Was Klassismus mit Demokratie zu tun hat

Konzept bringt Bewegung in die Ungleichheitsdebatte

Autor/in:Eva Krick
Buchstabenwürfel

Liebe Leser*innen,

ist es Ihnen auch schon passiert, dass Sie beim Begriff „Klassismus“ an „Klassizismus“ gedacht haben? Dabei geht es um etwas völlig anderes als um eine kunstgeschichtliche Epoche, nämlich um die systematische Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft.

In diesem Schmidtletter erläutert unsere Autorin Dr. Eva Krick nicht nur das dahinterstehende Konzept. Sie zeigt auch auf, dass die aktuelle Debatte um das Thema genutzt werden kann, um die soziale Schieflage in Deutschland zu verändern und die Demokratie zu stärken.

Eine interessante Lektüre wünscht Ihre
Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


„Klassismus“ ist nicht allen Menschen ein Begriff. Viele hören „Klassizismus“, wenn von Klassismus die Rede ist, und denken an eine kunsthistorische Epoche oder einen bestimmten Baustil. Aber Klassismus bezeichnet etwas anderes: Es geht um die systematische Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft oder der aktuellen sozio-ökonomischen Stellung in der Gesellschaft.

Soziale Ungleichheit ist ein Demokratieproblem

Obwohl sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland immer weiter öffnet und der Europarat Deutschland gerade erst gerügt hat, als äußerst reicher Staat viel zu wenig gegen die wachsende Ungleichheit zu unternehmen, tut sich an dieser Stelle seit Jahrzehnten nichts. Man hat sich an soziale Ungleichheiten gewöhnt, und andere Probleme erscheinen wichtiger.

Dass wir uns den Problemen von Armut, Prekarität und klassistischer Benachteiligung zuwenden, ist aber nicht nur unsere moralische, sondern auch unsere demokratische Pflicht. Angesichts der akuten Krise der Demokratie braucht das Problem dringend mehr Aufmerksamkeit, denn soziale Ungleichheit hat enorme Folgen für Demokratievertrauen, Teilhabegerechtigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Systemstabilität.

Sozial marginalisierte, von Armut betroffene Bürger*innen haben ein besonders geringes Vertrauen in staatliche Institutionen und sie beteiligen sich politisch signifikant weniger. Die wachsende soziale Ungleichheit ist europaweit mit den Erfolgen rechter Parteien verknüpft, auch wenn es nicht die sozial Abgehängten sind, die rechtsextremen Parteien zu ihren enormen Wahlerfolgen verhelfen. Aber abnehmende soziale Sicherheit führt zu Verunsicherung, Abstiegsängsten und Wut, sie gefährdet den sozialen Zusammenhalt und begünstigt die Radikalisierung bis in die Mitte der Gesellschaft. Außerdem wäre es durchaus möglich, ein Gegengewicht zu den Stimmengewinnen der extremen Rechten zu schaffen, indem man der Wahlapathie sozial stark benachteiligter Personen mit überzeugenden politischen Angeboten begegnet.

Klassismus – ein frischer Blick auf ein altes Problem

Rund um das Konzept Klassismus entwickelt sich gerade eine neue Perspektive auf das Problem, mit der möglicherweise Chancen verbunden sind. Analog zu den bekannteren Diskriminierungsformen Sexismus und Rassismus, aber auch weniger bekannten Formen wie die Ungleichbehandlung aufgrund von Behinderung (Ableismus) oder Alter (Ageismus), ermöglicht die Klassismusbrille eine andere Sicht auf das alte Problem der sozialen Ungleichheit.

Das Klassismuskonzept lenkt den Blick direkter auf die negativen Folgen von Armut als der neutrale Begriff der sozialen Ungleichheit. Es erlaubt sowohl den Fokus auf persönliche Betroffenheit und individuelles Handeln als auch auf strukturell-politische Ursachen und Maßnahmen. Durch die Analogie zu anderen Diskriminierungsformen ist sofort augenscheinlich, dass es sich um eine ungerechte, eine unverdiente Benachteiligung handelt. Und es holt diejenigen ab, die gegen Diskriminierung und für Diversität kämpfen, sich aber die Benachteiligung aufgrund der Klassenlage bisher noch nicht so stark bewusst gemacht haben. Im Gegensatz zu den etablierten und etwas verstaubten Begriffen der sozialen Ungleichheit oder sozialen Gerechtigkeit macht Klassismus als neues Konzept neugierig. Es kann Schwung in die Ungleichheitsdebatte bringen.

