Das Friedensprojekt Europa scheitert täglich im Mittelmeer

Die Zwischenbilanz zum Europatag am 9. Mai stimmt nachdenklich

Rettungspersonen in einem Schlauchboot steuern blaues Boot zu, das mit Menschen mit Schwimmwesten überfüllt ist.

Liebe Leser*innen,

am 9. Mai feiern wir in Deutschland und Europa auch in diesem Jahr wieder den Europatag. Wir gedenken, so formuliert es die Europäische Union (EU) auf ihrer Webseite, „dass wir in Europa in Frieden und Einheit leben.“ Aber wie erfolgreich ist das Friedensprojekt Europa eigentlich noch? Wir ziehen heute eine kritische Zwischenbilanz. Und: Wir laden Sie ein zu einem Rundgang durch das Wohnhaus von Loki und Helmut Schmidt in Hamburg-Langenhorn, in dem sich die Idee von Europa in vielerlei Hinsicht widerspiegelt. Die Führung ist derzeit nur per Video möglich, aber wir sind zuversichtlich, dass bald auch wieder persönliche Begegnungen in dem berühmten Reihenhaus in Langenhorn möglich sind. Begegnungen, die auch das Friedensprojekt Europa nach 1945 voranbrachten.

Bleiben Sie also optimistisch – nicht nur persönlich, sondern auch in Bezug auf die Zukunft Europas!
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Noch keine zehn Jahre ist es her, dass die EU am 10. Dezember 2012 für ihre Leistung, Frieden und Freiheit in Europa zu wahren, vom Nobelkomitee in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Fast genau ein Jahr zuvor rief Helmut Schmidt in seiner letzten Rede auf einem SPD-Bundesparteitag am 4. Dezember 2011 zum Einsatz für das europäische Projekt auf. Er betonte insbesondere die historischen Errungenschaften des Einigungsprozesses für Frieden in Europa: „Wenn heute der größte Teil Europas sich der Menschenrechte und des Friedens erfreut, dann hatten wir uns das weder 1918 noch 1933 noch 1945 vorstellen können. Lasst uns deshalb dafür arbeiten und kämpfen, dass die historisch einmalige EU aus ihrer gegenwärtigen Schwäche standfest und selbstbewusst hervorgeht!“ 

Heute scheint es, als sei nicht viel geblieben von der Idee der EU als „Friedensprojekt“ auf dem Kontinent oder gar als „Friedensmacht“ in der Welt. Die Liste der aktuellen Widersprüche in dieser Idee ist lang. Es ist eine „Krise der vielen Krisen“, wie es der Politikwissenschaftler Andreas Grimmel in seinem Buch „Die neue Europäische Union“ beschreibt, die das Friedensprojekt im innersten Kern treffen.

Das Friedensprojekt EU scheitert täglich im Mittelmeer. Seit 2014 sind nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 20.000 Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa ertrunken. Erst Ende April 2021 gerieten vor der libyschen Küste drei Schlauchboote in Seenot: 130 Geflüchtete starben. In Lagern, wie auf der griechischen Insel Lesbos, leben Geflüchtete in menschenunwürdigen Zuständen. An der EU-Außengrenze sind sie illegalen „Pushbacks“ ausgesetzt, durch die sie teilweise gewaltsam und ohne abgeschlossene Asylverfahren in die Länder zurückgeschickt werden sollen, aus denen sie flohen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex steht seit Monaten dafür in der Kritik.

Die Jahresberichte der weltweit größten Demokratieforschungseinrichtungen belegen darüber hinaus einen globalen Trend zur Autokratie, der auch Europa betrifft. Den Absturz Ungarns im Demokratie-Index von Freedom House bezeichnet die Organisation selbst als „beispiellos“. Auch das Varieties of Democracy-Institut urteilt, Ungarn könne angesichts der Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit oder die Unabhängigkeit der Justiz nicht mehr als Demokratie bezeichnet werden. Zu diesen Entwicklungen kommen Beschränkungen der Grundrechte von Bevölkerungsgruppen. Ungarns Parlament stimmte im Dezember 2020 etwa für eine Verfassungsreform, nach der nur noch heterosexuelle Paare als Eltern anerkannt werden. In Polen gilt seit Januar 2021 ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot. Das sind auch Fragen, die das Friedensprojekt Europa im Kern betreffen, da es darum geht, wer in Europa in Frieden und Freiheit leben darf.

Und dann lässt die außenpolitische Rolle der EU Fragen am Leitbild einer globalen Friedensmacht aufkommen. Der „Weltfriedensindex“ des australischen Institute for Economics and Peace zeigt, dass sich der Friedenszustand der Welt 2020 zum neunten Mal innerhalb der vergangenen zwölf Jahre verschlechtert hat. Die Zahl der weltweiten Kriegstoten nimmt zwar ab, Kriegsgewalt nimmt aber gerade in Ländern zu, in denen die EU besonders aktiv Maßnahmen zur Konfliktbewältigung umsetzt. Dazu zählen Afghanistan, Mali oder Niger. Der malische Menschenrechtler Drissa Traoré formulierte das Dilemma in der französischen Zeitung Le Monde jüngst besonders klar, indem er aufzeigte, dass in seinem Land im Jahr 2020 mehr Zivilist*innen von im Rahmen der multinationalen EU-Trainingsmission ausgebildeten malischen Streitkräften getötet wurden als von islamistischen Milizen.

