Hamburgs zweite „Spiegel-Affäre“ wirft Fragen an Ex-Senator Schmidt auf

Medienwirksame Aktion enttarnte 1980 die Bespitzelung Homosexueller auf öffentlichen Toiletten

Autor/in:Magnus Koch
Fotoabfolge eines Mannes der einen Badspiegel mit einem Hammer zerbricht.

Liebe Leser*innen,

zwischen dem 30. Juni und 2. Juli 1980 schlugen mehrere Aktivist*innen aus der Hamburger Schwulen- und Lesbenszene Spiegel in öffentlichen Toiletten der Hansestadt ein. Sie machten damit endgültig öffentlich, was den Opfern der Überwachung zumindest gerüchteweise schon seit den 1960er-Jahren bekannt war: Dass in kleinen Räumen hinter den von einer Seite transparenten Spiegeln Polizisten saßen, um belastendes Material über Hamburgs Schwule zu sammeln und damit Verstöße gegen den Strafrechtsparagrafen 175 zu ahnden. Dieser verbot bis zu seiner ersten Reform 1969 Sex zwischen Männern.

Die ganze Geschichte und was das alles mit Helmut Schmidt zu tun hat, erfahren Sie anlässlich des Internationalen Tages gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie beziehungsweise -feindlichkeit in unserem Schmidtletter.

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Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Der erste Versuch mit einem Hammer schlug im doppelten Sinne fehl. Das Spezialglas des Toilettenspiegels am Spielbudenplatz gab nicht nach, dafür aber wenig später der Spiegel am Jungfernstieg. Einer der Aktivist*innen, Corny Littmann, damaliger Hamburger Spitzenkandidat der Grün-Alternativen Liste für die Bundestagswahl, hatte sich bei einem Gastronomen einen Hammer geliehen und einen Fotografen mitgenommen. Er dokumentierte die Aktion. Der Blick hinter die Spiegel löste nicht nur in den Medien, sondern auch in der Politik ebenso schnelle wie heftige Reaktionen aus. Einschlägige Publikationen aus den Reihen der Schwulenbewegung der Folgejahre wie auch Presse- und Radiomeldungen dieser Tage werteten die Bespitzelung öffentlicher Toiletten durch die Polizei meist sehr kritisch. Hamburgs Erster Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) zeigte sich beschämt und sorgte für einen umgehenden Stopp der Überwachungen, Innensenator Werner Staak (SPD) bezeichnete sie als „Relikte aus der Zeit der schärferen Strafandrohung für homosexuelle Handlungen“ – dies alles sieben Jahre nach einer zweiten Liberalisierung des § 175 StGB (1973).

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass 1979, also knapp ein Jahr vor dieser zweiten „Spiegel-Affäre“, der Eingabenausschuss der Bürgerschaft eine Petition zur Beseitigung der Spiegel noch abgelehnt hatte. Corny Littmann, langjähriger Präsident des FC St. Pauli, Chef der drei Schmidt-Theater auf dem Kiez und prominenter Kopf der deutschen Schwulenbewegung, erinnert sich in einem Telefonat an die Aktion und stellt einen Zusammenhang mit der auch noch in den 1970er-Jahren repressiven Politik des Hamburger Senats gegen Homosexuelle her. Littmann habe mit der Aktion endlich Klarheit schaffen wollen. Ihm sei es aber vor allem darum gegangen, ein Ende der von der Stadt Hamburg stets geleugneten „Rosa Listen“ zu erreichen. Denn die Toilettenüberwachung diente tatsächlich als Grundlage für Repressionen gegen Schwule: Erteilt wurden Platzverweise und Hausverbote, die Gerichte leiteten außerdem (bis 1969) Strafverfahren wegen Sex zwischen schwulen Männern ein. Die zuständigen Behörden begründeten die Überwachungen intern damit, dass sich andere Toilettenbesucher mitunter belästigt gefühlt hätten, oder dass man insbesondere Kinder und Jugendliche vor schwulen Männern habe schützen müssen.

Blick zurück in die 1960er-Jahre

Die Anfänge der Überwachungen rekonstruierten Ulf Bollmann, Mitarbeiter im Hamburger Staatsarchiv, und der Historiker Gottfried Lorenz für ein Ausstellungsprojekt 2013. Sie konnten nachweisen, dass die wahrscheinlich ersten Schritte zur Einrichtung der „Einwegspiegel“ wohl kurz vor Amtsantritt Helmut Schmidts als Polizeisenator (am 13. Dezember 1961) unternommen wurden. 2006 erschien eine Studie, die belegte, dass die ersten vier Spiegel in Hamburger öffentlichen Toiletten während Schmidts Amtszeit (ab Mai 1962 als Senator im neu gebildeten Innenressort) angebracht wurden, sechs weitere danach (1966 bis 1974). Akten, die Schmidts inhaltliche Position und genaue Rolle in diesen Jahren belegen könnten, sind nach persönlicher Auskunft Bollmanns bisher nicht bekannt. Interessant wäre zu erfahren, was Schmidt in der Sache genau wusste, ob er eher forciert oder gebremst hat und welche Bedeutung das Thema für ihn damals gehabt haben mag.

