Das Erbe von Bidenomics

Eine Bilanz zu Amerikas industriepolitischem Experiment

Joe Biden mit Megafon

Liebe Leser*innen, 

seit Donald Trump wieder zurück im Weißen Haus ist, intensiviert sich nicht nur der Handelskonflikt zwischen den USA und China, sondern auch zwischen den USA und zahlreichen anderen Ländern, unter anderem der Europäischen Union. Für die Trump-Administration sind die daraus resultierenden wirtschaftlichen Spannungen aber Mittel zum Zweck: Ziel ist es, mittels der neu eingeführten Zölle die Industrie der USA wieder anzukurbeln.

Auch Trumps Vorgänger Joe Biden hatte die Wiederbelebung der US-amerikanischen Industrie als Ziel. Unter dem Stichwort „Bidenomics“ startete seine Regierung ein umfangreiches industriepolitisches Programm zur Förderung strategischer Sektoren, zur Reduktion von Treibhausgasemissionen und zur Verringerung sozialer Ungleichheiten. Unser BKHS-Experte Matthew Delmastro diskutiert in diesem Schmidtletter das Erbe von Bidens wirtschaftspolitischem Experiment, das mit Trump ein jähes Ende fand.

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Inmitten von Donald Trumps eskalierendem Handelskrieg und der dadurch ausgelösten massiven globalen wirtschaftlichen Unsicherheit, fühlt sich ein Rückblick auf die wirtschaftspolitische Bilanz der Vorgänger-Administration unter Joe Biden wie ein Blick in die ferne Vergangenheit an. Es lohnt sich jedoch, das wirtschaftspolitische Experiment „Bidenomics“ unter die Lupe zu nehmen, um seine Erfolge und Misserfolge zu bewerten und Lehren für die Zukunft zu ziehen. Es handelte sich letztendlich um einen neuartigen industriepolitischen Ansatz zur Bewältigung einiger der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit: die Reduktion der Treibhausgasemissionen, Verringerung von Ungleichheiten, Wiederbelebung strategischer Wirtschaftssektoren und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit in Zukunftstechnologien. Bidenomics umfasste nicht nur vier wichtige Gesetze, deren Ausgaben und Steuererleichterungen sich zusammen auf über 1,6 Billiarden US-Dollar belaufen, sondern auch die Anfänge einer neuen Wirtschaftsdoktrin, die das bislang vorherrschende marktliberale Paradigma in den USA ablösen sollte. Die Herauskristallisierung eines neuen ökonomischen Ansatzes wurde als „new economics“, „new centrism“ oder „new consensus“ bezeichnet.

Während sich hier der Fokus auf die wichtigsten Resultate von Bidens wirtschaftspolitischem Experiment richtet, werden die Besonderheiten der Gesetze und ihre zugrundeliegenden Beweggründe an anderer Stelle untersucht. Den Zusammenhang zwischen Industriepolitik und Demokratie haben die BKHS-Expert*innen Elisabeth Winter und Matthew Delmastro in ihrem Beitrag für das BKHS Magazine #4 „For a Just Democracy!“ besprochen.

Als politisches Projekt gescheitert

Es muss gleich zu Beginn ganz klar gesagt werden: Als Strategie der Demokraten, sich das Weiße Haus zu sichern und eine neue, breitere politische Koalition zu bilden, ist Bidenomics gescheitert. Die Theorie lautete, dass die vier großen industriepolitischen Gesetze zusammen mit Bidens „foreign policy for the middle class“ den Amerikaner*innen so deutliche und greifbare Vorteile in Form von Arbeitsplätzen, Investitionen, höheren Löhnen und einer saubereren Umwelt bringen würden, dass die Demokratische Partei eine große Zahl neuer Wähler*innen für sich gewinnen könne. Teil dieser Strategie war es, die Gesetze so zu gestalten, dass das Gros dieser finanziellen Ausgaben in eher konservativere Teile des Landes fließen würde. Tatsächlich wurden 80 Prozent der neuen Investitionen im Bereich grüne Energie in republikanischen Kongressbezirken getätigt.

