Helmut Schmidts Brief an die "schlafende Schöne"
Am 29. Juli 1962 war der Brief erstmals auf den Hamburg-Seiten der „Welt“ veröffentlicht worden, allerdings ohne Autorennennung
„Von ***
Wenn ich nicht Berliner wäre, so würde ich gerne für immer in Hamburg bleiben wollen, vielleicht auch in München – aber wo sonst in Deutschland?
In Frankfurt verdienen sie zuviel Geld, in Düsseldorf zeigen sie es außerdem noch, in Stuttgart sind sie mir zu eifrig und in Neu-Bonn zu aufgeblasen.
Es bleibt Hamburg, diese großartige Synthese einer Stadt aus Atlantic und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Lebenlassen. Ich liebe diese Stadt mit ihren kaum verhüllten Anglizismen in Form und Gebärden, mit ihrem zeremoniellen Traditionsstolz, ihrem kaufmännischen Pragmatismus und ihrer zugleich liebenswerten Provinzialität.
Aber ich liebe sie mit Wehmut, denn sie schläft, meine Schöne, sie träumt; sie ist eitel mit ihren Tugenden, ohne sie recht zu nutzen; sie genießt den heutigen Tag und scheint den morgigen für selbstverständlich zu halten – sie sonnt sich ein wenig zu selbstgefällig und läßt den lieben Gott einen guten Mann sein.
‚Hamburg – das ist unser Wille zu sein‘, so schrieb ein Sohn dieser Stadt. Aber ist Hamburg wirklich der Wille zu sein? – Die Hanseaten scheinen müde geworden. Albert Ballin, Sloman, Laeisz: Wer sind ihre Nachfolger?
Zwar ist immer noch ganz Hamburg stolz auf seine Schiffe; die aus Eimsbüttel genauso wie die von der Elbchaussee,
Sozialdemokraten und Konservative gleichermaßen.
Aber in Wahrheit neigt sich die große Zeit des Primats von Hafen und Überseehandel. Die Hamburger starren auf die
Häfen von Rotterdam und Bremen – aber sie lassen es geschehen. Nicht, daß sie nicht fleißig genug wären. Aber sie sind zu vornehm … Sie streiten nicht gern und überlassen den Bonnern das Feld.
Wer eigentlich wäre eher legitimiert, der deutschen Außenwirtschaftspolitik Ziel und Richtung zu weisen, wer hätte größeren Sachverstand, um der Entwicklungshilfe zu raten, wer kennte die Sorgen Englands und Skandinaviens besser, wenn es um das Zusammenspiel dieser Länder mit der europäischen Gemeinschaft geht, Länder, die seit Jahrhunderten Hamburgs Nachbarn und Partner waren und sind?
Leider jedoch fassen die Hamburger ihre Mitwirkung an der deutschen Politik als Pflichtübung auf. Ein Hamburger Bankier, vom Kanzler zum Gespräch über die Währung gebeten, wird zwar hingehen, aber innerlich wird er mit den Achseln zucken: Was für einen Zweck habe das schon?
Und die politischen Führer der Stadt haben sich ihre Bonner Pflichten bequem gemacht: Sie haben sich dort einen Botschafter bestellt, sogar mit einem Senator-Titel. Sie selbst aber kümmern sich nicht um Bonn. … Der Bürgermeister begnügt sich damit, allseits geachteter Stadtvater zu bleiben … Das Gewicht Hamburgs fehlt in Bonn, … es fehlt auch innerhalb der SPD.
Bonn als deutsche Hauptstadt war ein trauriger Witz, aber eine Realität. Bonn prägt Deutschland seit Generationen. Der Klüngel von Rhein und Ruhr macht sich breit in Deutschland. Berlin ist gelähmt, und Hamburg schweigt. Hamburg. Vorort der geistigen Freiheit, des Liberalismus im weitesten Sinne, das selbst eifrige Nazis wie Kaufmann und eifrige Kommunisten wie Dettmann durch seine Atmosphäre erzog und prägte. Hamburg, Freistätte für Katholiken und Juden, für Religiöse und Freidenker, eine politische Landschaft, der die Pflanze Demokratie nicht aufgepfropft werden mußte, weil sie doch dort schon heimisch war, Hamburg ist dabei, seine deutsche Aufgabe zu verpassen.