Klassismus oder Klassenkampf? Es gibt Streit um das Klassismuskonzept

Die Debatte hat Potenzial – auch weil Klassismus durchaus ein umstrittenes Konzept ist. Kritiker*innen bemängeln, dass es sich bei der sozialen Stellung, im Gegensatz zu anderen Diskriminierungsmerkmalen, nicht um ein unveränderbares Merkmal einer Person handelt und deshalb andere Logiken gelten. Das mag sein, aber solche Unterschiede herauszuarbeiten kann ja zum einen erhellend sein. Zum anderen gibt es auch viele Ähnlichkeiten, die verdeutlichen können, dass es sich auch hier um die systematische und völlig unverdiente Benachteiligung bestimmter Gruppen handelt. Und schließlich hängt auch die soziale Lage nicht nur vom – durchaus veränderbaren – Zugang zu ökonomischen Kapitalformen ab, und auch Diskriminierungsdimensionen wie Alter und Aussehen sind keineswegs völlig fix.

Einige stellen sich auch die Frage, wieso überhaupt wieder von „Klasse“ die Rede ist, welcher Bezug zum Marxismus besteht und ob es Klassen in Deutschland überhaupt gibt. Klasse ist allerdings in der Soziologie ein ganz üblicher Begriff der Sozialstrukturanalyse, mit dem man etwa Beschäftigungstypen mit unterschiedlichen Qualifikations- und Einkommensniveaus und unterschiedlichen Arbeitslogiken differenziert. Die Klassismusdebatte schließt außerdem an die „classism“-Debatte im anglophonen Kontext an, wo „class“ weniger stark an Marx erinnert, sondern eher der „sozialen Lage“ im Deutschen entspricht.
Eine weitere Sorge ist, dass der Fokus auf Klassismus die Notwendigkeit des „Klassenkampfs“ verdrängt. In der Tat ist es wichtig, dass die Wurzel des Übels nicht aus dem Blick gerät, nämlich die zunehmende sozio-ökonomische Ungerechtigkeit. Man muss verschiedene Perspektiven auf ein Problem aber auch gar nicht in Konkurrenz zueinander stellen. Wichtig ist vielmehr die Verknüpfung der Klassismusperspektive mit der Armuts-, der Stadtentwicklungs- oder der Bildungsforschung.

Und was nun?

In den letzten Jahren sind in Deutschland unter der Klassismusüberschrift viele Berichte von Betroffenen veröffentlicht worden. Ganz unterschiedliche Perspektiven und Textformen versammelt etwa der auch von der Bundeszentrale für politische Bildung kürzlich herausgegebene Sammelband „Klasse und Kampf“. Solche Einblicke in individuelle Erfahrungen machen die mit Armut und Prekarität verbundenen Probleme auf eine besondere Weise erfassbar, ohne dass strukturell-politische Fragen ausgeschlossen werden müssen. Sie können Empathie wecken für die Ausschlusserfahrungen sozio-ökonomisch Benachteiligter. Das ist dringend nötig bei einem derart verfestigten Problem, dessen Ausmaß und Ursachen weitgehend bekannt sind, ohne dass sich etwas bewegen würde. Wichtige Fragen, die wir uns stellen müssen, sind unter anderem: Welche politischen Gegenmaßnahmen sind sowohl wirksam als auch über Lagergrenzen hinweg zustimmungsfähig? Wie können wir besser mobilisieren gegen soziale Ungerechtigkeiten?
Die durch die Klassismusdebatte gewonnene Aufmerksamkeit können wir nutzen, um die soziale Schieflage in Deutschland zu verändern und die Demokratie zu stärken.

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Klassismus ist die systematische Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft oder der aktuellen sozio-ökonomischen Stellung in der Gesellschaft.

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Es ist nicht nur unsere moralische, sondern auch unsere demokratische Pflicht, dass wir uns den Problemen von Armut, Prekarität und klassistischer Benachteiligung zuwenden.

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Buchstabenwürfel

Soziale Ungleichheit hat enorme Folgen für Demokratievertrauen, Teilhabegerechtigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Systemstabilität.

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Autorin: Dr. Eva Krick

Programmleitung „Demokratie und Gesellschaft“

Dr. Eva Krick ist neben ihrer Tätigkeit bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung an die Universität Mainz und das SKAPE Centre for science, knowledge and policy der University of Edinburgh angebunden. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Bürger*innenbeteiligung und demokratische Innovationen, das Verhältnis von Wissen und Politik, Demokratietheorie sowie Governance- und Institutionenanalysen.

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