Der Boom der Bürgerräte

Wie demokratisch ist losbasierte Bevölkerungsbeteiligung wirklich?

Autor/in:Eva Krick
Aufgerollte bunte Loszettel neben einem geöffneten hellblauen Loszettel.

Liebe Leser*innen, 

am 10. Mai hat der Deutsche Bundestag beschlossen, einen neuen Bürgerrat zum Thema Ernährung einzusetzen. Nach der Sommerpause beginnen die Bürger*innen mit ihren Beratungen und erarbeiten in etwa 40 Stunden Dialog, unterstützt durch Expert*innen und Moderator*innen, Empfehlungen für die Politik. Bis dahin werden 160 Teilnehmende aus ganz Deutschland per Zufallsprinzip ausgewählt.

Unsere Programmleiterin Eva Krick hinterfragt im aktuellen Schmidtletter kritisch, ob diese Art der Beteiligung ein wirksames demokratisches Instrument ist, und weist auf Schwachstellen und Chancen von Bürgerräten hin.

Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Die Politik hofft, durch den Einsatz von Bürgerräten die Distanz zwischen Bürger*innen und Politik abzubauen und bessere Mitsprache zu ermöglichen. Im Gegensatz zur oft hitzigen und verkürzten Debatte in den sozialen Medien erlaubt die für Bürgerräte typische „deliberative“, also begründend abwägende Entscheidungsfindung den respektvollen Austausch und erhöht die Chance auf ausgewogene und breit akzeptierte Vorschläge. Vielen gelten Bürgerräte auch als Möglichkeit, die Bürger*innen zu „empowern“ und einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

Aber halten Bürgerräte diese Versprechen? Was können sie leisten? Wie demokratisch sind losbasierte, deliberative Beteiligungsverfahren?

Partizipatorische Wende

Im Zuge der partizipatorischen Wende haben Demokratien weltweit in den letzten Jahrzehnten nach neuen Wegen gesucht, um die parlamentarische Demokratie zu beleben und die gesellschaftliche Beteiligung an politischen Entscheidungen zu erhöhen. Während in Deutschland zunächst Referenden, also Volks- und Bürgerentscheide, als das Mittel zur erweiterten Bürgerbeteiligung galten und die rechtlichen Möglichkeiten auf Landes- und Kommunalebene seit den 1990er-Jahren stark ausgebaut wurden, ist die Begeisterung mittlerweile deutlich abgeflaut, was nicht zuletzt am Brexit-Referendum und seinen extremen Auswirkungen liegt. Probleme wie Manipulationsgefahr und die Zuspitzung komplexer Zusammenhänge auf eine einfache Ja-Nein-Frage werden heute realistischer eingeschätzt.

Deliberative Welle

In den letzten Jahren hat nun die deliberative Welle Deutschland erfasst: Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich mehr diskursbasierte Beteiligungsverfahren und deren Ausweitung auf Bundesebene. Auch die politischen Parteien greifen das zunehmend auf: Die letzte Große Koalition kündigte eine Kommission zum Thema an und die Ampelkoalition hat das Format der Bürgerräte 2021 prominent in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. Auch die Klimabewegung hat das Instrument für sich entdeckt und fordert einen Gesellschaftsrat Klima. Tatsächlich hat die Zahl losbasierter, deliberativer Beteiligungsverfahren in den letzten zehn Jahren stark zugenommen und Deutschland ist nun international Vorreiter, was den Einsatz von Bürgerräten angeht. Seit ihrer Erprobung auf Bundesebene mit dem Bürgerrat Demokratie 2019 sind diese Formen der Bürgerbeteiligung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und der Begriff des „Bürgerrats“ hat sich etabliert. Bürgerräte sind allerdings kein neues Phänomen, sondern auf Landes- und Kommunalebene bereits seit den 1970er-Jahren im Einsatz. Auch gibt es unzählige Bezeichnungen für diese Form der Bürgerbeteiligung – von „Bürgerforum“, „Gesellschaftsrat“ und „Bürgerkonferenz“ über „Demokratiekonvent“ und „Zukunftsrat“ bis zu den vor allem in der Forschung gebräuchlichen Bezeichnungen „Planungszelle“, „Deliberative Polling“ oder „Minipublic“.

Kein repräsentativer Querschnitt, kein Empowerment

Allerdings erfüllt sich insbesondere die Hoffnung, durch die Zufallsauswahl einen Querschnitt der Bevölkerung abzubilden, in der Regel nicht. Ein wiederkehrendes Problem ist, dass Bürgerräte überproportional von älteren, höher gebildeten Männern besetzt sind, die durch ihre Teilnahme eine weitere Möglichkeit nutzen können, ihre ohnehin privilegierten Stimmen zu erheben. Marginalisierte gesellschaftliche Gruppen dagegen nehmen oft die Einladung gar nicht erst an, tauchen im Laufe des Prozesses nicht mehr auf oder treten während der Diskussion stark in den Hintergrund. Es kommt hinzu, dass ein Kreis von maximal 200 Personen unmöglich die Vielfalt der deutschen Bevölkerung widerspiegeln kann.

