Comeback der transatlantischen Beziehungen

Die Chance für eine wertebasierte EU-US-Wirtschaftspolitik nach innen und nach außen

Ein fertiges Puzzle, das auf der einen Hälfte die US-Amerikanische Flagge und auf der anderen Hälfte die EU-Flagge zeigt.

Liebe Leser*innen,

schon Helmut Schmidt bekannte sich klar zur transatlantischen Partnerschaft. Heute, im Jahr 2022, sind die EU und die USA angesichts des russischen Angriffskriegs und des wachsenden Wettbewerbs mit China an einem Punkt, an dem es gilt, diese Partnerschaft zu modernisieren und für das 21. Jahrhundert fit zu machen. 

Unsere Autorin Elisabeth Winter plädiert in unserem Schmidtletter dafür, diesen transatlantischen Moment zu nutzen, um eine zukunftsfähige und wertebasierte Wirtschaftspolitik zu etablieren.

Ein schönes Wochenende wünscht 
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Die EU und die USA sind wieder enger zusammengerückt, nicht nur angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Auch unter dem Druck des sich intensivierenden Wettbewerbs mit China hat sich das transatlantische Verhältnis wieder aufgewärmt – was sowohl bilateral als auch in Formaten wie den G7 zu beobachten ist. Wir sehen, dass es trotz – oder gerade wegen – des Tiefpunkts in den transatlantischen Beziehungen unter US-Präsident Donald Trump, der aktuellen Befürchtungen eines Rechtsrucks bei den Midterms im Herbst 2022 und einer möglichen Wiederwahl Trumps in zwei Jahren an der transatlantischen Partnerschaft festzuhalten gilt. Dazu muss diese aber modernisiert werden. 

Das hat auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in New York im August 2022 klar betont: „Wir müssen diesen transatlantischen Moment nutzen. Und zwar um eine stärkere, unwiderrufliche transatlantische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert aufzubauen.“ Dabei strebt Außenministerin Baerbock nicht nur eine Partnerschaft, sondern explizit eine „gemeinsame Führungspartnerschaft“ mit den USA an, die auf drei Säulen beruhen soll: Sicherheit, die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung und die Stärkung der europäischen und amerikanischen Demokratien und ihrer Resilienz. Sie schlägt damit keinen komplett neuen Weg ein, setzt aber zentrale Impulse für eine zukunftsfähige transatlantische Zusammenarbeit. 

Den außenpolitischen Werkzeugkasten ausschöpfen

Der Ruf nach einem konkreten Instrument zum Aufbau dieser Führungspartnerschaft wird lauter: Die USA und die EU sollten sich an einem gemeinsamen Handelsabkommen versuchen. Die Idee ist, dass sich durch ein solches transatlantisches Abkommen wirtschaftliche Abhängigkeiten von Russland und China reduzieren lassen, die europäischen und amerikanischen Demokratien widerstandsfähiger werden und gleichzeitig die aktuelle regelbasierte internationale Ordnung gestärkt werden kann.

Bei dem Ruf nach einem transatlantischen Handelsabkommen ist die Idee richtig, dass für ein solches ambitioniertes außenpolitisches Projekt der USA und der EU alle Instrumente der Außenpolitik einbezogen werden sollten. Es wäre ein fataler Fehler, eine neue Partnerschaft ausschließlich an klassischen sicherheitspolitischen Fragestellungen wie der Zusammenarbeit in der NATO auszurichten oder sich vor allem auf eine Liberalisierung der Handelspolitik zu fokussieren. Vielmehr gilt es, auch aktuelle innenpolitische Herausforderungen in die Debatte um die notwendige Diversifizierung von globalen Lieferketten aufzugreifen. Denn, provokant gefragt: Was nutzt uns der Abbau von wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Autokratien, wenn unsere eigenen Demokratien zunehmend maroder werden? 

