Inmitten eines unrechtmäßigen Krieges verschärft Moskau die digitale Unterdrückung

Autor: Adrian Shahbaz

Die zensierten Passagen können Sie durch einen Klick mit Ihrer Maus sichtbar machen.

Das Internet bot einen der wenigen verbliebenen Wege für unabhängige Meinungsbildung in Russland. Der Aufruhr in der Bevölkerung über den Angriffskrieg der Regierung bewirkte jedoch ein rücksichtsloses Vorgehen gegen abweichende Meinungen im Netz und die Zensur wurde zu einem zentralen Instrument der russischen Regierung, ihre Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen. Wir haben Adrian Shahbaz, Vizepräsident für Forschung und Analyse bei der prodemokratischen Organisation Freedom House, eingeladen, uns die digitale Unterdrückung in Russland begreifbar zu machen. Adrian hat seinen Text zensiert, um uns das Ausmaß der Kontrolle der russischen Regierung über den Zugang zu Informationen zu zeigen, die uns als die grundlegendsten Fakten erscheinen.

Während eines Auftritts in einer populären Nachrichtensendung im April 2022 gab die Chefredakteurin von Rossija Sewodnja und Russia Today (RT), zwei staatlich kontrollierten Sendern, eine verblüffende Erklärung ab: „Dies ist der Wendepunkt, an dem wir alles in unserem Land anders betrachten müssen. Angefangen bei dem Satz aus unserer Verfassung, dass ‚Zensur verboten ist‘“ (Davis 2022). Die Worte von Margarita Simonjan, einer der eifrigsten Köpfe des Propagaapparats des Kremls, waren ein Eingeständnis der Grenzen der Desinformation und des Wunsches, sie zu überschreiten. Das Regime müsse seine digitale Repression verstärken, um seinen brutalen und sinnlosen Krieg gegen das ukrainische Volk zu legitimieren.

Freedom House, die prodemokratische Organisation, für die ich arbeite, stuft Russlands Online-Landschaft seit langem als „Nicht Frei“ ein (Freedom House 2021). Anti-Korruptions-Aktivist*innen wurden angeklagt und außergerichtlich angegriffen, weil sie YouTube-Videos veröffentlichten, in denen sie die zwielichtigen Machenschaften von Präsident Wladimir Putin und seiner Clique ausführlich darstellten. Gerichte haben regelmäßig Geldstrafen für unauffällige Kommentare verhängt, z. B. für einen Social-Media-Beitrag mit dem Wortlaut „Familie ist da, wo Liebe ist. Unterstützt LGBT+-Familien“, oder für einen Kommentar unter einem Bild von Putin, der Finnland besucht, mit der Frage: „Könnte er nicht da bleiben?“ (Tsoi 2019). Behörden beschuldigten den Herausgeber einer Online-Schülerzeitung, Minderjährige zu „illegalen Aktivitäten“ angestiftet zu haben, weil er ein Erklärvideo erstellt hatte, in dem er erklärte, dass Mitschüler*innen nicht von der Schule verwiesen werden können, wenn sie an Pro-Alexej-Nawalny-Protesten teilnehmen (Lokot 2021). Nichtsdestotrotz ging ein großer Teil der russischen Bevölkerung trotz der nach wie vor gravierenden Konsequenzen ins Internet, um Meinungen zu äußern und zu lesen, die in den traditionellen Medien nicht zu finden sind.

Die Invasion im Jahr 2022 veränderte den Status quo grundlegend. Nach der brutalen Niederschlagung von Anti-Kriegs-Protesten im ganzen Land verabschiedete die Staatsduma im Schnellverfahren mehr als ein Dutzend Gesetze, die den in der Verfassung verankerten Schutz der freien Meinungsäußerung weiter aushöhlten. Ein Gesetz, das weniger als einen Monat nach der Eskalation der Feindseligkeiten verabschiedet wurde, kriminalisiert die Verbreitung sogenannter „falscher Informationen“ über das russische Militär. Mehr als 3.000 Personen müssen mit Verwaltungsstrafen wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“ rechnen, während 72 Personen strafrechtliche Sanktionen von bis zu 15 Jahren Haft drohen. Zu den Angeklagten gehören ein ehemaliger Bürgermeister, ein Theaterdirektor und ein Priester. Im Juli wurde der Lokalpolitiker Alexej Gorinow zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt, die erste gemäß dem neuen Gesetz, weil er während einer auf YouTube übertragenen Ratssitzung erklärt hatte: „Unser Land führt eine Aggression durch“.

