Hanseatisch nüchtern: Schmidt pflegte den Volksdialog in Buchform

Aktueller denn je: Helmut Schmidt veröffentlichte fast 50 Titel – Ein Autor mit Überzeugung und Authentizität

Helmut Schmidt mit Papier und Stift auf einem Sessel sitzend.

Liebe Leser*innen,

wussten Sie, dass Helmut Schmidt in den 1960er-Jahren einer der ersten Politiker war, der sich außerhalb des Parlaments in Buchform direkt und unmittelbar an das Volk wandte? 1961 tritt er mit dem Titel „Verteidigung oder Vergeltung, ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der NATO“ im Seewald Verlag an die Öffentlichkeit. Bis zu seinem Tod 2015 wird sein Gesamtwerk fast 50 Titel umfassen.

Im Helmut Schmidt-Archiv in Hamburg-Langenhorn befindet sich neben den eigenen Arbeiten ein zweiter Teilbestand von Schmidts publizistischem Werk: seine Buchmanuskripte und die dazugehörigen Verlagsakten. Unsere Archivarin Karin Ellermann stellt uns in ihrem Schmidtletter den Staatsmann als Buchautor vor, der Fragen behandelte, die heute kaum brisanter sein könnten.

Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



„Verteidigung oder Vergeltung“ ist nicht nur das erste Buch von Helmut Schmidt, es verkörpert auch explizit die Art, mit der er an schwierige Probleme herangeht und Lösungsvorschläge erarbeitet. Gut informiert, nüchtern darlegend, initiativ und von den eigenen Erkenntnissen zu tiefst überzeugt, äußert er sich in diesem Buch zu einer der brisantesten Gegenwartsfragen der Zeit, der Verhinderung eines nuklearen Kriegs in Europa.

Die Idee des militärischen Gleichgewichts

Seinen Ausführungen stellt er ein Zitat des preußischen Militärreformers Carl von Clausewitz voran, welches aktueller nicht sein könnte: „In keinem Fall ist es die Kriegskunst, welche als Präzeptor der Politik betrachtet werden kann. […] Das Unterordnen des politischen Gesichtspunktes unter den militärischen wäre widersinnig. […] Es bleibt also nur das Unterordnen des militärischen Gesichtspunktes unter den politischen möglich.“ In den Vorbemerkungen führt Schmidt aus, dass er den größten Teil seiner parlamentarischen Arbeit der Verteidigungspolitik gewidmet habe: „nicht immer [m]einen Neigungen entsprechend und meistens, ohne davon befriedigt zu sein. Nach diesen Erfahrungen ist es kein Vergnügen, im Parlament als ‚Wehrexperte‘ zu gelten“.

Auf rund 200 Seiten legt Schmidt dar, dass ein dauerhafter Frieden in Europa nur möglich ist, wenn sich beide feindlich gegenüberstehenden Großmächte, die USA und die Sowjetunion, in einem militärischen Gleichgewicht, sowohl bei den konventionellen als auch bei den atomaren Waffen, befinden. Diese grundlegenden strategischen Überlegungen finden ihre Fortsetzung in den Büchern „Strategie des Gleichgewichts: Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte“ (1969) und „Eine Strategie für den Westen“ (1986). Sie bilden auch die Grundlage für Schmidts Politik als Bundeskanzler und Verbündeter der USA bei den Verhandlungen zum SALT-II-Vertrag (Strategic Arms Limitation Talks) von 1979, der den Besitz von nuklearen Trägersystemen begrenzen sollte.

„Verteidigung oder Vergeltung“ wird das einzige Buch bleiben, das mit einem wissenschaftlichen Apparat ausgestattet ist, zusammengestellt von Wolf Loah, einem Kollegen aus der Hamburger Behörde. Das Buch findet in der Öffentlichkeit großen Anklang. Es wird ein Sonderdruck herausgegeben, der an SPD-Mitglieder und Soldaten der Bundeswehr kostenlos verteilt wird. 1965 gibt es die dritte, 1967 bereits die fünfte Auflage.

Im Schlusskapitel findet sich ein Satz, den Schmidt in späteren Jahren mit grünem Faserschreiber unterstrichen hat: „Das oberste Ziel aller auf dem militärischen Felde wirksamen Anstrengungen der NATO und ihrer Mitglieder muss die Herstellung eines stabilen Gleichgewichts sein.“ Eine Aufgabe, vor der Europa heute erneut, wenn auch unter anderen Vorzeichen, steht.

Populärer Politiker und Publizist

Schmidts Bekanntheitsgrad wächst nach Erscheinen des Buchs enorm. 1961 entschließt er sich, nach Hamburg zurückzugehen. Als Bundestagsabgeordneter seit 1953 auf der Oppositionsbank hatte er erste Parlamentserfahrungen gesammelt, die große politische Karriere aber war bis dato ausgeblieben. Die Bundestagswahl 1961 wird daran nichts ändern. Schmidt erhält ein Mandat, die SPD aber bleibt in der Opposition.

1961 steht  auch die Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft an, und die SPD kann mit einem guten Abschneiden und Schmidt mit einem Senatorenposten rechnen. Er wird Polizei- und später erster Innensenator Hamburgs. Frisch zurück in der hanseatischen Heimat sieht er sich 1962 mit einer Jahrhundertflut konfrontiert. Als „Herr der Flut“ wird er den Menschen erneut als fähiger und zupackender Politiker in Erinnerung bleiben. Seine Popularität erreicht einen ersten Höhepunkt.