Es ist nicht getan mit Gründgens und Strawinsky, mit den neuen Schulen, Jugendheimen, den neuen Häusern für die Universität und mit der internationalen Gartenbauausstellung. Es ist nicht getan mit dem weitgetriebenen Versuch zum Grünflächenidyll in jedem Stadtteil, mit neuen U-Bahn-Strecken, mit Stadtautobahn und neuer City am Stadtpark.
Zwar ist dies alles gut, es ist sogar auch viel. Aber es ist weniger, als zu ihrer Zeit Lichtwark und Höger und Schumacher bewirkt haben. Es ist weniger als das großartige Vorbild der hamburgischen Schule in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Es mag genug sein für die Stadt Hamburg – es ist zu wenig für das Land, zu dem wir alle gehören.
Diese Stadt beherbergt ein unglaubliches Reservoir an weltweiter Erfahrung, an geistigem Potential, an realistischer Fähigkeit zur Kalkulation, an Toleranz und Prinzipientreue, an Weitblick und Wagemut. Verehrte Hamburger Gastgeber, liebe Freunde: Wißt ihr eigentlich, was Ihr alles in euren Händen haltet?
Macht Gebrauch von diesem Kapital, wuchert mit eurem Pfunde, macht eure Schulen wieder zu bewunderten Beispielen, laßt euren Schulkindern tolerante Demokratie eine alltägliche Selbstverständlichkeit sein. Macht eure Universität zu einer Akademie, an der es selbstverständlich ist, die Fragen nicht nur unserer Geschichte, sondern auch unsere politische Gegenwart und Zukunft anzugehen, an der nicht nur die Sprachen Asiens und Afrikas, sondern auch ebenso die Sorgen und Nöte dieser Kontinente studiert werden, an der man nicht nur Juristen und Betriebswirte, Lehrer und Ärzte produziert, sondern zugleich Menschen mit dem Blick auf die Welt jenseits des Rheins und der Oder und Neiße, mit einem Wort: Hanseaten.
Macht eure Kirche fähig, Kirche des 20. Jahrhunderts zu werden, eine Kirche nämlich, die den Menschen gibt, statt sie zu bevormunden. Laßt euren Senat mehr sein als treusorgendes Stadtregiment. Laßt ihn sich verantwortlich wissen genauso für deutsches Schicksal insgesamt wie für das des Stadtstaates. Macht euer Landesparlament und eure Parteien fähig, zu erkennen, daß Teilbebauungspläne für Billstedt und Winterhude kommunalpolitische Selbstverständlichkeiten sind, daß aber die eigentlichen politischen Aufgaben dieser Stadt bis nach Helsinki oder Warschau, nach Djakarta oder Buenos Aires reichen, nach London, Washington und Moskau. Begreift, daß Hamburgs diskreter Wohlstand, seine reservierte Anständigkeit und seine faire soziale Ordnung allein nicht ausreichen, um dem Maßstab gerecht zu werden, den die Geschichte des 20. Jahrhunderts an alle Deutschen anlegen wird.
Die Aufgaben der Zeit innerhalb eurer Stadt für eure eigenen Bürger zu lösen ist nicht leicht. Ihr zeigt täglich, daß ihr es könnt. Aber ihr könntet mehr. Die Aufgaben dieser Zeit, die für das ganze deutsche Volk gelöst werden müssen, brauchen eure Kräfte stärker, als ihr es ahnt.
Ich will euch nicht schmeicheln und euch auch keinen Grund zur Eitelkeit geben. Ihr seid ohnehin ein wenig zu stolz. Ihr sollt auch aus Hamburg kein Missionszentrum machen, ihr seid ohnehin in Gefahr, Pöseldorf für den Nabel zu halten.
Ich will euch nur bitten, nüchternen Sinnes das Spiegelbild zu prüfen, das ein Quiddje euch hier vorhält. Sofern nur ein weniges darin für richtig befunden werden sollte; es wäre wohl noch nicht zu spät. Hanseatentum muß nicht eine Sache vergangener Zeiten und deshalb bloß des Lesebuches sein - Hanseaten werden gegenwärtig in der deutschen Politik dringend gebraucht.“
Der Inhalt des Briefs ist aus dem 2015 veröffentlichten gleichnamigen Weltartikel entnommen, in dem der Brief erneut abgedruckt wurde.