Liebe Leser*innen,
in diesem Schmidtletter blicken wir auf die Helmut Schmidt Lecture 2024 zurück. Unter dem Motto „For a Just Democracy!“ diskutierten wir sowohl am Abend der Lecture als auch in der dort präsentierten vierten Ausgabe des BKHS Magazine zahlreiche konkrete Erfolgskriterien für eine widerstandsfähige gerechte Demokratie.
Als Leitung der Programmlinie „Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit“ arbeitet unsere wirtschaftspolitische Expertin Dr. Elisabeth Winter zu den zentralen Fragen an der Schnittstelle von Wirtschaft, Staat und Demokratie. In ihrem Rückblick beleuchtet sie drei Erfolgsfaktoren für eine gerechte Demokratie, die während der Lecture betont wurden: Demokratie „von unten“, Städte- beziehungsweise Lokalpolitik am Beispiel Istanbuls und eine aktive Industriepolitik.
Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Am Ende des Superwahljahres 2024 zeigt sich ein ernüchterndes Bild für die Demokratie. Überall sieht sie sich großen Herausforderungen gegenüber: Die wachsende Zahl von Kriegen, die verschärfte geopolitische Rivalität, die sich zuspitzende Klimakrise und erschütternde soziale sowie wirtschaftliche Ungleichheiten prägen unseren Alltag nicht nur in Deutschland. Hinzu kommen rasante technologische Entwicklungen, die sowohl Chancen als auch Risiken bergen. Statt integrative Antworten auf diese Polykrise zu suchen, ist die politische Landschaft zunehmend von Populismus, Fremdenhass und ökonomischem Nationalismus durchzogen. Diese Strömungen schüren Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen und treiben die Polarisierung weiter voran.
Obwohl antidemokratische Parteien nicht überall flächendeckend erfolgreich waren, ist eine besorgniserregende Machtverschiebung hin zu autoritären Kräften vielerorts spürbar. Doch glücklicherweise gibt es auch kritische Stimmen und engagierte Akteur*innen, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, der in seiner inspirierenden Rede im Rahmen der diesjährigen Helmut Schmidt Lecture eine gerechte Vision von Demokratie präsentierte. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2019 hat er eine demokratische und inklusive Politik entwickelt, die weit über die Grenzen der von ihm regierten türkischen Millionenstadt Stadt. Dank seines Engagements für Transparenz, Teilhabe und soziale Gerechtigkeit hat er nicht nur ideologische Gräben überwunden, sondern auch das Vertrauen der Menschen gewonnen. Mit einem überwältigenden Sieg bei seiner Wiederwahl im Frühjahr 2024 ist İmamoğlu zum neuen Hoffnungsträger für den Wiederaufbau einer gerechten Demokratie in der Türkei geworden.
Der Bürgermeister von Istanbul geht mit gutem Beispiel voran
In seiner Rede unterstrich İmamoğlu die Notwendigkeit, eine neue, positive Sprache zu finden, um die Menschen zu mobilisieren – er sprach von einem „demokratischen Peopleismus“. Diese Neudefinition des Populismus stelle die Bürger*innen in den Mittelpunkt und fördere eine Politik, die die Diversität der Gesellschaft wertschätze. Sie diene als Fahrplan, um bestehende Ungleichheiten zu überwinden und Ausgrenzung entgegenzuwirken. İmamoğlu betonte dabei, dass eine aktive Wirtschaftspolitik unverzichtbar sei, um demokratische Werte zu fördern. Die Wirtschaft kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gefüge haben. Deshalb sei es entscheidend, ökonomische Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie den demokratischen Prozess unterstützen.
Als Beispiel seines Ansatzes nannte er die Initiative zur Schaffung eines Städteaustausches, in dem Städte in Netzwerken zusammenarbeiten, um demokratische Werte zu fördern. Eine solche Partnerschaft verdeutlicht die besondere Bedeutung lokaler Akteur*innen. İmamoğlu war sich sicher: Wenn die Demokratie an der Basis gestärkt wird, fungieren Städte als Katalysatoren für positiven sozialen Wandel. İmamoğlus Vision zeigt, dass durch lokal verwurzelte Demokratie und soziale Teilhabe tragfähige Grundlagen für eine gerechte Gesellschaft geschaffen werden können, in der alle Bürger*innen einbezogen werden und in der deren Stimmen gehört werden.
