Aus „Härtefällen“ wurden „vergessene Opfer“ der NS-Diktatur

„Tatbestand des Völkermords erfüllt“ – Helmut Schmidt ebnet Weg für Rehabilitierung deutscher Sinti und Roma

Autor/in:Magnus Koch
Einige Männer, darunter Helmut Schmidt, sitzen um einen Konferenztisch.

Liebe Leser*innen,

diesen Monat jährte sich der Jahrestag einer Erklärung, die für die historische Verantwortung in der deutschen Politik steht, zum 40. Mal: Bundeskanzler Helmut Schmidt erkannte im März 1982 die Verbrechen der NS-Diktatur an den Sinti und Roma als Völkermord an. Eine späte Bestätigung, für die Überlebende lange vergeblich gekämpft hatten.

In unserem aktuellen Schmidtletter lesen Sie, welche Schritte bis zu dieser Erklärung notwendig waren und welche persönlichen Erinnerungen Romani Rose, der Vorsitzende des "Zentralrats Deutscher Sinti und Roma", an sein letztes Treffen mit Helmut Schmidt im Jahr 2014 hat. 

Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen 
Ihre Bundeskanzler-Helmut Schmidt-Stiftung



Am 17. März 1982 trifft Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des gerade neu gegründeten „Zentralrats Deutscher Sinti und Roma“ zu einem eineinhalbstündigen Gespräch. Wichtigster Punkt ist die Anerkennung des Völkermords aus „rassischen“ Gründen an der Minderheit während der nationalsozialistischen Diktatur. Seit den 1970er-Jahren kämpfen die Sinti und Roma auch öffentlich dafür, dass eine halbe Million Tote und nur wenige Tausend Überlebende von Staat und Gesellschaft als NS-Opfer wahrgenommen werden. Dieses Ziel haben sie nach der Besprechung zumindest formell erreicht. Nicht nur der Opferverband, auch viele Medien berichten dieser Tage vom 40. Jahrestag einer Erklärung, die für die Übernahme historischer Verantwortung in der bundesdeutschen Politik steht.

Furchtbare Juristen

Das Gespräch sei „offen und sehr harmonisch verlaufen“, heißt es in einer Erklärung des Zentralrats vom 18. März 1982. Bis dahin sind 37 Jahre lang die Versuche der wenigen Überlebenden, die tatsächlich den Gang vor Behörden oder Gerichte wagten, vergeblich gewesen. Neben den Opfern der sogenannten „Erbgesundheitsgerichte“, den Homosexuellen, den als „asozial“ Verfolgten, den Zeugen Jehovas oder den Verfolgten der NS-Militärgerichte gehören auch die Sinti und Roma zu den später als „vergessene Opfer“ bezeichneten Gruppen. Sie hat das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) in seinen verschiedenen Fassungen seit 1953 systematisch von jeglicher Rehabilitierung ausgenommen – und das, obwohl der NS-Staat die Sinti und Roma erklärtermaßen als „rassisch minderwertig“ verfolgte und ermordete. So spiegeln sich in den Ablehnungsbescheiden der Gerichte aus der Nachkriegszeit oftmals die Mentalitäten der ehemaligen Verfolger*innen wider. Besonders hart trifft die zum Teil bis heute als „Zigeuner“ verunglimpften Menschen ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) von 1956. Die Richter des höchsten deutschen Zivilgerichts stellen die Ermordung hunderttausender Menschen zwar nicht grundsätzlich infrage, formulieren aber, dass eine Verfolgung aus „rassischen“ Gründen lediglich seit 1943 vorliege. Staatliche Verfolgungsmaßnahmen davor seien legitim gewesen, da sie durch „eigene [d. Sinti und Roma] Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ selbst veranlasst gewesen seien. Wörtlich heißt es weiter: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“ Zwar relativiert im Jahre 1963 eine neue Formulierung des BGH diesen selbst zutiefst rassistischen Urteilspruch. Gleichwohl bleiben viele Härten bestehen und erfolgreiche Verfahren für die wenigen Überlebenden weiterhin die Ausnahme. 

Zivilgesellschaftlicher Protest und parlamentarische Initiativen

Ein Meilenstein in der Auseinandersetzung um einen für die Sinti und Roma zumutbaren Umgang mit dem Thema ist der Amtsantritt Willy Brandts im Herbst 1969. Die Signalwirkung des ersten von der SPD gestellten Bundeskanzlers, der selbst vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ins Ausland fliehen musste, ist enorm. Doch die Fortschritte verlaufen auch in den 1970er-Jahren schleppend; erst eine Reihe zum Teil spektakulärer Aktionen von Aktivist*innen aus einer zunehmend selbstbewusst auftretenden Zivilgesellschaft bringen die Dinge voran. So treten am 4. April 1980 zwölf Angehörige der Minderheit auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau nahe München in den Hungerstreik. Sie fordern Aufklärung über den Verbleib von NS-„Zigeunerakten“, die Behörden in der Bundesrepublik noch immer dazu dienen, Entschädigungsanträge abzulehnen. Die Aktivist*innen möchten außerdem erreichen, dass Polizei und Justiz vor allem in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hamburg nicht mehr Personalien, Fingerabdrücke und andere Daten von Sinti und Roma in gesonderten Karteien speichern. 

