Liebe Leser*innen,
ein Begräbnis lässt Menschen innehalten, eine Zeit lang ruhen und auch in tiefe Trauer fallen. Beisetzungen verlaufen eher still und leise, ein Kreis von Hinterbliebenen kommt zusammen. Manche Trauerfeiern der Zeitgeschichte jedoch sind das genaue Gegenteil. Sie werden als riesiges Staatsbegräbnis zu einem medialen Event, vergleichbar mit einer Thronfolge des europäischen Hochadels. Nicht selten bieten sie auch die Chance für Treffen, in denen weltpolitische Weichen gestellt werden. Erst vor zwei Wochen bei der Zeremonie anlässlich des Todes von Papst Franziskus konnten wir erleben, wie US-Präsident Donald Trump und der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj am Rande der Beisetzung zu einem Vier-Augen-Gespräch zusammenkamen.
Unser Archivar Axel Schuster blickt in diesem Schmidtletter auf ein Begräbnis, bei dem sich vor 45 Jahren eine außerordentlich große Trauergemeinde aus Ost und West in Belgrad versammelte: das sogenannte „working funeral“ von Josip Broz Tito. Lesen Sie, wie auch Helmut Schmidt diese Gelegenheit als Ort der stillen Diplomatie nutzte – etwa, um deutsch-deutsche Gespräche mit Erich Honecker zu führen.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Als eines der großen Begräbnisse des 20. Jahrhunderts ging die pompöse Beisetzung von Bundeskanzler Konrad Adenauer mit TV-Übertragungen bis nach Japan und in die USA in die Geschichte ein. Zu Adenauers Trauerfeier am 25. April 1967 kamen die wichtigsten, westlichen Vertreter an den Rhein. Auch zwei damals nur in Abneigung verbundene Politiker, der US-Präsident Lyndon B. Johnson und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle, gaben sich schließlich die Hand. Vertreter des Ostblocks blieben der Beisetzung fern, allein die Sowjetunion schickte ihren Botschafter aus Bonn, der Kalte Krieg war noch nicht reif für ein Zusammentreffen von Ost und West und für mehr Entspannung in der Welt. Das sollte sich 13 Jahre später bei einem „working funeral“ als dem Begegnungsort stiller Diplomatie im Kalten Krieg anders darstellen: dem „Arbeitsbegräbnis“ von Belgrad.
Jugoslawiens Dritter Weg
Am 4. Mai 1980 verstarb in Ljubljana Jugoslawiens Staatspräsident Josip Broz Tito. Sein Tod mit 88 Jahren war absehbar nach schwerer Krankheit und beendete ein Zeitalter. Er war, wie Die Zeit es nannte, der „letzte Habsburger“, der das Kunststück fertigbrachte, aus der k.u.k.-Erbmasse Österreich-Ungarns einen kommunistisch-kapitalistischen Staat zu formen und ihn als ein blockfreies Land zwischen Ost und West zu regieren. Durch Titos Autorität existierte Jugoslawien in Nachfolge des Vielvölkerstaats mit auseinanderdriftenden Interessen und abfallenden Lebensstandards von Nordwest nach Südost. Tito war die integrierende Figur der Slowenen, Kroaten, Serben, Bosniaken, Mazedonier, Montenegriner und Kosovaren.
Jugoslawien nahm nach dem Zweiten Weltkrieg eine Sonderrolle ein: Der „Eiserne Vorhang“ ging nicht durch diese sozialistische föderative Republik (SFRJ). Sie widersetzte sich der sowjetischen Hegemonialpolitik, suchte auch keine bedingungslose Anlehnung an den Westen, sondern definierte unter Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens einen Dritten Weg, also einen milden Sozialismus zwischen dem Moskauer Kommunismus und dem westlichen Kapitalismus, wirtschaftlich gesprochen mit weniger zentralstaatlicher Lenkung zugunsten einer Arbeiterselbstverwaltung. Die jugoslawische Wirtschaft florierte ab den 1960er-Jahren dank großzügiger Kredite westlicher Länder und des Internationalen Währungsfonds, mündete jedoch in den 1970er-Jahren in Staatsverschuldung und finanzieller Abhängigkeit. Außenpolitisch positionierte Tito das Land seit 1961 innerhalb der Blockfreien Staaten.
