Der lange Weg zum Ausstieg aus der Kernenergie

Trotz massiver Anti-AKW-Proteste: Kanzler Schmidt sah Atomkraft als Schlüssel zur Energieunabhängigkeit

Liebe Leser*innen,

am 15. April 2023 hat Deutschland die letzten noch aktiven Atomreaktoren abgeschaltet und steigt damit aus der Kernenergie aus. Das Datum markiert auch das Ende einer jahrzehntelangen Debatte darüber, welche Rolle die Nukleartechnologie in der Energieversorgung Deutschlands spielen sollte. Und auch für die Gründung der Partei der Grünen hat das Thema eine zentrale Bedeutung. Aber wie ist es zu diesem Schritt gekommen?

Unser Gastautor Nicholas Misukanis promoviert über die Geschichte der Atomkraft in Deutschland und wird von uns als Bundeskanzler-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung im Helmut Schmidt-Archiv in Hamburg-Langenhorn betreut. In diesem Schmidtletter beschreibt er die Vorgeschichte des Atomausstiegs, an deren Anfang der massive Ausbau der Technologie durch Bundeskanzler Helmut Schmidt nach der ersten Ölpreiskrise 1973 stand.

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1973 verhängten die Mitglieder der Organisation erdölexportierender Länder (Organisation of Petroleum Exporting Countries, OPEC) gegen viele westliche Staaten ein Ölembargo, das Volkswirtschaften weltweit in die Krise stürzte. Westdeutschland sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass es seine Energiekapazitäten ausbauen musste, wenn es einen wirtschaftlichen Schock vermeiden wollte. Um möglichst unabhängig vom Öl zu werden, beschloss Helmut Schmidt, die deutsche Kohlewirtschaft auszubauen und die finanziellen Mittel für die Kernenergie drastisch zu erhöhen. Zwar ging das erste kommerziell genutzte Atomkraftwerk in Deutschland bereits 1960 ans Netz, aber Fragen von Reaktorsicherheit und später auch der Endlagerung radioaktiver Abfälle blieben weiterhin ungelöst. Nichtsdestotrotz überarbeiteten Schmidt und seine Regierung das Atomgesetz, trafen internationale Vereinbarungen über Reaktortechnologie und gaben Millionen für eine Aufklärungskampagne aus, um der Bevölkerung die Notwendigkeit eines erweiterten Kernenergienetzes zu vermitteln.

Erste Proteste im badischen Wyhl

Die sozial-liberale Koalition unter Schmidt arbeitete intensiv daran, die Energieoptionen Westdeutschlands zu erweitern, aber diese Entscheidungen stießen schnell auf Widerstand. Der erste große Protest begann im Februar 1975 in dem badischen Dorf Wyhl an einem geplanten Atomreaktorstandort. Es war die erste von vielen Anti-Atomkraft-Aktionen und viele Demonstrant*innen, die angesichts der nuklearen Risiken verunsichert waren, organisierten sich gegen die Bemühungen der Regierungen auf Bundes- und Landesebene. Die Wyhl-Proteste hatten schließlich Erfolg und waren ein wichtiger Grund für den Baustopp des Reaktors. Kanzler Schmidt und seine Regierung organisierten sich neu, dafür arbeiteten das Auswärtige Amt und die Bundesministerien des Inneren, für Forschung und Technologie sowie für Wirtschaft eng zusammen. Ziel war es, die westdeutsche Nukleartechnologie sowohl im In- und Ausland auszubauen als auch die Öffentlichkeit von den Möglichkeiten der Kernenergie zu überzeugen.

Helmut Schmidt setzte auf Kernenergie

Auch im weiteren Verlauf seiner Kanzlerschaft – und angesichts einer zweiten, noch schwereren Ölpreiskrise seit 1979 – setzte sich Helmut Schmidt für die Kernenergie ein und argumentierte mit der Notwendigkeit der Diversifizierung von Energiequellen. Schmidt war der festen Überzeugung, dass die Kernenergie neben der Kohle und sogar erneuerbaren Energien der Schlüssel zur Energieunabhängigkeit Westdeutschlands sein würde. Darüber hinaus hoffte man, dass die Kernenergie der Bundesrepublik Deutschland weiteres wirtschaftliches und technologisches Prestige verleihen würde, und dass der Export von Nukleartechnik zur wichtigen Einnahmequelle für die deutsche Wirtschaft werden könnte. Obwohl sie die Risiken anerkannten, unterstützten Schmidt und sein Forschungsminister Hans Matthöfer (SPD) die Kernenergie. Sie vertraten den Standpunkt, dass die Wahrscheinlichkeit von Kernschmelzen gering, die Frage der Endlagerung lösbar und der wirtschaftliche und politische Nutzen weitaus größer seien als die Risiken der Technologie. Trotz des nur knapp abgewendeten Super-GAUs von Three Mile Island in den Vereinigten Staaten im Jahr 1979 trieben Schmidt und seine Regierung ihre Pläne für weitere Atomreaktoren in Deutschland voran. Die Atomkraftgegner*innen verzeichneten unterdessen eine steigende Beteiligung an ihren Protesten, vor allem in Brokdorf und Gorleben. 1980 hatten sie sich mit der Gründung der Grünen Partei als künftige parlamentarische Kraft etabliert. Drei Jahre später zogen sie erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Die Spaltung innerhalb der SPD nahm zu.