Bitte kein TTIP 2.0

Der letzte Versuch ein transatlantisches Freihandelsabkommen auf den Weg zu bringen, liegt noch nicht allzu lange zurück. Das sogenannte TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) war hauptsächlich von der Obama-Regierung mit der EU verhandelt worden. Noch vor dem Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus waren die Verhandlungen ins Stocken geraten, da beide Seiten bei grundlegenden und vor allem regulatorischen Fragen nicht bereit waren, aufeinander zuzugehen. Unter Präsident Trump, der der Meinung war, dass Handelskriege gut und für die USA einfach zu gewinnen seien, wurden die Verhandlungen nicht weiter fortgesetzt, oder wie die EU-Kommission es bezeichnete: Sie landeten zunächst im Gefrierfach und wurden schließlich offiziell für beendet erklärt. 

Einfach an den letzten Stand der Verhandlungsrunden anzuknüpfen ist dementsprechend von vornherein ausgeschlossen. Um aber der Forderung nach widerstandsfähigen Demokratien, einer Stärkung der regelbasierten Ordnung sowie der Reduzierung wirtschaftlicher Abhängigkeiten von autoritären Staaten nachzukommen, braucht es einen grundlegend neuen Ansatz – gerade gerade für eine gemeinsame Handelspolitik, die eine zentrale Schnittstelle für eine wertebasierte transatlantische Führungspartnerschaft bilden. 

Transatlantische Zusammenarbeit für mehr Inklusion und soziale Gerechtigkeit – die innenpolitischen Herausforderungen gemeinsam angehen

Viel zu oft bleibt die transatlantische Zusammenarbeit bei außenpolitischen Themen wie Sicherheit und Wirtschaft stehen. Dabei verkennt sie einerseits die wechselseitigen Abhängigkeiten von Außen- und Innenpolitik sowie andererseits die auf beiden Seiten des Atlantiks geteilten innenpolitischen Probleme. Denn die USA und die EU stehen innenpolitisch derzeit vor sehr ähnlichen Herausforderungen: die Zunahme von sozialer Ungleichheit, das Erstarken von Rassismus und Populismus, eine sich vertiefende politische Polarisierung sowie die zunehmende Schwächung demokratischer Institutionen.

Selbstverständlich dürfen sicherheits- und handelspolitische Themen nicht aus dem Auge verloren werden, eine neue transatlantische Zusammenarbeit muss aber deren enge Wechselwirkungen mit diesen vermeintlich weichen, innenpolitischen Themen ernst nehmen und ihr gemeinsames Engagement auch in diesem Bereich erweitern. Sicherheits- und handelspolitische Debatten scheinen oft weit weg vom Alltag der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks. Themen wie Arbeitslosigkeit als Ergebnis von Globalisierung, die Auswirkungen des Klimawandels und sich vertiefende soziale Ungleichheiten sind aber Herausforderungen, die insbesondere von jungen Menschen als besonders drängend identifiziert werden. 

Vielfach gelingt es rechtspopulistischen Kräften, die bestehenden strukturellen Probleme, Ängste und Unzufriedenheiten für sich zu nutzen. Die Erfahrungen im Zuge der COVID-19-Pandemie haben diese strukturellen Probleme deutlich aufgedeckt. Unbarmherzig legte die Pandemie die gesellschaftlichen Missstände in Europa und den USA offen. Sie machte die Ungleichheiten sichtbar, die sich viel zu oft gnadenlos durch alle Lebensbereiche der sozial Schwachen und Benachteiligten ziehen. Die Auswirkungen des Klimawandels und die wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben diese Situation nochmals verschärft. 

Die Einhaltung der Menschenrechte, rechtsstaatliche Prinzipien sowie demokratische Mitbestimmung sind auch in den USA und der EU noch lange keine Selbstverständlichkeit. Insbesondere mehrfach von Diskriminierung betroffene Menschen leiden darunter. Eine transatlantische Agenda für mehr Inklusion muss hier ansetzen, die geteilten Werte positiv besetzen und durch einen breiteren gesellschaftlichen Rückhalt dafür sorgen, dass die so oft gegebenen Bekenntnisse zu elementaren Grundrechten keine Lippenbekenntnisse bleiben.