Ein positives Ergebnis solcher Aktionen ist der erfolgreiche Versuch, beim fünften Bundeskanzler der Bundesrepublik Gehör zu finden. Helmut Schmidt hat als Finanzminister 1973 noch zurückhaltend auf die Erweiterung des Personenkreises reagiert, der durch den Staat finanziell entschädigt werden soll. Etwas anderes jedoch ist die Anerkennung des Leids, das die Sinti und Roma erfahren haben. Am Ende des Treffens stehen die entscheidenden Sätze, die den Ausgangspunkt für die historische und juristische Auseinandersetzung der kommenden Jahre bilden sollten: 

„Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt [...]. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt.“

Darüber hinaus spricht sich Schmidt für eine moralische Wiedergutmachung aus und betont die Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, die Opfer zu entschädigen sowie ihre gesellschaftliche Lage zu verbessern. Das bedeutet einen Neubeginn im Verhältnis der Bundesregierung zu den deutschen Sinti und Roma. Noch kurz vor seiner Abwahl als Bundeskanzler sorgt Schmidt außerdem dafür, dass eine vom Bund finanzierte Geschäftsstelle des Zentralrats in Heidelberg eingerichtet wird.

Der Erklärung der Bundesregierung nach dem Treffen im März folgt am 26. August desselben Jahres die Einrichtung eines ersten Fonds für „Verfolgte nicht jüdischer Abstammung zur Abgeltung von Härten in Einzelfällen im Rahmen der Wiedergutmachung“. Es ist den Behörden fortan möglich, „in besonderen Ausnahmefällen“ zusätzlich zu einmaligen auch laufende Beihilfen zu gewähren. Es geht also in dieser Zeit noch ausdrücklich um sogenannte Härtefälle, ein Rechtsanspruch wird ausgeschlossen. Gleichwohl ist die Einrichtung des Fonds der Auftakt weiterer, seit Mitte der 1980er-Jahre maßgeblich von den Grünen, später auch von der SPD, in den Bundestag eingebrachten Forderungen und Anträgen, die dann auch schrittweise umgesetzt werden; zentrale Punkte auch hier: die Auseinandersetzung mit aktuellen Benachteiligungen und Schikanen der deutschen Gesellschaft gegenüber den Sinti und Roma.

Der Blick auf die Gegenwart

Bei dem Kampf für die Rechte der eigenen Minderheit, so betont Romani Rose, damals wie heute Vorsitzender des "Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma", sei es nicht nur um die Anerkennung der historischen Tatsachen gegangen. Zentral sei für ihn das Miteinander von Mehrheitsgesellschaft und Minderheit in der Gegenwart. Die Sinti und Roma leben seit über 600 Jahren auf deutschem Boden, für die deutsche und abendländische Kultur gingen von ihnen wichtige Impulse aus. Schmidt und Rose bleiben über die Jahre im Kontakt. So fragt der Zentralratsvorsitzende Schmidt 2004 für ein Grußwort anlässlich einer Gedenkveranstaltung an. Schmidt muss mit Rücksicht auf seine Gesundheit absagen, liefert aber gern den Text. Der im Helmut Schmidt-Archiv überlieferte Brief zeigt die Verbundenheit Schmidts zum Thema. Eine Brücke bildet, wie so oft bei Schmidt, die Kultur und dabei vor allem die Musik. Das wird auch bei einem Treffen von Rose und Schmidt 2014 deutlich. Rose erinnert sich, dass der Altkanzler zunächst sehr interessiert gewesen sei an den schwierigen Lebensbedingungen der Sinti und Roma insbesondere in Osteuropa – ein Punkt, der gerade heute, im Jahr 2022, angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der besonders prekären Situation von Roma-Kriegsflüchtlingen nichts von seiner Aktualität verloren hat. Tief beeindruckt habe Rose im Gespräch 2014 aber vor allem die große Sachkenntnis Schmidts, der die Einflüsse der Sinti und Roma auf Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Franz Liszt und andere bedeutende Musiker und Komponisten sehr gut einzuordnen gewusst habe.

Einige Männer, darunter Helmut Schmidt, sitzen um einen Konferenztisch.

Am 17. März 1982 erkannte Kanzler Helmut Schmidt für die Bundesregierung erstmals den Völkermord an rund 500.000 Sinti und Roma an.

© sintiundroma.de

Menschen versammeln sich vor zwei Blumenkränzen, die an einer Mauer lehnen. An dieser sind die Jahreszahlen 1933 bis 1945 angebracht.

Aktivist*innen und Überlebende des NS-Völkermords vor der Gedenkwand in der KZ-Gedenkstätte Dachau, 4. April 1980.

© Günter Zint

 

Menschenmenge läuft mit zwei Blumenkränzen über einen Platz. Zwei von ihnen tragen gestreifte Anzüge und Kopfbedeckungen.

Angehörige der Minderheit bei der Aktion am 4. April 1980 auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau.

© Günter Zint

Romani Rose und Altkanzler Helmut Schmidt sitzen an einem Schreibtisch.

Romani Rose und Helmut Schmidt bei einem Treffen in dessen Hamburger Büro bei der Wochenzeitung „Die Zeit“.

© sintiundroma.de

Helmut Schmidt schreibt in einem Brief an Romani Rose, dass er sich lebhaft an die gemeinsame Begegnung zurückerinnert.

Brief von Helmut Schmidt an Romani Rose, 2004

© Helmut Schmidt-Archiv

Aufnahmen eines Gebäudekomplexes von oben.

Dokumentations- und Kulturzentrum in Heidelberg. Von der 1997 eröffneten Einrichtung gehen wichtige Impulse nicht nur für die historisch wissenschaftliche Aufarbeitung des Genozids aus. Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen zeigen die Geschichte und Kultur der Sinti und Roma in Deutschland.

© sintiundroma.de

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