Schmidt und auch der Seewald Verlag, Schmidts erster Hausverlag, nutzen die Gunst dieser Stunde. „Verteidigung oder Vergeltung“ erlebt mehrere Nachauflagen. 1967 erscheint der erste Band eigener Reden unter dem Titel „Beiträge“. Schmidt summiert unter dem Motto „Politik als Beruf“ seine Wortmeldungen als SPD-Mitglied von 1948 bis 1967. Die von Schmidt ausgewählten Beiträge befassen sich mit wichtigen innenpolitischen Themen und stellen den Autor als kenntnisreichen Politiker dar. Gleichzeitig überblendet der Rückblick die nur langsam in Gang gekommene Karriere im Bundestag und suggeriert einen kontinuierlichen politischen Werdegang.

Beides, Sachkenntnis und ein hoher Informationsgrad gepaart mit Publizität, werden die Standbeine für Schmidt als Buchautor. Dem Lesepublikum präsentiert er seine Einschätzungen und Meinungen in einer gut lesbaren, mit Überzeugung und Authentizität angereicherten Schreibweise.

Biografisch pointierte Geschichtsbücher

Bis in die 1970er-Jahre bleibt der Seewald Verlag Schmidts Hausverlag, bei dem 1969 auch der Titel „Strategie des Gleichgewichts“ erscheint. 1980 wechselt Schmidt zum Siedler Verlag. Hier erscheinen 1985 die Titel „Vom deutschen Stolz“ und „Eine Strategie für den Westen“. 1987 ist eine umfassende Autobiografie angedacht. Die beiden 1987 und 1990 unter dem Gesamttitel „Menschen und Mächte“ präsentierten Bände lassen sich aber eher als biografisch pointierte Geschichtsbücher charakterisieren, in denen Begegnungen mit hochrangigen Politikern und Ereignisse von Weltrang erinnert werden. Schmidt, der offensichtlich Gefallen an dieser Erzählform findet, lässt 1996 in „Weggefährten“ ebensolche auf diese Art zu Wort kommen. Im Mittelpunkt des Buchs steht die Reflexion seines politischen Werdegangs.

Späte Werke

Als Schmidt im Siedler Verlag dem Lektor Thomas Karlauf begegnet, beginnt eine bis zum Tod von Schmidt andauernde Zusammenarbeit. Karlauf wird zum verlässlichen Partner des alternden Politikers. Schmidt vertraut ihm unter der von Karlauf gegründeten Agentur für Autoren die Vermittlung und Herausgabe seiner Bücher an.

Für Helmut Schmidt sind seine Bücher, die in hohen Auflagen bei renommierten Verlagen erscheinen auch eine wichtige Einnahmequelle. Schmidt möchte keine Reichtümer anhäufen, er will vorsorgen, um die eigene private Stiftung nach seinem Tod abgesichert zu wissen. Deshalb ermuntert er auch seine Frau Loki, eigene Bücher zu veröffentlichen. Ein Teil der Einnahmen kommt aber schon zu Lebzeiten anderen Stiftungen zu Gute, so der Loki Schmidt-Stiftung zur Förderung des Naturschutzes und der Landschaftspflege oder der Deutschen Nationalstiftung.

In seinem letzten 2015 bei Hoffmann und Campe erschienenen Buch „Dann wäre ich Hafendirektor geworden“ blickt Schmidt noch einmal auf sein politisches Leben zurück und veröffentlicht darin wiederum eigene Reden und Aufsätze. Das Buch beginnt, ebenso wie die „Beiträge“ von 1967, mit dem „Brief an die Hamburger Freunde“ aus dem Jahr 1962, den Schmidt anonym in der Hamburger Ausgabe der Welt veröffentlichte. Der Kreislauf schließt sich.

Schmidts Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ kann man heute durchaus als „Rara“, als seltenes Buch, bezeichnen, denn es lässt sich nur gelegentlich in Antiquariaten finden. Ob es daran liegt, dass die Leser*innen es nicht wieder aus der Hand geben oder daran, dass es auf schlechtem Papier der 1960er-Jahre gedruckt wurde, ist nicht bekannt. Eine Ausgabe finden Sie in unserer Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ in der Hamburger Innenstadt.

Helmut Schmidt mit Papier und Stift auf einem Sessel sitzend.

Helmut Schmidt im Jahr 1960. Er arbeitete zu dieser Zeit bereits an seinem ersten Buch „Verteidigung oder Vergeltung“.

© Helmut Schmidt-Archiv

Abbildung des Buchcovers.

Heute lässt sich der Titel nur noch gelegentlich in Antiquariaten finden. 

© BKHS/Michael Zapf

Buchseite mit grün markierter Textstelle.

In späteren Jahren unterstrich Schmidt mit grünem Faserschreiber diese Textstelle im Schlusskapitel von „Verteidigung oder Vergeltung“.

© BKHS/Ellermann

Buchregal hinter einem Schreibtisch.

Blick auf die Werke Schmidts im Regal seines Arbeitszimmers. Der Autor wollte seine Bücher zum Nachschlagen immer hinter sich wissen.

© BKHS/Ellermann

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