Die Zäsur in der russischen Politik und Kultur

Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat die Unterdrückung von Kritiker*innen und Andersdenkenden durch die russischen Behörden extreme Ausmaße angenommen. Jede Form von Protest wird unterdrückt und diejenigen, die es wagen, sich gegen den Krieg auszusprechen, müssen mit jahrelangen Haftstrafen rechnen. Dieses harte Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit umfasst auch Angriffe auf den russischen Kultursektor. Vor diesem Hintergrund haben wir Viktor Jerofejew, einen der bekanntesten regimekritischen Schriftsteller Russlands und Wladimir Putin-Kritiker, der vor kurzem nach Deutschland ausgereist ist, gebeten, über das Ausmaß der Attacken auf die Kultur zu schreiben und darüber, was mit denjenigen geschieht, die es noch wagen, ihre Meinung zu äußern. Er erklärt: „Wenn es zu Kriegsgesetzen kommt, dann geht es den Mächtigen beim Thema Meinungsvielfalt nur noch um deren Beseitigung.“

Autor: Viktor Erofeyew

Wir alle haben schon von den Napoleonischen Kriegen gehört, die nach dem französischen Kaiser benannt sind. Jetzt werden wir über Wladimir Putins Krieg sprechen, schlicht und einfach, weil es keinen anderen Begriff dafür gibt. Putin wird als der russische Oberbefehlshaber in die Weltgeschichte eingehen, der ohne ersichtlichen Grund die Ukraine angegriffen und dort einen umfassenden Krieg voller blutiger Schlachten und Paradoxa auslöste.

Das erste Paradoxon besteht darin, dass Putin seinen Untertanen verbietet, den Krieg im Zentrum Europas als solchen zu bezeichnen und stattdessen anordnete, ihn etwas lapidar als „militärische Sonderoperation“ zu deklarieren. Die wenigen Wagemutigen in Russland, die sich erdreisten, ihn Krieg zu nennen, sind allen möglichen Repressionen ausgesetzt. George Orwell war bekanntlich der sarkastische Meister totalitärer Fantasien, aber selbst er wäre an einer solchen Umkehrung der Realität gescheitert. Urteilen Sie selbst. Nach Angaben des russischen Staatsfernsehens ist die Zerstörung von Mariupol das Werk der ukrainischen Armee. Und noch absurder ist die Darstellung von Butscha. Denselben Sendern zufolge handelt es sich um eine Theaterinszenierung, bei der die Leichen ukrainischer (von ukrainischen Soldaten selbst getöteten) Zivilist*innen auf den Straßen verteilt wurden, wahrscheinlich insgeheim arrangiert von westlichen Regisseuren. Wenn dies der Fall ist, dann sind diese Regisseure einfach Genies. Aber glaubt das russische Volk diese Geschichten? Und hier haben wir das nächste Paradoxon: Die große Mehrheit des russischen Volkes vertraut Putin und allem, was auf seinen Befehl hin geschieht. Im Grunde genommen ist Putin der erste Präsident des Volks in der Geschichte Russlands. Die vulgär-emotionale Rhetorik des einstigen Straßenkinds aus einer unterprivilegierten Leningrader Familie macht ihn zu „einem der ihren“.

Nach Putins ursprünglichem Plan sollte der Krieg in wenigen Tagen beendet sein und mit der Einnahme von Kiew und der Ersetzung der ukrainischen Regierung durch pro-russische Marionetten enden. Und auch hier stoßen wir auf ein Paradoxon. Verglichen mit der russischen Kampfkraft war die ukrainische Armee zwar schwach, aber hoch motiviert, und es gelang ihr, Kiew zu verteidigen. Die Russen zogen sich zurück. Warum? Schlichtweg, weil die Sicherheitsbeamten des Kremls Putin berichtet hatten, was er hören wollte: Die Russen würden in der Ukraine mit Girlanden begrüßt werden. Zu Beginn des Krieges tauchten sogar Blumen in einer inszenierten Fernsehberichterstattung auf, die aber schnell wieder verschwanden. Der Krieg zieht sich in die Länge. Paradoxerweise teilt Putin der Öffentlichkeit jetzt mit, dass der Krieg (soll heißen, die militärische Sonderoperation) nach Plan verläuft. Das muss ein äußerst ausgeklügelter Plan sein! Offenbar beinhaltet er den geplanten Tod von acht russischen Generälen und die zuvor vereinbarte Weigerung, die Leichen einer beträchtlichen Anzahl von Toten nach Russland zurückzubringen – sie füllen weiterhin ukrainische Kühlwaggons. Lohnt es sich überhaupt, sie zurückzubringen? Denn wenn zugegeben würde, dass sie im Kampf gefallen sind, müsste der Staat jeder Familie sieben Millionen Rubel auszahlen – andernfalls gelten sie einfach als vermisst und eine Auszahlung ist nicht erforderlich.