Am Ende waren die Wähler*innen – gleichgültig ob links oder konservativ – bekanntermaßen jedoch nicht überzeugt. Die Demokraten verloren die Wahl vor allem aufgrund der negativen Wahrnehmung der Wirtschaft, und das, obwohl die Wirtschaft laut den üblichen makroökonomischen Indikatoren bemerkenswert stark war. Die USA verzeichneten eine rekordverdächtig niedrige Arbeitslosigkeit, eine gedämpfte Inflationsrate und ein schnelleres BIP-Wachstum als die meisten anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Aber obwohl Bidens Wirtschaftspolitik Projekte im ganzen Land mit Milliarden von Dollar förderte, wusste mehr als die Hälfte der Wähler*innen „nicht viel“ oder „gar nichts“ über drei der vier wichtigsten Gesetze. Von denjenigen, die die Gesetze kannten, gaben weniger als drei von zehn an, dass sie sich positiv auf ihr Leben auswirken.

Dies ist ein vernichtendes Urteil über die gesamte politische Strategie, die hinter Bidenomics stand und wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Warum gab es eine derartige Diskrepanz zwischen den positiven Wirtschaftsindikatoren und der von den Wähler*innen wahrgenommenen wirtschaftlichen Situation (worüber eine anhaltende intensive Debatte geführt wird)? Warum kamen Bidenomics und dessen enorme Investitionen den Wähler*innen nicht eindeutig zugute? Drei Faktoren werden zur Erklärung derzeit debattiert: Es gelang der Regierung nicht, ihre Erfolge wirksam zu kommunizieren; die Regierung förderte die falschen Wirtschaftssektoren oder die positiven Auswirkungen der Politik setzten zu spät ein. Unabhängig davon, welcher dieser drei diskutierten Faktoren am Ende die Wahl entschieden hat, für die Befürworter*innen einer neuen Industriepolitik gilt jetzt folgendes: Um die Rolle des Staates als aktiven und effektiven Gestalter einer neuen Industriepolitik zu stärken, müssen sie herausfinden, wie eine robuste industriepolitische Agenda den Wähler*innen konkretere Vorteile bringen kann, um politisch erfolgreich zu sein.

Erste Erfolge messbar

Betrachtet man jedoch die tatsächlichen wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der vier großen Bidenomics-Gesetze, so ergibt sich ein positiveres Bild. Versuche einer umfassenderen Bewertung wurden bereits unternommen; hier sollen ausgewählte Bereiche hervorgehoben werden, in denen Bidenomics erste Erfolge erzielt haben.

Erstens war eines der Kernziele der Biden-Regierung die Wiederbelebung der amerikanischen Industrie, insbesondere in strategisch wichtigen Sektoren und Zukunftstechnologien. Betrachtet man die Gesamtausgaben für neue Produktionsanlagen, so hat dies zweifellos begonnen. Analyst*innen sprechen regelmäßig von einem regelrechten „Produktionsboom“. In absoluten Zahlen sind die gesamten Bauausgaben für das verarbeitende Gewerbe zwischen August 2022, dem Monat, in dem viele der Gesetze verabschiedet wurden, und Januar 2025 um 81 Prozent gestiegen. Außerdem flossen neue Investitionen vor allem in die Bereiche grüne Energie und Technologie – und damit genau in jene Sektoren auf die der Inflation Reduction Act (IRA) abzielt. In den Jahren 2023 und 2024 kündigten Unternehmen Neuinvestitionen in Höhe von 95 Milliarden US-Dollar in grüne Energie und Fahrzeugtechnologie an, das entspricht mehr als das Vierfache der 23 Milliarden US-Dollar die in den beiden Vorjahren investiert wurden. Sowohl die Batterieherstellung als auch die Solarproduktion hat durch den IRA einen großen Schub erhalten. Wie in anderen Sektoren haben diese neuen Investitionen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geführt, wobei Schätzungen zufolge mehr als 400.000 „grüne“ Arbeitsplätze entstanden sind.

Zweitens wird prognostiziert, dass die Treibhausgasemissionen in den USA infolge des IRA und seiner grünen Investitionen und Steueranreize bis 2035 um 33-44 Prozent unter das Niveau von 2005 sinken werden. Das ist eine 8,5 Prozent höhere Reduzierung im Vergleich zum erwarteten Emissionspfad vor dem IRA. Zwar reichte dies nicht aus, um Bidens Ziel einer 50-prozentigen Emissionsreduzierung zu erreichen, doch wird der industriepolitische Ansatz des IRA bereits in anderen Regionen, wie beispielsweise in Europa, als mögliche Ergänzung zu anderen Instrumenten wie der Kohlenstoffbepreisung angeführt.

