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Die „Schlacht um Brokdorf“ war auch ein Kampf um demokratische Grundrechte

Vor 40 Jahren: Mit seiner Atompolitik wird Helmut Schmidt zum Feindbild der Protestbewegung

Autor/in:Merle Strunk
Eine Menschenmasse läuft umgeben von kahlem Land über einen Weg.

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Stacheldraht abgesperrte Bauplätze, Polizeieinheiten in Kampfmontur, Wasserwerfer und Hubschrauber im Einsatz gegen Demonstrierende auf der einen Seite und teils gewaltbereite Protestierende, ihrerseits behelmt und bewaffnet auf der anderen Seite. Die Bilder erinnern an die „Schlacht um Brokdorf“, die vor 40 Jahren am Bauzaun des Atomkraftwerks an der Unterlebe ausgetragen wurde. Doch in der Auseinandersetzung ging es nicht allein um Fragen der Energiepolitik, sondern vor allem auch um demokratische Grundrechte. Im Mittelpunkt des Konflikts stand der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, der zum Feindbild der Protestbewegung wurde.

Die historischen Konflikte auch innerhalb seiner Partei zeichnet die neue Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ in der Hamburger Innenstadt nach. Sie wird eröffnet, sobald es die Entwicklung der Corona-Pandemie zulässt. Einen ersten Eindruck von den Konfliktlinien der Kanzlerschaft vermittelt unser aktueller Schmidtletter.

Es grüßt Sie herzlich
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

„Das Recht, sich ungehindert [...] zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers.“ Dieser Satz ist in den vergangenen Monaten wieder häufig zu lesen, wenn über das Für und Wider von Demonstrationen in Pandemie-Zeiten gestritten wird. Er stammt aus dem sogenannten Brokdorf-Beschluss, einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1985: Darin erklärt es ein Verbot einer Großdemonstration am Bauplatz des Atomkraftwerks (AKW) Brokdorf nachträglich für verfassungswidrig und hebt damit eine Entscheidung des Gemeinsamen Oberverwaltungsgerichts (OVG) für die Länder Niedersachen und Schleswig-Holstein auf. Als das OVG am Vorabend der geplanten Proteste diese Entscheidung verkündet, sind jedoch bereits Zehntausende auf dem Weg in die Elbmarsch. Schließlich demonstrierten 100.000 Menschen am 28. Februar 1981 bei winterlichen Temperaturen und massivem Polizeiaufgebot gegen das geplante Kraftwerk an der Unterelbe – und gegen die Atompolitik von Kanzler Helmut Schmidt. Dieser fordert zuvor in einer Fernsehansprache auf, sich nicht an den Protest-Aktionen zu beteiligen. Dass das Versammlungsverbot später als unrechtmäßig erklärt und damit auch das Vorgehen Schmidts abgestraft wird, ist für die Anti-AKW-Bewegung jedoch nur ein Pyrrhussieg: Trotz ihres zähen Widerstands wird das Kraftwerk im Oktober 1986 in Betrieb genommen.

Kernenergie und Demokratie

Die viele Jahre auf den Straßen und vor Gerichten ausgetragene „Schlacht um Brokdorf“ findet damit vielleicht ein vorübergehendes Ende, vergessen ist sie jedoch keineswegs: Brokdorf wird – wie Gorleben, Wackersdorf und andere Orte des Protests gegen Kernkraftwerke oder Endlager – zu einem Symbol, dessen Bedeutung weit über die Auseinandersetzung mit Risikofaktoren für Mensch und Umwelt hinausreicht. Der Brokdorf-Beschluss lenkt den Blick auf einen Aspekt der deutschen Anti-AKW-Bewegung, dem viele Akteur_innen damals ebenso viel Beachtung schenken wie der Gefahr der radioaktiven Strahlung. Ein Aspekt, der in der historischen Rückschau jedoch – besonders unter dem Eindruck des bisher letzten großen Reaktorunfalls 2011 im japanischen Fukushima – häufig verblasst: die möglichen Auswirkungen der Kernenergie auf die rechtsstaatliche und demokratische Ordnung. Diese neue Dimension trägt in den 1970er-Jahren entscheidend dazu bei, dass sich die ohnehin höchst kontrovers geführte Debatte weiter verschärft.

