragen.
Den sogenannten Wendebrief vom 20. August 1981 richtete der Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher (FDP) formal an die Führungsriege seiner Partei, tatsächlich war das Schreiben jedoch für die Öffentlichkeit bestimmt. Aus der Sicht des FDP-Politikers stand die Bundesrepublik an einem Scheideweg. Eine Anspruchsmentalität der SPD bei den Haushaltsverhandlungen müsse gebrochen, Selbstverantwortung hingegen gefördert werden. Eine Wende sei notwendig, mithin: der Rückbau des Sozialstaats.
Schmidts Vertrauensfrage und Lambsdorffs „Scheidungsbrief“
Auch wenn der innerparteiliche Rückhalt von Helmut Schmidt schwand und die Machtbasis seiner Kanzlerschaft erodierte, gelang es ihm, am 5. Februar 1982 mithilfe der Vertrauensfrage ein weiteres Programm zur Beschäftigungspolitik für Wachstum und Stabilität im Bundestag durchzusetzen. Innerhalb der SPD wurde das Gesetzespaket jedoch als sozial unausgewogen kritisiert. Auf dem Parteitag 1982 in München stellten Delegierte viel weitergehende Forderungen, die Schmidt – womöglich als Kompromiss für die hart erkämpfte Unterstützung in der Sicherheitspolitik – akzeptierte und die in erster Linie besser Situierte trafen, unter anderem die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und der Gewerbesteuer sowie die Verschärfung der Bodengewinnbesteuerung. Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) charakterisierte dieses Parteitagsvotum als „Gruselkatalog sozialistischer Marterwerkzeuge“, sein späterer Amtsnachfolger Jürgen W. Möllemann qualifizierte es als „Job-Killer“-Beschlüsse“ ab.
Obwohl die FDP seit mehr als einem Jahrzehnt an der Regierung beteiligt war und seit 1972 durchgehend den Wirtschaftsminister gestellt hatte, äußerte sie zunehmend öffentlich Kritik an wirtschafts-, sozial- und finanzpolitischen Entscheidungen. In der Kabinettssitzung am 1. September 1982 wurde Graf Lambsdorff von Schmidt gerügt, weil er in einem Interview für die Bild-Zeitung die bevorstehende Landtagswahl in Hessen zum Plebiszit über das Fortbestehen der sozial-liberalen Koalition in Bonn stilisiert hatte. Außerdem forderte ihn der Kanzler auf, seine Vorstellungen für eine Neuordnung der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik schriftlich zu fixieren.
Das am 9. September vorgelegte Lambsdorff-Memorandum trug den Titel „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ und las sich als Manifest des Wirtschaftsliberalismus. Mehr Markt und eigenständige Selbstvorsorge, weniger Staat und Bürokratie – so ließ sich der für die SPD provozierende Inhalt zusammenfassen. Im Vordergrund standen unternehmerfreundliche Maßnahmen wie Steuersenkungen, Investitionsanreize und die „weitergehende Liberalisierung“ des Mietrechts.
Diese Forderungen waren politisch nicht durchsetzbar, es dominierte vielmehr die strategische Intention des Papiers, die Zweckgemeinschaft mit der SPD mithilfe vorgeblich sachlicher Argumente aufzukündigen. Selbst die CDU sah das Lambsdorff-Papier kritisch, speziell deren Arbeitnehmerflügel. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Kurt Biedenkopf nannte es dezidiert „keine Gründungsurkunde für neue Mehrheiten“, und der bei der Bundestagswahl 1980 gegen Schmidt gescheiterte bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) verstand es als wahltaktisches Manöver mit Alibi-Funktion.
In der Tat fasste die Sozialdemokratie das Lambsdorff-Memorandum als Scheidungsbrief auf. Helmut Schmidt bezeichnete das Papier als wirtschaftspolitisch vollkommen unzureichend, da es keinerlei Perspektive für die dringend gebotene Bekämpfung der Arbeitslosigkeit böte. Die FDP übe Verrat an bisherigen gemeinsamen Positionen und kündige den sozialen Konsens auf. Jetzt agierte der Kanzler eindeutig als Sozialdemokrat. Er gab seine regierungsinternen Vermittlungsversuche auf und machte klar, dass nach seiner Interpretation die FDP die Verantwortung für das Scheitern der sozial-liberalen Koalition trage.
Das konstruktive Misstrauensvotum
Zudem verdichteten sich die Hinweise, dass Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff die Haushaltsverhandlungen für das Jahr 1983 nutzen wollten, um die sozial-liberale Regierung zu verlassen. Auch Altbundespräsident Walter Scheel drängte erneut auf einen Koalitionswechsel. Noch im Jahr 1980 hatten die Liberalen ihren Bundestagswahlkampf mit dem Slogan geführt „Strauß verhindern – Schmidt unterstützen – Genscher wählen“. Daher warf der Bundeskanzler in seinem Bericht zur Lage der Nation am 9. September 1982, dem Tag der Veröffentlichung des Lambsdorff-Memorandums, der FDP unverblümt Wortbruch vor. Zudem appellierte Schmidt an den Koalitionspartner, gleichfalls mit offenem Visier zu kämpfen und zusammen mit dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Helmut Kohl ein konstruktives Misstrauensvotum gegen ihn auf den Weg zu bringen. Darauf sollten umgehend Neuwahlen folgen. Auf diese Weise machte sich der Bundeskanzler die mangelnde Popularität der FDP zunutze; sie lag bei Wahlumfragen mittlerweile unter drei Prozent. Das Ende der sozial-liberalen Koalition wurde von Schmidt geschickt inszeniert.
Die Bundestagssitzung am 1. Oktober 1982 gehört zu den historischen Stunden des Parlaments. An diesem Tag brachte die CDU/CSU zusammen mit der FDP ein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 des Grundgesetzes ein. Die FDP stand vor einer Zerreißprobe, eine starke sozialliberale Minderheit um Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Brücher lehnte den Koalitionswechsel entschieden ab. Helmut Kohl erhielt bei seiner Wahl zum Bundeskanzler 23 Stimmen weniger als rechnerisch angesichts der neuen Regierungskoalition möglich gewesen wäre. Mehrere FDP-Abgeordnete, namentlich der bisherige Generalsekretär Günter Verheugen, Ingrid Matthäus-Maier, Andreas von Schoeler und Helga Schuchardt, fanden danach den Weg zur SPD.
Insgesamt 13 Jahre lang hatten die SPD und die FDP erfolgreich eine Regierungs- und Programmkoalition geführt. Auffallend ist über weite Strecken der Legislaturperioden von 1969 bis 1982 die ausgeprägte Bereitschaft zum Dialog, um Konflikte und Krisensituationen auf kommunikativem Weg zu entschärfen, sodass ein politischer Kompromiss gefunden werden konnte. Inhaltliche Auseinandersetzungen, so das Bestreben, wurden möglichst geräuscharm, also jenseits der Medien und der weiteren Öffentlichkeit geführt. Dies gelang jedoch nicht immer, und gegen Ende des Regierungsbündnisses nahmen die Durchstechereien an die Presse und die Indiskretionen gravierend zu. Mitunter kam es überdies zu persönlichen Verletzungen. Letztlich blieb somit auch die sozial-liberale Koalition ein Zweckbündnis auf Zeit, das gemeinsame Reformprojekte in die Tat umsetzte, bis ihre politischen Differenzen überhandnahmen und eine Fortsetzung der Regierungsallianz nicht sinnvoll erscheinen ließen.