Drittens war im Bereich der nationalen Sicherheit eine der Hauptprioritäten der Regierung die Wiederbelebung der amerikanischen Halbleiterindustrie, deren Anteil an der weltweiten Produktionskapazität von 37 Prozent im Jahr 1990 auf heute nur noch 12 Prozent gesunken ist. Dafür implementierte die Biden-Regierung den sogenannten CHIPS Act und sorgte so für Ausgaben in Höhe von 52 Milliarden US-Dollar für die Chipfertigung und -forschung. Auch hier beginnt diese Politik bereits Früchte zu tragen. So stieg im Januar die Produktion von Chips um 10,78 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Darüber hinaus belegen erste Produktionszahlen, dass die Erfolgsrate der Produktion von nutzbaren Chips im neuen Werk von TSMC in Arizona die taiwanesischen Werke um 4 Prozent übertrifft. Das zeigt, dass die effiziente Produktion modernster Halbleiter in den USA erfolgsversprechend ist.

Das Erbe von Bidenomics

Damit soll nicht gesagt werden, dass die Bilanz der Wirtschafts- und Industriepolitik der Biden-Administration durchweg positiv ausfällt. Tatsächlich gab es mehrere weithin bekannte Misserfolge, wie etwa die 42 Milliarden US-Dollar schwere Initiative zum Ausbau des Breitbandnetzes in ländlichen Gebieten, an die noch kein einziger Haushalt angeschlossen wurde, oder der 7,5-Milliarden-US-Dollar-Plan zum Bau von Ladestationen für Elektrofahrzeuge, der gerade einmal 47 Ladestationen in 15 Bundesstaaten hervorgebracht hat.

Das Erbe von Bidenomics wird derzeit aber insbesondere von der derzeitigen Trump-Administration bedroht: Sie hat die Ausgaben in der gesamten Regierung, insbesondere im Bereich der Klimapolitik, eingefroren und baut massiv Regierungsstellen, die für die erfolgreiche Umsetzung der Gesetze unerlässlich sind, ab. Darüber hinaus zwingt Trumps neuer Handelskrieg Unternehmen dazu, Bauprojekte zu verschieben oder zu streichen, da die daraus entstehenden Unsicherheiten Unternehmer*innen hemmen, Investitionsentscheidungen zu treffen.

Auch wenn Bidenomics als industriepolitisches Experiment im November 2024 endete, wird es weitreichende und dauerhafte Auswirkungen haben. Innenpolitisch haben die Demokraten zu Recht das Potenzial der Industriepolitik erkannt und greifen die Trump-Administration bereits an, weil sie eine Zollpolitik verfolgt, die nicht durch eine Industriestrategie gestützt wird. Auf internationaler Ebene hat die Europäische Kommission im Februar ihren Clean Industrial Deal vorgestellt, ein Maßnahmenpaket, das eindeutig vom IRA beeinflusst wurde. Für die Befürworter*innen dieser Art „new economics“, die dem Staat eine aktivere Rolle in der Ausgestaltung der Wirtschaft zuweist, besteht die Aufgabe nun darin, die wichtigste Lehren aus Bidenomics zu ziehen, um Industriepolitik schneller, wirksamer und politisch effektiver zu gestalten.

Joe Biden mit Megafon

Joe Biden schließt sich streikenden Mitgliedern der United Auto Workers in Michigan an, 26. September 2023. © picture alliance/REUTERS/Evelyn Hockstein

Solar Panels

Größte Solarfarm östlich des Mississippi: Double Black Diamond Solar in der Nähe von Waverly, südlich von Springfield, Illinois, 2024. © picture alliance/abaca

Autor: Matthew Delmastro, M.A.

Wissenschaftlicher Assistent

Matthew Delmastro ist derzeit Doktorand und forscht zur modernen Geschichte der Globalisierungskritik. Neben Fragen der politischen Ökonomie und der globalen Gerechtigkeit konzentriert sich seine Arbeit auf die transatlantischen Beziehungen. Er arbeitete als Programmassistent für den German Marshall Fund of the United States. Matthew Delmastro hat Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen (M. A.) an der Universität Konstanz und der Karlsuniversität Prag studiert.

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