Bollmann und Lorenz weisen in ihrer Publikation anhand zahlreicher Beispiele das insgesamt repressive Klima gegen Homosexuelle in diesen Jahren nach. Das zeigte sich beispielsweise darin, dass Überlebende der NS-Verfolgung, die wegen ihrer sexuellen Orientierung in Konzentrationslager oder Zuchthäuser verschleppt worden waren, von Hamburger Entschädigungskammern in der Regel als gewöhnliche Kriminelle behandelt wurden – entsprechende Anträge wurden grundsätzlich abgelehnt. Und dies obwohl Homosexualität für den NS-Staat ein höchst politisches Delikt war. Insbesondere Schwule galten als Träger einer ansteckenden Seuche, die den „Volkskörper“ zu infizieren drohten und auch die Wehrhaftigkeit der Nation gefährdeten. Nach Kriegsende (und auch noch bis hinein in die Gegenwart) hielten sich solch abstruse Vorstellungen hartnäckig; vor allem für die 1950er- und 1960er-Jahre belegen Bollmann und Lorenz einen breiten gesellschaftlichen Konsens von Kommunist*innen über prominente Sozialdemokrat*innen bis weit in bürgerliche und liberale Kreise hinein bei homophoben Einstellungen und Bewertungsmustern. Die erste Liberalisierung des 175er-Paragrafen (1969) setzte – damals vermutlich noch gegen eine gesellschaftliche Mehrheit – die Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) durch; seitdem war immerhin einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen Männern legal.

Erste Fragen an Schmidt – 30 Jahre nach der zweiten „Spiegel-Affäre“

Helmut Schmidt habe sich durch sein (Nicht-)Handeln als Hamburger Senator nicht vom gesellschaftlichen Mainstream abgehoben, so die Autoren, aber er trug die politische Verantwortung - auch für die Bespitzelungen in diesen Tagen. Viel später, im Jahr 2010, äußerte sich Schmidt gegenüber der Wochenzeitung Welt am Sonntag  zu seiner Einstellung zum Thema, allerdings nur in Bezug auf seine Politik als Bundeskanzler (1974-1982). Der Journalist fragte ihn nach seiner Position im Rahmen einer weiteren Liberalisierung des § 175, die die FDP als Koalitionspartner der SPD im dritten Kabinett Schmidt 1980/81 auf den Weg bringen wollte. Laut Presseberichten hätten sowohl Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) wie auch die FDP-Minister Hans-Dietrich Genscher und Gerhart Baum geäußert, dass diese Reform am Widerstand Schmidts gescheitert sei – was dieser wiederum in der Welt am Sonntag bestritt. Das Thema habe er für unwichtig gehalten, die sexuelle Orientierung der Menschen sei deren Privatsache und gehöre auch nicht in die Medien. Hier stehen also die Aussagen der Minister gegen die von Schmidt. Weitere Archivstudien müssten erweisen, ob sich Näheres zu Schmidts Positionen in seiner Zeit als Hamburger Senator oder Bundeskanzler herausfinden lässt.

Und heute?

Die endgültige Abschaffung des § 175 kam erst 1994 während der Kanzlerschaft von Helmut Kohl (CDU). Seit 1949 waren rund 50.000 Männer nach dieser Strafnorm verurteilt worden. Angesichts der in vielen Ländern dieser Erde geradezu mörderischen Politik gegenüber Homosexuellen und Menschen mit sexuellen Orientierungen jenseits der Heteronormativität mögen Politik und Maßnahmen auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten in Deutschland vergleichsweise harmlos erscheinen – auch vor dem Hintergrund tausender während des Nationalsozialismus ermordeter, vor allem homosexueller Männer. Gerade der Druck aber, unter dem der liberale Rechtsstaat (nicht nur) in Europa gegenwärtig steht, sollte sensibel machen für das ebenso kostbare wie hart erstrittene Gut, das Toleranz und Vielfalt nicht nur in rechtlichen Fragen in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft bietet. Vor allem dafür ist der 17.5. (nach § 175) des Jahres ein wichtiger Denkanstoß.

Helmut Schmidt steht umgeben von Demonstrierenden an einem Auto und spricht in ein Megaphon.

Hamburg, 31. Oktober 1962. Innensenator Schmidt spricht zu Demonstrierenden anlässlich der Spiegel-Affäre. Nach einem kritischen Artikel über Pläne der Bundeswehr zur atomaren Bewaffnung im Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" veranlasst Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die Verhaftung von Herausgeber Rudolf Augstein. Schmidt kritisiert die Regierung dafür scharf.

© dpa

Fotoabfolge eines Mannes der einen Badspiegel mit einem Hammer zerbricht und dahinter schaut.

18 Jahre später, im Sommer 1980, weckt eine ganz andere Spiegel-Affäre das Interesse der Hamburger Medien, als Corny Littmann mit dem Hammer auf die Bespitzelungsspiegel in öffentlichen Herren-WCs losgeht.

© Corny Littmann

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