Der Kampf für das Recht auf Abtreibung hält an

Autorin: Annabelle Chapman

Der Zugang zu reproduktiver Gesundheitsversorgung – einschließlich sicherer und legaler Schwangerschaftsabbrüche – kann nicht als selbstverständlich angesehen werden. Die jüngsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten und in Polen, wo es innerhalb der Rechts- und Justizverwaltung seit 2015 einen Rechtsruck gegeben hat, sind aufschlussreich. Während die Welt mit Kriegen und der Inflation zu kämpfen hat, müssen wir unsere Stimme erheben, denn selbst in Ländern, in denen der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen derzeit nicht bedroht ist, gibt es noch viel zu tun.

Sobald die Debatte über Abtreibung neu entfacht wird, denke ich an Anna. Im Jahr 2016 stieg ich frühmorgens in den Zug vom Berliner Hauptbahnhof nach Prenzlau, einer Stadt etwa eine Stunde nördlich der Hauptstadt, um dort eine Klinik für einen Beitrag zu besuchen. Damals war die Klinik als Anlaufstelle für Frauen aus Polen bekannt, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollten; ein polnischer Gynäkologe arbeitete dort und viele nahmen direkten Kontakt zu ihm auf. Nachdem ich ihn interviewt hatte, erklärte sich eine der polnischen Frauen, die gerade eine Abtreibung hatte vornehmen lassen, dazu bereit, mit mir zu sprechen. Anna – diesen Namen nannte sie mir, um ihre Identität zu schützen; es ist nicht ihr richtiger Name – war allein mit dem Zug aus ihrer Heimat im ländlichen, sozialkonservativen Süden Polens nach Deutschland gereist. Obwohl sie römisch-katholisch ist, sagte Anna, dass sie bereits drei kleine Kinder habe und dass sie und ihr Partner es sich einfach nicht leisten könnten, ihrer Familie ein weiteres Mitglied hinzuzufügen.

Als ich Annas Geschichte hörte, war ich von ihrer Stärke beeindruckt. Zwar war sie Hunderte von Kilometern allein nach Deutschland – ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte – gereist und hatte nun die lange Heimreise vor sich, aber sie meldete sich zu Wort. Sie wollte auf die polnischen Abtreibungsbeschränkungen aufmerksam machen, die schon damals zu den strengsten Europas gehörten. Das war im Jahr 2016, bevor ein Urteil des regierungstreuen Verfassungsgerichts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen noch weiter einschränkte. 2021, das Jahr, in dem die neuen Vorschriften in Kraft traten, wurden in Polen nur 107 legale Abtreibungen durchgeführt (Ferfecki 2022) – zehnmal weniger als in den Vorjahren. 

Verknüpfung der Abtreibungsfrage mit Krieg, Waffen und Inflation

Das Jahr 2022 wird von bedrohlichen Worten beherrscht: Krieg. Waffen. Inflation. Rezession. Die Schlagzeilen sind voll von dringenden Fragestellungen, angefangen dabei, wie Europa vom russischen Gas unabhängig werden kann, bis hin zur Frage, ob der Westen überhaupt mit dem russischen Machthaber Wladimir Putin verhandeln sollte. Diese Fragen sind zweifellos wichtig, denn sie betreffen die Sicherheit von Millionen von Menschen. Die Fokussierung auf Wirtschaft und Sicherheit, bzw. den Schutz vor militärischen Bedrohungen, kann jedoch leicht vom Zustand der Frauenrechte ablenken – insbesondere in Ländern, in denen die politische Führung diese Rechte nicht achtet. 

Dennoch sind all diese Themen miteinander verbunden. Der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen – oder besser gesagt, sein Fehlen – existiert nicht im luftleeren Raum, unabhängig vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine oder der globalen Wirtschaftslage. 

Betrachten wir zuerst den Krieg. Anfang des Jahres schockierten die Bilder aus der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie Nr. 3 der Geburtsklinik in Mariupol, die am 9. März 2022 von der russischen Luftwaffe bombardiert wurde, die Welt. Sie zeigten unter anderem das Foto einer hochschwangeren Frau namens Mariana Vishegirskaya, die mit blutverschmiertem Gesicht die Treppe hinunterging. Die Menschen waren empört: Keine schwangere Frau sollte einer solchen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt werden. Nach dem Angriff Russlands am 24. Februar 2022 flohen Millionen von ukrainischen Frauen mit ihren Kindern vor den Schrecken des Krieges. Viele von ihnen fanden Zuflucht in den Nachbarländern der EU, wo sie sicher waren – genauer gesagt, sicher vor den russischen Bomben. Denn sobald sie die Grenze überquert hatten, waren sie als Frauen neuen Gefahren ausgesetzt: dem Menschenhandel und der Tatsache, dass sie in Polen keinen Zugang zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch hatten, wenn sie einen benötigten. Die einzige Ausnahme, in der ein Schwangerschaftsabbruch seit der Verschärfung des Abtreibungsverbots in Polen durchgeführt werden darf, ist, wenn das Leben oder die Gesundheit der Frau durch die Fortsetzung der Schwangerschaft gefährdet ist. 