Sie werden rufen: „Das ist Unsinn! Putin ist wahnsinnig geworden!“

Warum hat Wladimir Putin schließlich einen Krieg gegen die Ukraine angezettelt? Er war überzeugt, dass, wenn er es nicht täte, die Ukraine mit Unterstützung der NATO Russland angreifen würde. Wie kam er auf diese Idee? Darauf gibt es zwei unterschiedliche Antworten. Bei der ersten handelt es sich um eine Hinterlist. Putin sieht seine göttliche Bestimmung darin, die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion und damit Russlands Status als Supermacht wiederherzustellen, bevor er sich mit Amerika an den Verhandlungstisch setzt und die Welt aufteilt. Kurzum: Jalta 2.0. Darum erklärt er die „Entnazifizierung“ der Ukraine zum Ziel des Krieges, obwohl kein einziger hochrangiger Neonazi benannt worden ist. Dem Kreml zufolge ist Präsident Selenskyj ein Clown, der von (namenlosen) Neonazis umgeben ist und diese Neonazis werden von Europa und Amerika unterstützt, die ebenfalls zu Neonazis geworden sind. Sie werden fragen: Wie kann das sein? Die Antwort ist ganz einfach: Alle sind zu Neonazis geworden, weil jede*r Russland hasst und russophob geworden ist (weil Russland unter Putin wieder auferstanden ist und stark wächst!) und die natürlichen Ressourcen Russlands unter sich aufteilen will. „Das ist Unsinn! Putin ist wahnsinnig geworden!“, werden Sie rufen. Und Putin antwortet: „Es ist Europa, das verrückt geworden ist.“

Der zweite Grund für den ungeheuerlich blutigen Krieg ist Putins Befürchtung, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen wird und eine Bedrohung für Russland darstellt. Denn NATO-Raketen, die aus der Region Charkiw gestartet werden, würden Moskau in wenigen Minuten erreichen. Das Paradoxe ist allerdings, dass sich die beiden traditionell neutralen, aber durch Putins barbarischen Krieg zutiefst beunruhigten Länder Schweden und Finnland, an die NATO gewandt haben, um in ihren Club aufgenommen zu werden. Dies dürfte nicht unerwartet gekommen sein und wenn Kiew sofort eingenommen worden wäre, hätte es wahrscheinlich keinen Aufschrei gegeben. Doch das ist nicht mehr der Fall. Und da Putin, wie er behauptet, einen Langzeitplan hat, war es verhängnisvoll naiv von ihm, den NATO-Beitrittswunsch der nordischen Länder nicht zu berücksichtigen. Was die neue geteilte Außengrenze zwischen der NATO und Russland betrifft, so erstreckt sich die finnisch-russische Grenze über eine Länge von 1.300 Kilometer, von der im Winter in einem gemütlichen Skilanglaufausflug Sankt Petersburg erreicht werden kann.

Zusammengefasst: Ein Paradoxon nach dem anderen und wenn der Krieg sich hinzieht, wird (selbst) die Schweiz beschließen der NATO beizutreten. Doch das größte Paradoxon ist, dass Putins Krieg kein gutes Ende nehmen wird. Putin hat sich diesen Krieg ausgedacht, er trägt praktisch die alleinige Verantwortung dafür und wenn er gewinnt, wird er noch weiter gehen wollen. Und wohin? Nun, zum Beispiel nach Kasachstan. Oder er wird beschließen, Polen zu „entnazifizieren“ – entsprechende Rufe sind im Kreml bereits zu hören. Aber Polen ist doch ein NATO-Land! Was soll's? Putin ist Risiken nicht abgeneigt. Schließlich sind Ukrainer*innen für Putin mit Russ*innen gleichzusetzen, aber er scheut sich nicht, sie zu vernichten und sie von den in seinem Kopf herumspukenden Neonazis zu befreien. Wenn Putin gewinnt, wird die Kriegspartei in Russland die gesamte fünfte Kolonne vernichten – alle, die gegen Putins Meinung sind. Wenn Putin den Krieg verliert – nein, Putin kann überhaupt nicht verlieren. Sieg ist das wichtigste Wort in seinem Wortschatz. Aber wenn er das Gefühl hat, dass etwas schiefläuft, zaubert er eine winzig kleine Atombombe aus seiner Hosentasche und wirft sie irgendwo in der Ukraine ab.