Moskau hat weitere Schritte unternommen, um die Verfügbarkeit von Informationen, die seiner Propaganda zuwiderlaufen, einzuschränken. Nach Angaben der Gruppe für digitale Rechte RosKomSvoboda (Meduza 2022) wurden seit der jüngsten Eskalation der Gewalt mehr als 5.000 Websites gesperrt. Auf der Liste stehen unabhängige Nachrichtenagenturen, Menschenrechtsorganisationen, bekannte ausländische Nachrichtenseiten und Informationsquellen aus der Ukraine. Zahlreiche inländische Medienorganisationen wurden geschlossen, nachdem sie erkannt hatten, dass eine objektive Berichterstattung über den Krieg im Land nicht mehr möglich war. Die russische Kommunikationsaufsichtsbehörde sperrte US-amerikanische Social-Media-Unternehmen wegen ihrer Bemühungen, die vom Kreml unterstützte Falschinformation zu bekämpfen. Die Mitarbeitenden der in Russland ansässigen Technologieplattformen wurden massiv unter Druck gesetzt, sich die autoritären Botschaften der Regierung zu eigen zu machen. Ein ehemaliger Meduza-Verleger und Yandex-Mitarbeiter wurde strafrechtlich verfolgt, weil er auf seiner Instagram-Seite Bilder des Massakers von Butscha gepostet hatte (Novaya Gazeta 2022). Sogar Wikipedia ist ins Fadenkreuz der Justiz geraten, weil es einen Artikel über die „russische Invasion in der Ukraine“ und Seiten veröffentlicht hat, auf denen die kriminellen Handlungen der russischen Streitkräfte beschrieben werden.  

Nicht alle Zensurbemühungen Moskaus waren erfolgreich. Viele Nachrichtenorganisationen sind aus dem Land geflohen und haben kreative Wege gefunden, die Online-Sperren zu umgehen. Die Nutzung virtueller privater Netzwerke (VPNs) und anderer Methoden zur Bekämpfung der Zensur ist in Russland sprunghaft angestiegen. Dennoch bleiben die Aussichten für die Freiheit des Internets düster. Moskau hat in jüngster Zeit Maßnahmen und technische Verbesserungen eingeführt, die es erleichtern, das Land während politischer Krisen vom globalen Internet abzuschotten und die es ihm ermöglichen, digitale Tunnel zur Außenwelt zu schließen. Durch ausländische Aggression und digitale Unterdrückung stürzt Putin die russische Bevölkerung weiter in die Isolation. 

Adrian Shahbaz (@adrianshahbaz) ist Vizepräsident für Forschung und Analyse bei Freedom House.



Literaturverzeichnis

Davis, J. [@JuliaDavisNews] (2022): Derweil im russischen Staatsfernsehen: RT-Chefin Margarita Simonjan erinnert sich an ihre Zeit als stolze Pioniertrommlerin und fordert weniger Freiheit und mehr Zensur – genau wie in China oder der UdSSR. „Wir warten alle darauf,“ behauptet sie, Twitter, [Link zum Originalzitat auf Englisch:] https://twitter.com/JuliaDavisNews/status/1514339222118883334.

Freedom House (2021): Internet Freedom: Russia, [Link zum Originaltext auf Englisch:] https://freedomhouse.org/country/russia/freedom-net/2021.

Lokot, T. (2021): „Russian authorities crack down on student journalism outlet over protest explainer video“, Advox, [Link zum Originaltext auf Englisch:] https://advox.globalvoices.org/2021/04/26/russian-authorities-crack-down-on-student-journalism-outlet-over-protest-explainer-video/.

Meduza (2022): „Attorney General: Russia has blocked 138,000 websites amid war against Ukraine“, [Link zum Originaltext auf Englisch:] https://meduza.io/en/news/2022/08/08/attorney-general-russia-has-blocked-138-000-websites-amid-war-against-ukraine.

Novaya Gazeta (2022): Meduza’s ex-publisher Ilya Krasilshchik on criminal action against him in Russia: “Let them rot in hell”, [Link zum Originaltext auf Englisch:] https://novayagazeta.eu/articles/2022/04/22/meduzas-ex-publisher-ilya-krasilshchik-on-criminal-action-against-him-in-russia-let-them-rot-in-hell-news.

Tsoi, I. (2019): Ein Bewohner des Urals wurde wegen "Respektlosigkeit gegenüber den Behörden" zu einer Geldstrafe verurteilt, nachdem er einen Kommentar über das Tauchen Putins auf den Grund des Finnischen Meerbusens abgegeben hatte. Er riet dem Präsidenten, dort zu bleiben, The Insider, [Link zum Originalzitat auf Russisch:] https://theins.ru/news/190710.

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