Das Selbstbild „Friedensprojekt“ auf dem Prüfstand

Liegt unsere Wahrnehmung, dass Europa als Friedensprojekt scheitert, auch daran, dass wir ein überzogenes Selbstbild über die Friedensvisionen im europäischen Einigungsprozess pflegen? So argumentiert Kiran Patel, Professor für Europäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und in diesem Jahr der erste Scholar-in-Residence der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung und des Europa-Kollegs Hamburg, in seinem Buch „Projekt Europa: Eine kritische Geschichte“. 

Ein Beispiel ist der Umgang mit dem Europatag selbst. Der Tag geht zurück auf das Datum der Schuman-Erklärung zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl am 9. Mai 1950. In seiner Rede legte der damalige französische Außenminister Robert Schuman eine Zukunftsvision für die Zusammenarbeit in Europa dar. Durch die Zusammenlegung der für die Rüstungsindustrie so wichtigen Kohle- und Stahlproduktion sollte ein erneuter Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, nach dem berühmten Wortlaut der Erklärung, „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ gemacht werden. Patel weist jedoch darauf hin, dass Frieden nicht das alleinige Handlungsmotiv der beteiligten Akteure war; und dass die europäische Einigung in ihren frühen Tagen mehr von Frieden als Grundbedingung profitierte, als dass sie ihn selbst prägte. Man mag ergänzen, dass Frankreich zur Zeit der Erklärung einen blutigen Kolonialkrieg in Indochina führte, in dem Schätzungen zufolge hunderttausende Zivilist*innen ums Leben kamen. Das hat mit einem Friedensprojekt nicht viel zu tun.

Ein weiteres Beispiel für überhöhte friedenspolitische Hoffnungen im Handeln der EU sind die Jugoslawienkriege. 1991 kommentierte der damalige Ratspräsident und luxemburgische Außenminister Jacques Poos angesichts der Gewalt: „Dies ist die Stunde Europas.“ Gemeint war, dass die Gemeinschaft aufgrund ihrer geografischen Nähe und Identität als Wertebündnis Verantwortung für Konfliktbewältigung übernehmen sollte. Im Zuge der Konflikte in Slowenien, Kroatien und Bosnien zeigte sich jedoch, dass sie dieser Herausforderung nicht gewachsen war: „Europa“ war vor allem durch Bemühungen der Mitgliedstaaten sichtbar, diese Konflikte zu beenden. Eine größere Rolle spielten die USA und NATO. 

Warum sich ein langfristiger Blick auf das Friedensprojekt Europa lohnt

Doch der historische Blick auf die EU und ihre Vorgängerinstitutionen hilft gleichzeitig, aktuelle Krisenerzählungen über die Idee des „Friedensprojektes“ einzuordnen und den Beitrag des Einigungsprozesses für Frieden in Europa trotz aller Widersprüche nicht zu unterschätzen. 

Die Historikerin Stella Ghervas erzählt beispielsweise in ihrem gerade erschienenen Buch „Conquering Peace: From the Enlightment to the European Union“ europäische Geschichte nicht anhand ihrer Vielzahl an Kriegen, sondern entlang der Kontinuitäten der Idee der Friedensschaffung, die die Bemühungen für ein vereintes Europa bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert geprägt haben. Und Kiran Patel analysiert in „Projekt Europa“, wie der Einigungsprozess nach 1945 zu Frieden beitrug - durch eine mit ihm entstehende Kultur des Kompromisses und der Vertrauensbildung zwischen politischen Eliten, die sich regelmäßig zu Verhandlungen an einem Tisch versammelten. Diese Bedeutung persönlicher Kontakte findet sich auch in der politischen Biographie Helmut Schmidts. Schmidt empfing regelmäßig Staats- und Regierungsoberhäupter europäischer Nachbarländer in seinem Wohnhaus in Hamburg-Langenhorn. 

In unserem Kurzfilm „Friedensprojekt Europa – mitten in Hamburg!“ zeigen wir, welche Räume und Objekte im Wohnhaus der Schmidts besonders eng mit der Idee von Europa als „Friedensprojekt“ in Verbindung stehen.

Kurzfilm ansehen

Rettungspersonen in einem Schlauchboot steuern blaues Boot zu, das mit Menschen mit Schwimmwesten überfüllt ist.

Die Rettungsmannschaft der Sea-Watch 3 nähert sich einem Boot mit 97 Migrant*innen. Die deutsche Seenotrettungsorganisation ist ständig auf dem Mittelmeer im Einsatz, so auch Ende Februar 2021, als dieses Bild entstand.
© Selene Magnolia/Sea-Watch.org

Bild von zwei Frauen mit Europaflagge.

Die Idee, Frieden und Freiheit in Europa zu wahren, will die Europäische Union mit dem Europatag am 9. Mai in die Zukunft tragen. 
© iStock

Loki und Helmut Schmidt blicken zu dem um einen Kopf größeren Valéry Giscard d’Estaing auf, der beim Sprechen gestikuliert.

Loki und Helmut Schmidt nutzten ihre private Umgebung zur Pflege politischer Kontakte, so auch zum französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing, der als enger Freund oft am Neubergerweg zu Gast war. Diese Aufnahme entstand bei einem offiziellen Besuch am 23. Juni 1978. © BKHS/Helmut Schmidt-Archiv

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