Dann werden natürlich alle Angst haben und was dann? Vielleicht ist das der Punkt, an dem die Schweiz den NATO-Betritt für notwendig hält und Putin von den Amerikaner*innen Jalta 2.0 bekommt. Oder aber, die Amerikaner*innen huschen zu Putin in seinen Bunker, um ein letztes persönliches Gespräch mit ihm zu führen und ihn als den neuen Gaddafi zu präsentieren, den Putin einst so bedauerte. Sie werden sich fragen, ob es nicht auch ein optimistischeres Szenario gibt? Nun, diese Frage kann nur einem Akteur gestellt werden, der derzeit eine pro-russische Neutralität wahrt und den Putin ernst nimmt. Dieser Akteur heißt China. Aber bisher hat China geschwiegen.

Was wird mit denjenigen passieren, die wagen, den Krieg zu kritisieren?

Die Verfolger der russischen Kultur schweigen nicht. Auf der Suche nach Feind*innen, wurden sie tief im kulturellen Milieu fündig: Der Schlag gegen die besten Theater Moskaus ist daher die natürliche Fortsetzung der militärischen Sonderoperation. Dabei zielten sie nicht nur auf die ideologische Ausrichtung der Theaterdirektor*innen ab, sondern auch auf ihre Visionen zukünftiger Produktionen. Hinter der mir so vertrauten Maske, erfolgte die Bestrafung durch Nichtverlängerung von Verträgen – ein massiver Angriff aus Hass, Angst und Feigheit. Es gibt reale Opfer. Zu ihnen gehört in erster Linie das Gogol Zentrum. Es wurde von Kirill Serebrennikow gegründet, doch das Moskauer Kulturministerium hatte es in Gogol-Theater umbenannt, eine Bezeichnung, die an seine Vergangenheit erinnert.

Was wird mit den Aufführungen und Schauspieler*innen des Gogol Zentrum geschehen, die sich trauen, ihre eigene (von der offiziellen abweichende) Meinung über den Krieg gegen die Ukraine zu präsentieren? Was wird verboten? Wer wird ausgeschlossen? Das Ausmaß des behördlichen Angriffs auf die Kultur ist bereits mit dem Putsch der Bolschewiki vergleichbar. Vielleicht übertreffen sie die unvergessliche Verfolgung von Staatsfeinen. Damals dachten sie sich die Kategorie der prosowjetischen „Weggenossen” aus – während heute nicht nur bloße Loyalität, sondern eine kriecherische Hingabe gefragt ist. Ein besonders entsetzlich vom Angriff Getroffener war Iosif Raikhelgauz, der langjährige Direktor der School of Modern Play Theatre an der Trubnaya. Die Moskauer Theaterwelt kennt Iosif als erfinderischen Meister der Bühnenkunst, der sein Leben den kreativen Künsten gewidmet hat. Man muss schon ein wirklich aggressiver Ignorant sein, um die Hand gegen einen solchen Meister zu erheben. Und letztlich das legendäre Sovremennik: Sich in die kreativen Belange eines solchen Theaters einzumischen, ist eine unverzeihliche Missetat. 

Wer hat diese verheerenden Entscheidungen getroffen – eine Beleidigung und Erniedrigung der Kultur, die an die dunklen Zeiten des Zarismus und Kommunismus erinnert – und warum? Es gibt verschiedene Vermutungen.
Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Probe für das große Spektakel namens The Successor (deutsch: Der Nachfolger). Die Repressionen gegen das gesamte liberale Lager, einschließlich der erwähnten Theater, sind Ausdruck des offenkundigen Bestrebens der Sicherheitskräfte, eine erneute Tauwetter-Periode zu verhindern, die sie vermutlich nicht verschonen würde. Die Kriegspartei sieht in der Kultur eine Bruchstelle im ohnehin instabilen Frieden, die zu einem Proteststurm werden könnte. Nach Auffassung der Tschekisten soll der Nachfolger X, der aus rein biologischen Gründen eines Tages in Erscheinung treten wird, die Politik der „belagerten Festung“ fortsetzen. Theater, wenn es echtes Theater ist, ist eine offene Plattform, die in ihrem Wesen nach Dialog strebt. In unserem Land lehnt die Kultur traditionell die Gesetzlosigkeit und Straffreiheit der Oberschicht ab. Sie kann gebrochen oder gekauft werden, aber dann hört sie auf, Kultur zu sein.