Angst vor dem „Atomstaat“

Der Publizist und Zukunftsforscher Robert Jungk prägt in diesem Zusammenhang mit seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1977 den Begriff des „Atomstaats“. Nach Jungk führen die massiven staatlichen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Nukleartechnologien zur Überwachung der Bevölkerung und Aushebelung der Grundrechte.

Aus Sicht der Anti-AKW-Bewegung scheinen sich diese Befürchtungen zu bestätigen: Bereits der Bau des AKWs Brokdorf 1976 beginnt in einer nächtlichen Aktion mit großem Polizeisatz. Auch die Auseinandersetzungen der darauffolgenden Jahre scheinen die These vom „Atomstaat“ zu unterstützen: mit Stacheldraht abgesperrte Bauplätze, Polizeieinheiten in Kampfmontur, Wasserwerfer und Hubschrauber im Einsatz gegen Demonstrierende – und gleichzeitig zum Teil gewaltbereite Protestierende, ihrerseits behelmt und bewaffnet. Der staatliche Einsatz von Gewalt und Drohgebären, insbesondere gegenüber Aktivist_innen im gewaltfreien Widerstand, führt zu einer Verschärfung des Konflikts. Die Anti-AKW-Bewegung erhält daraufhin noch größeren Zulauf, viele Menschen werden politisiert, werden für Fragen demokratischer Grundrechte sensibilisiert. Mit der Abschaffung der Kernenergie teilt diese vielschichtige Bewegung ein gemeinsames Ziel – und mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, der bis zuletzt die Kernkraft verteidigt, auch ein gemeinsames Feindbild.

Die SPD und die Kernenergie

Besonders unter dem Eindruck der Ölpreiskrisen vertritt Schmidt den Ansatz energiepolitischer „Risikostreuung“: Auch die heimische Kohle, aber vor allem die Kernkraft müssten eingesetzt werden, um den stetig wachsenden Energiebedarf der Bundesrepublik zu decken. Dabei prophezeit Schmidt 1979 sogar die Zukunft der E-Mobilität als ein Argument für Kernkraft: „Im Jahre 2010 werden wir kein Öl mehr haben. Dann werden alle Autos mit Batterien fahren. Dazu brauchen wir Atomkraftwerke, damit wir die Batterien aus der Steckdose aufladen können“, zitiert ihn der Spiegel im Juni 1979 unter der Überschrift „Kernenergie: Der Kanzler geht aufs Ganze“.

Für Schmidt wird die Kernenergiedebatte mit zu viel Emotionalität geführt. In einer Rede auf dem Evangelischen Kirchentag 1979 etwa wirft der Bundeskanzler den Kritiker_innen vor, ihre „Lebensangst“ auf die Kernkraft zu übertragen. Häufig zeichnet er dieses Bild: eine irrational argumentierende Anti-AKW-Bewegung versus eine auf Basis objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse handelnde Regierung. Obwohl die Kompetenz über die Errichtung von Atomkraftwerken zu dieser Zeit bei den Bundesländern liegt und sich der Unmut der AKW-Kritiker_innen daher oft gegen die verantwortlichen Landesregierungen richtet, im Fall Brokdorf gegen den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg (CDU), zieht Schmidt besonders mit einer solchen Rhetorik die Wut der Aktivist_innen auf sich.