Transatlantisches Engagement für multilaterale Handelskooperation – auch über gleichgesinnte Staaten hinaus

Eine transatlantische Führungspartnerschaft kann nur glaubwürdig für eine internationale wertebasierte Ordnung eintreten, wenn sie nicht als Lehrmeisterin, Gönnerin oder gar Herrscherin auftritt und ihre Interessen rücksichtslos durchsetzt: Die regelbasierte internationale (Wirtschafts-)Ordnung darf keine Ordnung des Westens sein. Gleichzeitig sollten die EU und die USA aber selbstbewusst zugeben, dass sie selbstverständlich im Rahmen dieser Allianzen ihre eigenen Interessen zu realisieren versuchen. 

Es braucht ein starkes transatlantisches Bekenntnis zu multilateraler Zusammenarbeit, zu internationaler Kooperation zum Vorteil aller. Dafür reicht es jedoch nicht aus, hinter jedes Bündnis einfach nur ein „2.0“ zu setzen und darauf zu hoffen, dass damit die komplexen Probleme von heute gelöst werden können. Die USA und die Europäische Union sollten anderen Ländern als Partner*innen auf Augenhöhe gegenübertreten. Eine inklusive, wertebasierte transatlantische Führungspartnerschaft muss bereit sein, ihre multilaterale Botschaft offen an internationale Partner*innen zu kommunizieren und sie zur Zusammenarbeit einzuladen. 

Umso wichtiger ist es, dass die transatlantische Handelspartnerschaft egal in welcher Form offen gegenüber Drittstaaten gestaltet wird – und zwar nicht nur in der Theorie, wie es bei TTIP passierte. Vielmehr muss von Beginn an das derzeitige Momentum in der G7 genutzt werden, um so die Zusammenarbeit von zwei auf bereits sieben Partner*innen auszudehnen. Die Kooperation mit ausgewählten gleichgesinnten, demokratischen Staaten ist notwendig, darf aber nur ein Schritt für die internationale Zusammenarbeit auf multilateraler Ebene sein. Trotz aller Schwierigkeiten durch die Mitgliedschaft vieler autoritärer Regime in der Welthandelsorganisation (WTO) muss das erklärte Ziel der transatlantischen Partner*innen die Regelung des Weltwirtschaftssystem im Rahmen der WTO bleiben. Die EU hat in den letzten Monaten bereits viel Engagement gezeigt, jetzt ist es an der Regierung Biden, sich verstärkt einzubringen. 

Eine transatlantische Führungspartnerschaft für das 21. Jahrhundert

Um den transatlantischen Moment zu nutzen und wie von der deutschen Außenministerin gefordert, eine gemeinsame transatlantische Führungspartnerschaft zu entwickeln, braucht es eine Wirtschaftspartnerschaft, welche auf Inklusion sowie einer positiven Selbstdefinition beruht und die bereit ist, den Status Quo hinter sich zu lassen, um mutig Veränderungen anzugehen. Das gilt sowohl für die jeweilige Innenpolitik, das bilaterale Verhältnis als auch für die Zusammenarbeit in internationalen Allianzen.

Ein fertiges Puzzle, das auf der einen Hälfte die US-Amerikanische Flagge und auf der anderen Hälfte die EU-Flagge zeigt.

© Canva

Annalena Baerbock steht lächelnd an einem Pult vor vielen Menschen und hält eine Rede. Im Hintergrund sind eine US-amerikanische, deutsche und europäische Fahne aufgestellt.

Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin, hält am 2. August 2022 in New York eine Rede zu „Seizing the Transatlantic Moment: Our Common Responsibility in a New World“ an der Hochschule „The New School“. © picture alliance / photothek | Janine Schmitz

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