Helmut Kohl hielt energiepolitischen Kurs bei

Als die sozial-liberale Koalition auseinanderbrach und die CDU/CSU gemeinsam mit der FDP bei der Wahl 1983 eine Mehrheit erreichte, behielt der neue Bundeskanzler Helmut Kohl den von Helmut Schmidt eingeschlagenen Kurs in der Energiepolitik bei. Kohl wollte die damit geschaffenen Arbeitsplätze erhalten und die bereits investierten Mittel sichern. Bereits 1984 brachten die Grünen einen Gesetzentwurf zur Stilllegung aller Atomkraftwerke in Westdeutschland ein, der jedoch von der christlich-liberalen Mehrheit im Bundestag abgelehnt wurde. Die Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 markierte einen wichtigen Wendepunkt für die Kernenergie in Deutschland. Die Kernschmelze im sowjetischen AKW führte zu einem deutlichen Umschwung in der öffentlichen Meinung, und selbst die SPD änderte 1987 ihr Parteiprogramm. Zudem brachte sie einen Gesetzentwurf zum Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie ein; doch auch dieser wurde von der Mehrheit der Union und FDP abgelehnt.

Abschied von der Kernenergie unter Gerhard Schröder

Nach der Bundestagswahl 1998 leitete die von Gerhard Schröder geführte Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Abschied von der Kernenergie ein. Die Koalition verbot den Bau neuer Anlagen und legte fest, wie viel Energie die bestehenden Reaktoren noch produzieren durften. Nachdem Bundeskanzlerin Merkel 2010 diesen Beschluss durch die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken aufgeweicht hatte, korrigierte sie die Entscheidung ein Jahr später nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima: Überprüfungen an deutschen Meilern ergaben vielfältig Sicherheitslücken, und Angela Merkel verkündete den endgültigen Ausstieg aus der Technologie.

Kernenergie in der EU nach wie vor umstritten

Obwohl das Thema während seiner Kanzlerschaft umstritten war, trat Helmut Schmidt insgesamt für die Kernenergie ein. Die Kernenergie berge zwar wegen der ungelösten Frage des Atommülls und möglicher Unfälle Risiken. Energieunabhängigkeit und -sicherheit waren für Schmidt aber die wichtigeren Argumente. Erneuerbare Energien wurden während seiner Kanzlerschaft noch nicht systematisch als Alternative entwickelt. Außerdem plädierte Schmidt für ein mit den internationalen Partnern abgestimmtes Vorgehen bei diesem komplexen Thema; einen einseitigen Ausstieg Deutschlands lehnte er – auch noch im hohen Alter – ab. Die Kernenergie ist in der EU nach wie vor umstritten: So hält Deutschlands wichtigster Partner Frankreich unbeirrt an seiner Haltung fest. Darüber hinaus investieren viele Länder wie die USA, China, Finnland oder Polen verstärkt in die Kernenergie, sodass die Debatte so lebhaft bleibt wie eh und je – gerade angesichts der Notwendigkeit, die globalen Kohlenstoffemissionen zu reduzieren. Nichtsdestotrotz ist der 15. April 2023, an dem die letzten drei Reaktoren in Deutschland abgeschaltet wurde, ein Ereignis, auf das die Anti-AKW-Bewegung mehr als 40 Jahre hingearbeitet haben – in der historischen Betrachtung war der Streit um das Thema eine wichtige Bewährungsprobe für die zweite deutsche Demokratie.

Anti-AKW-Kundgebung in Gorleben, 3. Dezember 1977.

© Günter Zint

 

Besuch Helmut Schmidts in Rehbeck (Kreis Lüchow-Dannenberg), 4. April 1981.

© Wendlandarchiv

 

Unser Gastautor Nicholas Misukanis ist Bundeskanzler-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung und ist eng mit der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung verbunden. Er promoviert derzeit an der University of Maryland über die deutsche Kernenergiedebatte während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt.

© privat

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