Die Zensur verkleidet sich als allerlei formale Einwände

Die Theater gerieten auch wegen einer reinen Formalität unter Beschuss, weil sie die Kriegsgesetze nicht einhielten. Seit über hundert Tagen herrscht offiziell kein Krieg und die Kriegsgesetze werden immer strenger. Noch verkleidet sich die Zensur als allerlei formale Einwände, um Ausstellungen oder Theater zu schließen. Doch schon bald wird es möglich sein, mit Gesetzesübertretungen zu argumentieren. Der Wunsch, sich bei dem Präsidenten beliebt zu machen, der vorschlägt, Lieder über seine tapferen Befreier zu komponieren, wird immer größer. Die Geschichte des Landes hat sich in ein Karussell verwandelt.

Doch neben der Vernichtung gibt es auch eine Anwerbungsmethode – unter den Eliten gibt es viele Profis in diesem Geschäft. Dies stellt berühmte Personen vor eine unerträgliche Wahl: ihren Posten zu verlassen, ihr Lebenswerk aufzugeben oder zu kollaborieren. Das ist eine Form der Folter: essenziell sadistische Folter. Die Direktoren der oben genannten Theater haben das Angebot offenbar abgelehnt – und sie wurden bestraft, auch wenn es zu einer sanften Annäherung kommen könnte oder sich diese gar bereits anbahnt. So wurde beispielsweise Dmitry Astrakhan, ein recht bekannter Regisseur, der offensichtlich nicht vom Krieg begeistert ist, zum Nachfolger von Raihelgauz ernannt. Aber wir werden sehen, was mit ihm geschehen wird und ob es (wenn überhaupt) ein berufsethisches Versagen gegeben hat. Zu Sowjetzeiten wurde ein ebenso talentierter Regisseur, Anatoli Efros, als Nachfolger von Juri Ljubimow an das Taganka-Theater berufen. Er bewahrte das Theater, aber es blieb der fade Nachgeschmack, dass er den Vorschlag annahm, Ljubimow zu ersetzen.

Es gibt aber auch einfache Beispiele für echte oder scheinbare Kapitulationen. Der jüngste Fall von Herrn Eremitage, alias Piotrowski, ist eine gelungene Mischung aus Schurkerei und getarntem Trotz. Der Verlust des von ihm erdachten Museums ist eindeutig kein Scherz. Natürlich ist kein Mensch perfekt und neigt zuweilen zu Kompromissen, was uns unser Heimatland seit Langem lehrt. Wenn daher der Direktor des größten Museums des Landes in einem Interview mit einer Regierungszeitung über den imperialen Charakter der russischen Mentalität und den Krieg als nationale Selbstbestätigung spricht, ist unklar, ob er sich insgeheim über die Behörden lustig macht, ihr Spiel mitspielt oder – unter dem Deckmantel der Kapitulation – einfach über Dinge spricht, die Tschaadajew eher am Herzen liegen als dem Präsidenten. Wie dem auch sei, er hat es gesagt. Die Liberalen äußerten zunächst ihre Empörung und vergaßen sie dann nach einiger Zeit. Sowohl sein Posten als auch die Sammlung uralter Kunst der Menschheit wurden gerettet und unter den Fittichen von Herrn Eremitage erhalten.

Unabhängig davon wie sich die Ereignisse an der kulturellen Front weiterentwickeln, ist klar, dass wir es mit einem Zerbrechen unserer Kultur zu tun haben, mit ihrer Dekonstruktion. Die einen sind dafür, die anderen dagegen, wieder andere sind unentschieden – ein vertrautes Bild der russischen Realität. Wenn es um Kriegsgesetze geht, denken die Machthaber bei Meinungsvielfalt nur noch an ihre Beseitigung. Wenn Sie schweigen wollen, dann schweigen Sie, aber fordern Sie keine öffentlichen Gelder und Unterstützung vom Kulturministerium. Diejenigen, die zutiefst enttäuscht sind, werden als „ausländische Agenten“ abgestempelt, und feine Kerle wie Herr Eremitage werden protegiert und ihnen wird Honig um den Bart geschmiert. Anders kann es in unserem Zarenstaat nicht sein. Schade nur um die schönen Theater.



Viktor Jerofejew ist ein russischer Schriftsteller.

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