Aber was kam nach Tito, der einen luxuriösen Lebensstil gepflegt und den Personenkult um ihn „zwischen Berufsrevolutionär und Grandseigneur“ befördert hatte? Es gab keine aufgebaute Nachfolge. Zum Ende seiner Ära nahm der Nationalismus verstärkt an Fahrt auf. Schließlich sollte eine kollektive Führung mit Ämterrotation und verteiltem Nationalitäten-Proporz die Regierungsgeschäfte nach seinem Tod führen.
Konflikte und Kriege prägen die Zeit
Im Jahr 1980 gab es große Spannungen zwischen Ost und West. Schon im Januar 1979 hatten die Regierungschefs der USA, von Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik beschlossen, Schah Pahlavi von Persien zugunsten Ajatollah Chomeini nicht mehr zu unterstützen. Dadurch bereiteten sie den Weg für eine Islamische Republik Iran. Die Geiselnahme in der US-Botschaft von Teheran hielt seit November die Politik in Atem. Die Sowjetunion marschierte mit ihren Truppen im Dezember 1979 in Afghanistan ein, um die neue kommunistische Regierung zu unterstützen. Die USA leisteten indessen Militärhilfe für die Mudschahedin, Stellvertreterkriege beherrschten die Situation im Nahen Osten. Kritiker bezeichneten selbst das von einem gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten geführte Jugoslawien als ein instabiles, zerbrechliches, nach 35 Jahren gescheitertes Land. Ein Zusammentreffen führender Regierungschefs zu informellen Gesprächen über Krieg und Frieden war dringend geboten. Diese Chance ergab sich bei Titos Beisetzung im Mai 1980.
„So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“
So zitierte der Spiegel Helmut Schmidt in Belgrad. Laut Tagesschau vom 8. Mai kamen Vertreter aus 115 Staaten zusammen, andere Quellen sprachen von 121 bis 127 Ländern, es fehlten Jimmy Carter, Valéry Giscard d’Estaing und Fidel Castro. Albanien schickte ledglich seinen Botschafter. Im Fernsehen wurde die Beisetzung in 40 Länder direkt übertragen. Etwa eine halbe Million Menschen sollen zum letzten Geleit Titos nach Belgrad gekommen sein. Man erlebte die größte internationale Trauerversammlung in einer kritischen Phase der Konfrontation zwischen Ost und West.
Abends nach einer langen Reise im Hotel Inter-Continental in Belgrad angekommen, war Margret Thatcher gleich Schmidts erste Gesprächspartnerin. Der Bundeskanzler nutzte die Gunst der beiden Tage zu weiteren intensiven bilateralen Gesprächen, für ihn wurden zehn große und eine Vielzahl kleinerer Gespräche organisiert. Titos Tod führte fast die gesamte politische Spitzenriege von 1980 an einem Ort zusammen: Vizepräsident Walter Mondale vertrat die USA.
Man sprach, wie schon zu Adenauers Begräbnis, von einem „working funeral“ – einem „Arbeitsbegräbnis“. Es war der Ort und die Zeit für informelle Diplomatie. Auf deutsch-deutscher Ebene suchten beide Regierungschefs eine weitere Annäherung in der bundesrepublikanischen Residenz in Belgrad. Honecker und Schmidt hatten sich nach der Helsinki Konferenz von 1975 nicht mehr getroffen, aber regelmäßig miteinander telefoniert. Die erste deutsch-deutsche Begegnung nach fünf Jahren dauerte 78 Minuten und man kam im Interesse beider Seiten überein, die Konfrontationen nicht weiter zu verschärfen, sondern den Entspannungsdialog zwischen den Großmächten USA und UdSSR zu fördern und die Gesprächskanäle offenzuhalten. Honecker und auch der polnische Parteichef Edward Gierek ermunterten Schmidt ausdrücklich, seine die geplante Moskau-Reise im Sommer 1980 im Sinne von Entspannungs- und bestenfalls Abrüstungsgesprächen mit KPdSU-Chef Breschnew anzutreten. Zugleich drohten Thatcher und Schmidt mit einem Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau und mit Iran-Sanktionen, sollte die Sowjetunion sich nicht aus Afghanistan zurückziehen. Vor allem der Olympia-Boykott schmerzte Breschnew, aber auch Honecker. Das Ansinnen der Ostblockstaaten, dem Westen die Überlegenheit des Sport-Sozialismus im Jahr 1980 vorzuführen, löste sich im Nichts auf.