Da Bürgerräte außerdem meist folgenlos bleiben, stellt sich der erwünschte Empowerment-Effekt kaum ein. Eine vollkommene Umsetzung ihrer Vorschläge, wie sie von den Teilnehmenden oft erwartet wird, ist allerdings auch gar nicht unbedingt wünschenswert. Das hat mit der begrenzten Inklusivität des Instruments zu tun, aber auch mit der mangelnden Sanktionierbarkeit von Bürgerratsentscheiden. Zwar ist es wichtig, dass die Bürger*innen ernst genommen werden und die Politik sich mit den Vorschlägen auseinandersetzt. Doch selbst entschiedene Verfechter*innen demokratischer Innovationen, wie die Letzte Generation oder Mehr Demokratie e.V., machen inzwischen deutlich, dass es sich bei Bürgerräten um Ergänzungen zur parlamentarischen Demokratie handelt, die lediglich beratend wirken sollten.

Die großen Stärken von Bürgerräten

Aufgrund der vielfältigen Erfahrungen mit dem Instrument scheint die anfängliche Euphorie gerade einer differenzierteren Sichtweise zu weichen, und diese Gelegenheit sollten wir nutzen: Wir sollten aufhören, das Losprinzip zu überhöhen, und endlich die Repräsentationsdefizite ernst nehmen, die Bürgerräte prägen. Diese dürfen nicht immer wieder leichtfertig beiseite gewischt werden, denn sie sind zentral für die Legitimität des Instruments.  

Gleichzeitig sollten wir Bürgerräte für das einsetzen und schätzen, was sie tatsächlich leisten können:

Eine große Stärke von Bürgerräten liegt darin, abgewogene Urteile über komplexe Fragen zu treffen, die von der Bevölkerung als vertrauensvoll eingestuft werden und Orientierung bieten können. Sie können auf übersehene Probleme hinweisen und die gesellschaftliche Diskursqualität insgesamt verbessern. Da öffentliche Aufmerksamkeit dafür aber eine Vorbedingung ist und gleichzeitig ein umkämpftes und knappes Gut, sollten Bürgerräte sehr gezielt eingesetzt werden. Für bestimmte Problemstellungen eignen sie sich besonders, und zwar solche, die uns alle betreffen und ethischer Abwägungen bedürfen, und solche, die zukünftige Generationen, mächtige Lobbygruppen oder Eigeninteressen von Politiker*innen betreffen. Für Letzteres sind Wahlrechtsreformen ein gutes Beispiel.

Im Prinzip eignen sich Bürgerräte auch als „Demokratieschulen“ für die Teilnehmenden. Im Rahmen respektvoller Auseinandersetzung mit Menschen außerhalb der eigenen Echokammer aus Gleichgesinnten können Einzelne ihre eigenen Positionen überdenken und üben, Kompromisse zu schmieden. Sie erweitern das Verständnis füreinander ebenso wie für die Logik politischer Prozesse, was auch nach Abschluss der Bürgerberatungen anhält. Für diese, nur den jeweiligen Teilnehmenden zugutekommende Wirkung, sind diese Prozesse aber sicherlich viel zu aufwändig und vor allem auch zu teuer. Außerdem kann man davon ausgehen, dass das Interesse an der Teilnahme sinkt, wenn dieser pädagogische Effekt im Vordergrund steht.

Abschließend lässt sich sagen, dass Bürgerräte zwar nicht alle der in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen, aber durchaus den demokratischen Diskurs beleben können. Zu gerechterer Teilhabe wird ihr Einsatz vor allem führen, wenn Bürgerräte sinnvoll mit anderen „demokratischen Innovationen“ und dem parlamentarischen System verknüpft werden.

Aufgerollte bunte Loszettel neben einem geöffneten hellblauen Loszettel.

Per Zufallsprinzip werden 160 Personen aus ganz Deutschland ausgewählt, um den Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ zu bilden. © Canva

Blick auf Plakat mit Aufschrift "Bürgerrat, Demokratie" vor einer geöffneten Tür in einen Konferenzsaal mit Menschen.

In Leipzig fand 2019 der erste bundesweite Bürgerrat statt. © picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Weltkarte mit Punkten, die die Menge der Bürgerräte darstellen.

Weltweit nimmt die Zahl der losbasierten Bürgerbeteiligungsforen zu, Deutschland ist international Vorreiter. Quelle: sfb1265.github.io/mini-publics/

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