Auch innerparteilich hat das Thema Sprengkraft: Atomkraft als saubere Zukunftstechnologie und die Vision, „daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann“, wie es noch im „Godesberger Programm“ von 1959 heißt, kann die SPD ihren Mitgliedern immer schwerer glaubhaft machen. Mehrere Landesverbände verlassen im Laufe der Brokdorf-Kontroverse die Linie der Bundespartei. In Hamburg erklärt der Erste Bürgermeister Hans-Ulrich Klose seinen Rücktritt, er möchte Schmidts Kurs nicht folgen. Dieser hingegen steht zu seiner Entscheidung, knüpfte gar seine Kanzlerschaft an den Rückhalt zu seiner Atompolitik. Den innerparteilichen Richtungswechsel im Zusammenhang mit der wachsenden Anti-AKW-Bewegung bezeichnet er als „opportunistisch“.

Ein später Sieg

Als Schmidt Anfang Oktober 1982 das Kanzleramt verliert, ist die letzte Schlacht um Brokdorf noch nicht geschlagen: Durch den Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sehen sich drei Jahre später viele Aktivist_innen in ihrer Ansicht bestärkt, dass die Atompolitik nur gegen wichtige Grundrechte durchgesetzt werden könne. Auch später nach der Inbetriebnahme gibt es immer wieder Klagen und Mahnwachen. Die Anti-Atomkraft-Bewegung kommt in der Bundesrepublik nie ganz zum Erliegen. Nur so lassen sich nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 in kürzester Zeit viele Menschen mobilisieren, um gegen die im Jahr zuvor beschlossenen Laufzeitverlängerungen auf die Straße zu gehen. Viele der Demonstrierenden haben die Auseinandersetzungen der 1970er- und 1980er-Jahre nicht selbst erlebt. Doch sie können auf Rhetorik und Infrastruktur einer Bewegung zurückgreifen, die inzwischen Teil der politischen Kultur geworden sind.

Noch im selben Jahr beschließt die Bundesregierung den diesmal wohl endgültigen Atomausstieg. Dieser Erfolg der Anti-AKW-Bewegung geht auch auf die Brokdorfer Demonstrierenden zurück, die 1981 Zeichen gesetzt haben: nicht nur gegen die Kernkraft, sondern auch für demokratische Grundrechte einer sich im Laufe der Jahrzehnte herausbildenden Zivilgesellschaft. So bleiben, wenn das AKW Brokdorf 2022 abgeschaltet wird, mehr als radioaktive Abfälle und schmerzhafte Erinnerungen: Brokdorf ist auch zu einem Ort der Demokratiegeschichte geworden.

Eine Menschenmasse läuft umgeben von kahlem Land über einen Weg.

Bis zu 100.000 Menschen aus der ganzen Bundesrepublik ziehen am 28. Februar 1981 Richtung Brokdorf, um gegen den Bau des AKWs zu demonstrieren. © Günter Zint

Demonstrierende stehen vor einem durch Zaun und Stacheldraht abgetrennten Gebiet, das mit Zaun und Stacheldraht abgetrennten Baugebiet, von dem zwei Maschinen große Wasserstrahlen auf die Demonstrierenden zielen.

Um eine „Erstürmung“ des Bauplatzes zu verhindern, setzt die Polizei Wasserwerfer ein – auch gegen friedliche Aktivist_innen. © Günter Zint

Zahlreiche Polizisten mit Schutzhelmen und Schutzschildern stehen oder laufen auf einem großen Platz.

Etwa 10.000 Beamte sind an dem Tag vor Ort. Die große Polizeipräsenz wird von vielen AKW-Gegner_innen als Beleg für den deutschen „Atomstaat“ verstanden. © Günter Zint

Autorin: Merle Strunk, M.A.

Referentin für Bildung und Vermittlung

Merle Strunk, M.A., ist Historikerin mit dem Schwerpunkt der Wissensvermittlung in Museen. Sie war in verschiedenen Einrichtungen an Ausstellungs- und Publikationsprojekten beteiligt, darunter im Museum der Arbeit. Als Geschichtsvermittlerin beschäftigt sie sich in der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung damit, Brücken zwischen historischen Ereignissen und der Gegenwart zu schlagen. Daneben arbeitet sie zu Fragen der Visual und Public History.

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