Liebe Leser*innen,
was verbinden Sie mit einer gerechten Demokratie? Lediglich rechtskonforme Wahlen? Vermutlich nicht. Gemeinsam mit dem Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, und dem Mitglied unseres internationalen Beirats, Nathalie Tocci, gehen wir am 21. November bei unserer Helmut Schmidt Lecture zum Thema „For a Just Democracy!“ dieser Frage nach.
Im aktuellen Schmidtletter beleuchtet Simon Eckert, Mitarbeiter unserer Programmlinien, die Bedeutung von gesellschaftlichen Verhandlungsprozessen für faire Entscheidungen in Demokratien und wirft dabei vergleichende Blicke in die USA und die Türkei.
Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre,
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Die Vorstellungen davon, was eine gerechte Gesellschaft ausmacht, sind vielfältig und teilweise widersprüchlich. Gerechtigkeitsvorstellungen können sich zum Beispiel auf Verteilungsgerechtigkeit beziehen oder auf Leistungsgerechtigkeit. Dies kann dazu führen, dass es unmöglich ist, konkurrierende Gerechtigkeitsvorstellungen im gleichen Maß zu verwirklichen. Mit der Demokratisierung seit dem 18. Jahrhundert haben sich zunehmend mehr Gesellschaften darauf verständigt, dass die beste Möglichkeit, den Konflikt zwischen diesen verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen friedlich zu lösen, Mehrheitsentscheidungen sind. Das wirft die Frage auf, wie angemessene Entscheidungsprozesse in Demokratien gestaltet werden sollten, um zu fairen Mehrheitsentscheidungen zu kommen.
Deliberative Demokratie: Bedeutung der Debatte
Helmut Schmidt hatte dazu eine klare Meinung. Er sagte über die Demokratie, dass sie „aus Debatte und anschließender Entscheidung auf Grund der Debatte“ bestehe und dass Demokratie kein Zustand, sondern ein Prozess sei. Diese beiden Aussagen gelten für die repräsentative Demokratie wie auch für den deliberativen Ansatz. Die beiden vielleicht prominentesten Vertreter dieser Demokratievorstellung sind John Rawls und Jürgen Habermas. In der deliberativen Konzeption von Demokratie kommt vernunftgeleiteten Debatten unter am Gemeinwohl interessierten Bürger*innen die zentrale Bedeutung zu. In Demokratien sollten dieser Idealvorstellung zufolge Entscheidungen aufgrund der Überzeugungskraft von vernünftigen Argumenten, die im gesellschaftlichen Diskurs ausgetauscht werden, getroffen werden. Als vernünftig werden lediglich Argumente angesehen, die durch ihre Orientierung am Gemeinwohl überzeugen, statt durch die Wahrung von Partikularinteressen oder emotionale Appelle.
Ein Vergleich deliberativer Demokratie zwischen Deutschland, USA und Türkei
Wie jede Idealvorstellung kann auch die Idee der deliberativen Demokratie in der Realität nie vollständig verwirklicht werden. Politikwissenschaftler*innen haben sich in den letzten 15 bis 20 Jahren immer intensiver damit beschäftigt, die Verwirklichung verschiedener demokratischer Paradigmen empirisch zu untersuchen. Die deliberative Demokratie ist eines der Ideale, an denen die Qualität der Demokratie politikwissenschaftlich gemessen wird. Das V-Dem Institute an der Universität Göteborg befragt jährlich mehrere Länderexpert*innen pro Land zur Entwicklung der Demokratie in fast allen Ländern der Welt und berechnet daraus verschiedene Demokratieindexe. Einer davon ist der sogenannte „Index der deliberativen Demokratie“. Ein Wert von 1 würde dabei bedeuten, dass die Idealvorstellung den befragten Expert*innen zufolge vollständig umgesetzt wurde, ein Wert von 0 dagegen, dass die Realität so weit wie möglich von der Idealvorstellung einer deliberativen Demokratie entfernt ist.
Die Werte des deliberativen Demokratieindexes können sich zwischen Ländern mit ähnlichen demokratischen Standards durchaus unterschiedlich entwickeln. So hatten die USA und Deutschland im Jahr 2015 den gleichen sehr hohen Wert beim deliberativen Demokratieindex von 0,86. Für Deutschland ist dieser Wert bis zum Jahr 2023 kaum merklich auf 0,82 gesunken, während der Wert für die USA in der gleichen Zeit auf 0,72 abgesunken ist. Die Veränderung des Werts für Deutschland ist so gering, dass sie auch auf Messfehler zurückzuführen sein könnte. Dies gilt für die USA nicht. Das Sinken des Werts deutet auf eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung hin, die es erschwert, gesellschaftliche Debatten in denen stark an der Sache orientiert argumentiert wird, zu führen oder kann auf eine solche Polarisierung zurückzuführen sein.
Die Möglichkeiten, in einem deliberativen Prozess politische Entscheidungen zu treffen, bewegen sich in Demokratien wie Deutschland und den USA jedoch grundsätzlich auf einem anderen Niveau als dies in weniger demokratischen Staaten der Fall ist. Die Türkei ist hierfür ein gutes Beispiel. Der Wert des deliberativen Demokratieindexes für die Türkei erreichte im Jahr 2004 mit 0,51 seinen Höhepunkt. Den Daten von V-Dem zufolge verschlechterten sich die Bedingungen für eine am Gemeinwohl orientierte öffentliche Debatte im deliberativen Sinne bis 2016 stetig. Seit 2016 stagniert der von V-Dem gemessene Wert für die deliberative Demokratie in der Türkei bei 0,1. Dieser sehr niedrige Wert ist nicht ausschließlich auf eine Polarisierung und damit verbundene stärker emotionalisierte Debatten zurückzuführen, sondern auch auf zunehmende Repressionen des türkischen Staats zum Beispiel gegenüber Journalist*innen. Solche Maßnahmen beeinflussen die Qualität der deliberativen Demokratie wesentlich stärker als die Polarisierung von Politik und Gesellschaft, da viele Debatten in einem repressiveren Umfeld nicht mehr oder nicht mehr vollständig geführt werden können.
Demokratie als mehrdimensionales Konzept
Die deliberative Demokratie ist nur eine der möglichen Konzeptionen von Demokratie. Neben der Debattenführung gibt es weitere relevante Aspekte, an denen sich die Qualität der Demokratie messen lässt. Dazu gehören Fragen nach Partizipation, den materiellen Chancen der Bürger*innen sowie dem Schutz individueller und kollektiver Freiheitsrechte. Daraus haben Politikwissenschaftler*innen abgleitet, dass Demokratie als ein mehrdimensionales Konzept definiert werden sollte. Insgesamt sind die verschiedenen Dimensionen der Demokratie sehr stark miteinander verknüpft, da zum Beispiel die Möglichkeit, sich in gesellschaftliche Debatten einzubringen, stark von den materiellen Chancen der Bürger*innen abhängt. Dennoch ist ein genauer Blick auf die verschiedenen Dimensionen der Demokratie gerade auch im Hinblick auf mögliche demokratische Verbesserungen und Innovationen lohnenswert. Im Rahmen der diesjährigen Helmut Schmidt Lecture zum Thema „For a Just Democracy!“ werden wir uns genauer damit auseinandersetzen, wie die Demokratie weltweit gestärkt werden kann.