Betrachten wir zum anderen die wirtschaftliche Situation. Kürzlich sah ich einen Artikel mit der Überschrift „Inflation, nicht Abtreibung, ist das wahrscheinlich wichtigste Thema bei den Zwischenwahlen in den USA“, der sich auf die Wahlen im November 2022 bezog (Al Jazeera 2022). Schön und gut – nur sind die beiden Themen nicht losgelöst voneinander zu betrachten. Eine weitere Schlagzeile aus jüngster Zeit, ebenfalls von Mitte des Jahres 2022 (The Guardian 2022), lautet: „Rekordzahl an Abtreibungen in England und Wales inmitten finanzieller Unsicherheit“. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2021, eine Zeit, in der aufgrund von COVID-19 finanzielle Unsicherheit herrschte, aber der jüngste Anstieg der Lebenshaltungskosten in Großbritannien und vielen anderen Ländern noch nicht spürbar war. Die meisten Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen, waren dem Artikel zufolge bereits Mütter. Dabei war der größte Anstieg bei den Abbrüchen in der Altersgruppe der 30- bis 34-Jährigen zu verzeichnen. Da sich diese Frauen in Großbritannien aufhielten, konnten sie eine legale Abtreibung durchführen lassen. Frauen in Polen haben diese Möglichkeit nicht. Das bringt mich zurück zu Anna, deren Entscheidung für eine Abtreibung mit ihrer wirtschaftlichen Situation zusammenhing. Sie stellte ihre bestehende Familie an erste Stelle, die drei Kinder, die sie bereits hatte. 

Die Frauenrechte sind keineswegs ein „abgeschlossenes“ Thema

All dies bedeutet, dass die Rechte der Frauen – einschließlich des Zugangs zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen – keineswegs ein „abgeschlossenes“ Thema sind. Um die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir zu zitieren: „Vergessen Sie nie, dass eine politische, wirtschaftliche oder religiöse Krise ausreicht, um die Frauenrechte in Frage zu stellen. Sie werden niemals angestammtes Recht sein. Sie müssen Ihr ganzes Leben lang wachsam bleiben.“ Solange diese Rechte gefährdet sind oder aktiv eingeschränkt werden, wie es derzeit auf der anderen Seite des Atlantiks der Fall ist, sollten alle, die die Möglichkeit haben, ihre Stimme zu erheben, dies auch tun – einschließlich der Frauen, die nicht direkt von Abtreibungsverboten in „fernen“ Ländern wie Polen (das natürlich direkt neben Deutschland liegt) betroffen sind, und Männer. Speaking up, sollte über das Posten in sozialen Medien hinausgehen und sich auf konstruktives Engagement erstrecken: das Austauschen von Kontakten und Ressourcen, nicht nur innerhalb eines Landes, sondern über Grenzen hinweg. 

Es geht nicht nur um Abtreibung: Es geht um das Recht der Frauen, über ihren Körper zu entscheiden, unabhängig davon, ob sie sich in ihrer Heimatstadt befinden oder vor einem Krieg fliehen. Selbst in Ländern, in denen der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen derzeit nicht bedroht ist, bleibt noch viel zu tun: Die reproduktive Gesundheitsversorgung – einschließlich, aber nicht nur Schwangerschaftsabbrüche – muss für gefährdete Frauengruppen wie Flüchtende, die möglicherweise die Sprache nicht sprechen oder nicht wissen, wie sie sich in der Bürokratie des Landes zurechtfinden, leicht zugänglich sein. Während die Welt mit Unsicherheiten konfrontiert ist – Krieg in Europa und der bevorstehende Winter – müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Rechte nicht vergessen werden. 
 

Annabelle Chapman (@AB_Chapman) ist eine freie Journalistin. 


 

Bibliography

Al Jazeera (2022): Inflation, not abortion, is the likely key issue in US midterms, https://www.aljazeera.com/news/2022/5/9/inflation-not-abortion-is-the-likely-key-issue-in-us-midterms.

Ferfecki, W. (2022): Ogromny spadek liczby aborcji w Polsce, Wydarzenia, https://www.rp.pl/spoleczenstwo/art36787631-ogromny-spadek-liczby-aborcji-w-polsce.

The Guardian (2022): Record number of abortions in England and Wales amid financial insecurity [Link zum englischen Originaltext:] https://www.theguardian.com/world/2022/jun/21/record-number-of-abortions-in-england-and-wales-amid-financial-insecurity.

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