„Um die Veränderungen zu bewirken, die die Welt braucht, muss ich reden“

Hatice Cengiz über ihr Leben nach dem Mord an Jamal Khashoggi: Ein Kampf für Pressefreiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit

Autor/in: Julia Strasheim

Liebe Leser*innen, 

„Speaking up!“ ist der Titel unserer zweiten Helmut Schmidt Lecture, die am 10. November in Berlin stattfindet. Unsere Speakerin: die Menschenrechtlerin Hatice Cengiz. In dieser Schmidtletter-Sonderausgabe lesen Sie, nach einer Einordnung unserer stellvertretenden Geschäftsführerin Julia Strasheim, was „Speaking up“ für Hatice Cengiz bedeutet. Eindrucksvoll schildert sie, wie die Ermordung ihres Verlobten Jamal Khashoggi ihr Leben veränderte, und wie sie sich seither für Gerechtigkeit und das Recht auf freie Meinungsäußerung einsetzt. Wir sind der Überzeugung: gerade jetzt ist die Zeit, denen zuzuhören, die ihre Stimme erheben!

Eine inspirierende Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



„Wer nicht redet, wird nicht gehört!“, sagte Helmut Schmidt einst. Damit lag er falsch. Denn wer überhaupt reden darf und wem dabei zugehört wird, ist eine Frage des Privilegs. Und auf der ganzen Welt schalten autoritäre Regime gerade die Menschen stumm, die ihre Stimme erheben. Journalist*innen und Menschenrechtler*innen werden diffamiert, bedroht, in ihrer Arbeit behindert oder getötet. Fundamentale Rechte wie die Versammlungs- oder Meinungsfreiheit, die 1948 ohne Gegenstimmen von der UN-Vollversammlung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert wurden, sind in Gefahr. Die Situation Medienschaffender hat sich weltweit verschlechtert.
 
Zum Glück gibt es mutige Menschen, die sich diesen Bedrohungen entgegenstellen. Eine von ihnen ist die türkische Menschenrechtlerin Hatice Cengiz. Ihr Verlobter, der Journalist Jamal Khashoggi, wurde am 2. Oktober 2018 im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul ermordet. Der US-Geheimdienst CIA kam zu dem Schluss, dass Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) den Mord persönlich anordnete. Bisher wurde jedoch niemand zur Rechenschaft gezogen. Im April 2022 verlegte die Türkei den Gerichtsprozess nach Saudi-Arabien und beendete das Verfahren so faktisch. Hatice Cengiz hat seit dem Mord ihr Leben dem Kampf für Pressefreiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit gewidmet. Aus diesem Grund wird sie am 10. November unter dem Titel „Speaking up!“ die Helmut Schmidt Lecture 2022 halten.

Von ihrem Einsatz könnten wir jederzeit lernen. Das Jahr 2022 hat uns einen besonders aktuellen Anlass dazu gegeben. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine bemühen sich Regierungen in Europa und den USA darum, ihre Energieversorgung ohne russische Importe sicherzustellen. Politiker wie US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron oder Bundeskanzler Olaf Scholz haben sich aus diesem Anlass wieder mit MBS getroffen, der nach dem Mord an Jamal Khashoggi politisch isoliert war.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung angekündigt, Deutschlands Außenpolitik wertebasiert zu gestalten. Dort heißt es: Im „Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“ bilden Menschenrechte den Kompass. Das droht angesichts von Energieinteressen in den Hintergrund zu geraten. Doch Werte und Interessen sind kein Gegensatz, denn Angriffe auf Menschenrechte gehören zu den Hauptursachen für Kriege und Instabilität weltweit, die auch deutsche Sicherheitsinteressen betreffen. Es ist also gerade jetzt die Zeit, denen zuzuhören, die ihre Stimme erheben – wie Hatice Cengiz. 


Autorin: Hatice Cengiz

„Speaking up“ ist eine Notwendigkeit – in Zeiten, in denen politische Eliten uns unzureichende Rechte anbieten, ist es wichtig, dass wir unsere Stimmen erheben und nach Gerechtigkeit streben. Und es ist eine Pflicht – in Zeiten, in denen Kommunikationstechnologien Teil unseres Lebens sind und es so viel einfacher machen, unsere Stimme zu erheben, um unsere Rechte zu verteidigen, auch diejenigen zu verteidigen, die sich nicht äußern können oder nicht wissen wie.

Das Leben hat mich in erster Linie dazu gebracht, anderen von dem zu berichten, was ich erfahren, nicht von dem, was ich gelesen habe. Vor vier Jahren hat uns alle die Nachricht von der Ermordung eines weltberühmten Journalisten erreicht. Leser*innen und Zuhörer*innen wurden auf unterschiedliche Weise mit dieser Nachricht konfrontiert. Ohne es zu wollen, wurde ich selbst Teil dieser Geschichte. Als ich später feststellte, dass ich sowohl die erste als auch die letzte Zeugin der Geschehnisse war, wurde meine Zeugen- zu einer Opferaussage und letztlich wurde ich zur Verfechterin der Gerechtigkeit, was mir die Last auferlegte seine Stimme zu meiner zu machen.

Während ich vor dem Konsulat wartete, strömten die Medien langsam zum Tatort. Schon bald waren Vertreter*innen aller lokalen und internationalen Medienagenturen anwesend und die Nachricht entfaltete eine große Wirkung. In diesem Moment wurde mir klar, welche Bedeutung die Medien für die Enthüllung des Mordes und die Darstellung der Geschehnisse haben würden. Sowohl die Rolle der Medien als auch die Tragweite meiner Äußerungen waren vom ersten Tag an offensichtlich. Seit diesem Tag haben die Medien den Vorfall nicht mehr losgelassen.

Ich kann mich an mein erstes Interview erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Damals stand ich unter großem Schock. Es fiel mir schwer, mich persönlich zu äußern. Ich musste mich zusammenreißen, um alles erklären zu können, was passiert war. Letztendlich war es ein normaler menschlicher Akt, trotz all des Chaos, des Leids und der Schmerzen. Das Recht, sich zu verteidigen, ist ein natürliches Menschenrecht. Ist ein Mensch nicht in der Lage, sich zu verteidigen, weil er abwesend ist, muss eine andere Person das Wort ergreifen, um ihn zu verteidigen und seine Rechte einzufordern. 

Vor einigen Monaten befragte ein*e Reporter*in im Weißen Haus den*die Sprecher*in des US-Präsidenten und zitierte dabei einen von mir veröffentlichten Tweet. Leider gab der*die Sprecher*in – wie es bei Politiker*innen üblich ist – eine diplomatische Antwort. Trotzdem bedeutete mir dieser Moment sehr viel, denn er verkörpert, was es bedeutet, seine Stimme zu erheben.

Rückblickend konnte ich nicht ahnen, dass eine Reise, die mit einem Interview begann, mich zu der Menschenrechtsverteidigerin machen würde, die ich heute bin. Ich bin fest entschlossen, für meine Rechte in einer Sache einzutreten, bei der ich zweifellos im Recht bin. Um die Veränderungen zu bewirken, die die Welt braucht, muss ich reden, sprechen. Ich muss nicht nur meine eigenen Erfahrungen zur Sprache bringen, sondern auch andere schmerzhafte Ereignisse, die auf der ganzen Welt geschehen. Traurigerweise habe ich aus meiner eigenen Erfahrung lernen müssen, wie wichtig dies ist.



Ab sofort können Sie sich zur Helmut Schmidt Lecture 2022 anmelden: 

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