In seinem Kondolenzschreiben drückte Schmidt der jugoslawischen Regierung die Zuversicht aus, dass das Werk von Tito über dessen Tod hinaus bestehen bleibe. Das Land sei durch sein Wirken „ein geeintes, zu großer Leistung fähiges, unabhängiges Land“ geworden. „Die Bundesregierung ist bereit, dazu beizutragen, daß dieses Werk fortgesetzt werden kann.“
Nach Titos Tod besuchte 1981 der Präsident des Bundesexekutivrats und Ministerpräsident Jugoslawiens, Veselin Đuranović, die Bundesrepublik Deutschland. Helmut Schmidt erhob beim Abendessen im Palais Schaumburg nach seiner Rede das Glas auf „die weitere, für beide Seiten fruchtbare Entwicklung der Zusammenarbeit“ sowie „die Freundschaft zwischen unseren Völkern; auf eine friedliche und blühende Zukunft Jugoslawiens“. Es sollte anders kommen. Ein Jahrzehnt später, Anfang der 1990er-Jahre, zerlegte sich die sozialistische Gesellschaftsordnung, und die einst unter der Hegemonie Moskaus stehenden Ostblockstaaten gingen scheinbar friedliche Wege in eine neue Zeit nach dem Vorbild kapitalistischer Demokratien. Nur Jugoslawien zerfiel während unerbittlicher Kriege in seine Einzelstaaten. Die unterschiedlichen Ethnien, Religionen und ungleichen Ökonomien der Teilrepubliken sprengten zehn Jahre nach Titos Tod das Zusammenleben der Bevölkerung.
Fünf Dilemmata und drei Optionen
Helmut Schmidt erinnerte sich 1994 während der Jugoslawienkriege an den Abend im Mai 1980 in Belgrad inmitten anderer westlicher Regierungschefs: Wie lange würde der „Kunststaat“ halten, wann brächen die Konflikte auf? Einen Fehler sah Schmidt in der diplomatischen Anerkennung sich souverän erklärender Teilrepubliken ohne bindende Gewaltverzichtserklärungen. Fünf Dilemmata erkannte Schmidt: einen eigenen Truppeneinsatz zur Konfliktentschärfung scheute der Westen. Man band Moskau nicht in die Konfliktdämmung ein und schloss Russland auch von Gipfeltreffen großer Industriestaaten aus. Es fehlte ein Konzept zur wirksamen Hilfe für bosnische Muslime. Zukünftige Konfliktregionen, etwa zwischen Griechenland und Mazedonien, wurden leichtsinnig wahrgenommen. Es fehlte an einer einheitlichen Asyl- und Einwanderungsgesetzgebung und -praxis zur Regulierung zusätzlicher Flüchtlingsbewegungen in der EU: das Hauptziel würde Deutschland bleiben.
Um dauerhaften Frieden zu erhalten, darin sah Schmidt eine erste Lösungsoption, müsste der Westen mindestens 100.000 Soldaten im ehemaligen Jugoslawien stationieren. Das würde allerdings weder die Wahlbevölkerung in den westlichen Staaten noch Russland akzeptieren. Die zweite Option sei ein fallweiser Einsatz ökonomischer und militärischer Mittel zur Eindämmung künftiger Konflikte. Ein „Laissez-faire“ – als dritte Option – hätte Moral und Menschenrechte verkannt.
Das Land Jugoslawien ist heute Geschichte. Seine Menschen mussten einen langen, schmerzhaften Weg zu friedlicher Koexistenz suchen, der in der Folgegeneration hoffentlich seinen Abschluss findet.