Wirtschaftspolitik aktiv gestalten
Am Beispiel Istanbuls zeigte Ekrem İmamoğlu, dass eine aktive Wirtschaftspolitik ein bedeutsamer Erfolgsfaktor für eine gerechte Demokratie sein kann. Damit unterstrich der Bürgermeister den engen Zusammenhang von ökonomischen und politischen Fragen. Ebenso erkannten auch die anwesenden Gäste die entscheidende Rolle an, die der Staat beim Schutz der Demokratie spielt: Er müss im öffentlichen Interesse agieren, beispielsweise in dem eine aktive Industriepolitik umgesetzt wird.
In diesem Sinne argumentieren auch mein Kollege Matthew Delmastro und ich unserem Artikel „Industrial Policy for a Just Democracy!“. In der vierten Ausgabe des BKHS Magazine zeigen wir anhand von „Bidenomics“ – dem wirtschaftspolitischen Programm der scheidenden Biden-Administration – dass Industriepolitik nicht nur ein wirtschaftliches Konzept ist, sondern ihre Auswirkungen auch politischer Natur sind. Die amerikanische Industriepolitik bricht selbstbewusst mit dem vorherrschenden Dogma des freien Markts und fördert eine stärkere Einbindung des Staats in die Wirtschaft, um eine Vielzahl unterschiedlicher Ziele zu verfolgen, darunter die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der USA, die Minderung der Auswirkungen des Klimawandels sowie die Stärkung der sozioökonomischen Bedingungen für eine widerstandsfähige Demokratie.
Die Instrumente von Industriepolitik sind vielfältig: Subventionen, berufliche Aus- und Weiterbildung, der Ausbau von Infrastruktur sowie öffentlich-private Partnerschaften sind entscheidend, um die genannten Ziele zu erreichen. Industriepolitik hat also das Potenzial Demokratie zu fördern, wenn beispielsweise Investitionen gezielt in benachteiligten Regionen getätigt werden, um geografische und sozioökonomische Ungleichheiten zu verringern. Solche Maßnahmen stärken das soziale Gefüge und tragen dazu bei, einer gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken. Außerdem kann Industriepolitik auch zur Verringerung von Einkommensungleichheit beitragen, indem sie das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital neu justiert. Durch die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze und der Durchsetzung höherer Löhne, können darüber hinaus Gewerkschaften gestärkt werden, was in einem faireren Arbeitsmarkt resultieren sollte.
Demokratie „von unten" stärken
Um das Vertrauen der Bevölkerung in Demokratie zu stärken braucht es aber ein viel breiteres aktives Engagement seitens des Staates und seiner Repräsentant*innen. Während der Helmut Schmidt Lecture 2024 wurde sowohl auf der Bühne als auch bei der Vorstellung des BKHS Magazines deutlich, wie essenziell es ist, dass der Staat den Bürger*innen direkte demokratische Prozesse erlebbar macht. Dafür braucht es inhaltliche sowie finanzielle Unterstützung zur Förderung einer „Demokratie von unten“. Dabei reicht es nicht aus, die Menschen lediglich zu informieren; sie müssen aktiv in die Gestaltung ihrer unmittelbaren Umgebung einbezogen werden. Entscheidungsträger*innen sind gefordert, aufmerksam zuzuhören und kleine, aber wirkungsvolle Schritte zu unternehmen, um die Sorgen und Bedürfnisse der Bevölkerung ernst zu nehmen. Solche Initiativen stärken nicht nur das Gefühl der lokalen Eigenverantwortung, sondern tragen auch zur Erhaltung und Belebung von Institutionen wie Bibliotheken, Theatern und Schulen bei.
Unser Sprecher Ekrem İmamoğlu hob hervor, dass diese Orte eine entscheidende Rolle für die Lebensqualität in den Gemeinden spielen und somit das Vertrauen in demokratische Strukturen fördern. Sie bieten Raum für offene Diskussionen und respektvollen Austausch, was den sozialen Zusammenhalt stärkt und die Verbindung zwischen Bürger*innen und Regierung intensiviert. Der Erhalt solcher Einrichtungen wird zum Zeichen eines politischen Engagements, das den Bedürfnissen der Gemeinschaft nachkommt. Wenn Bürger*innen sehen, dass konkrete Maßnahmen ergriffen werden, erleben sie, dass ihre Meinungen zählen und ihre Anliegen Gehör finden. Dies ist der Schlüssel zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Demokratie und zur Schaffung eines robusten, inklusiven politischen Klimas.
Werfen Sie jetzt einen Blick in unser BKHS Magazine #4, in dem unsere Autor*innen Erfolgsfaktoren für eine gerechte Demokratie identifizieren. Weitere Eindrücke von unserer Helmut Schmidt Lecture 2024 finden Sie außerdem hier.