In der Vitrine hinter dem Schreibtisch in seinem Privathaus verwahrte Helmut Schmidt seine besonderen Erinnerungsstücke: zahlreiche Münzen, feinverzierte Schnupftabakdosen und ausgefallene Geschenke. Schmidts größter Schatz aber war ein aus Holz gefertigtes Schachspiel. Er habe es in der Kriegsgefangenschaft selbst geschnitzt und mit nach Hause gebracht, berichtete Schmidt in einem Interview mit Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Es ist das Symbol für ein politisches Schlüsselerlebnis: Es war, so Schmidt, die Begegnung mit dem älteren Oberstleutnant der Reserve, Hans Bohnenkamp, Hochschulprofessor und vor 1933 religiöser Sozialist, im Kriegsgefangenenlager, die ihm die Augen für die Verbrechen der Nationalsozialisten geöffnet und ihn zum Sozialdemokraten gemacht habe. Helmut Schmidt kehrte im August 1945 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hamburg zurück, fast 50 Jahre später reflektierte er in seinem Buch Kindheit und Jugend unter Hitler: „Was Demokratie ist und wie Demokratie funktioniert, habe ich erst im Kriegsgefangenenlager gelernt.“ Diese Erfahrung bildete die Grundlage seines politischen Selbstverständnisses – eines, das faktenbasierte Vernunft, Verantwortung, Gewissen und Leidenschaft miteinander verband.
Vernunft und Gewissen als politische Leitprinzipien
Während seiner politischen Laufbahn stand Helmut Schmidt mehrfach vor Entscheidungen, die nicht nur Sachverstand und Entscheidungsfähigkeit, sondern auch moralisches Urteilsvermögen erforderten. Zwei Ereigniszusammenhänge prägten sein Handeln besonders: die Hamburger Sturmflut 1962 und der Terrorismus der Rote Armee Fraktion (RAF) in den 1970er-Jahren. Schließlich musste er sich dabei mit Fragen staatlicher Handlungsfähigkeit angesichts der zentralen Normen des Grundgesetzes befassen. Während bei der Flut die Notwendigkeit schneller Entscheidungen im Angesicht einer Naturkatastrophe im Vordergrund stand, forderte die Zeit des „Deutschen Herbsts“ eine Abwägung zwischen einer klaren Haltung gegenüber Terroristen und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. In beiden Extremkrisen war es Schmidts Gewissen, das letztlich sein Handeln bestimmte. Der Gewissensentscheidung sei jedoch die durchdringende Anstrengung der eigenen Vernunft vorausgegangen, so Helmut Schmidt in seiner Rede „Verantwortung und Gewissen eines Politikers“ (2007).
Demokratie als Streitkultur
Politik war für Helmut Schmidt bei allem Pragmatismus an klare Wertvorstellungen gebunden. Sein wichtigster moralischer Kompass war dabei das Grundgesetz, dessen erste 20 Artikel er häufig zitierte. So erinnerte er 2007 bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philipps-Universität Marburg daran, dass die Verfassung als „gesunde Reaktion auf die extreme Beseitigung der Freiheit des Einzelnen unter der Nazi-Herrschaft und allein auf dem einzigen in der Verfassung deutlich und klar ausgesprochenen Grundwert der ‚unantastbaren Würde‘ des Menschen aufgebaut“ sei. Als leidenschaftlicher Demokrat war für ihn die Verteidigung gegen antidemokratische Kräfte von enormer Bedeutung. Als Bundesminister der Verteidigung (1969-1972) trat er für den „Staatsbürger in Uniform“ ein – Soldaten sollten demnach nicht nur Befehlsempfänger, sondern kritisch denkende Bürger sein. Mit der Gründung der Bundeswehrhochschulen in Hamburg und München wollte Schmidt militärische Ausbildung mit staatsbürgerlicher Bildung verbinden. Ziel war eine Armee, die demokratische Werte nicht nur schützt, sondern auch versteht. Eng damit verknüpft war Schmidts Vorstellung von offener Debatte und politischer Streitkultur. Für ihn gehörte die faktenbasierte Auseinandersetzung zur Essenz einer lebendigen und funktionierenden Demokratie. In einem Fernsehinterview von 1965 verglich er die politische Debatte mit dem Boxring: „Politik ist in gewisser Weise ein Kampfsport [...] und das macht mir auch Spaß.“ Dabei betonte er, dass dabei Kompromissbereitschaft unabdingbar sei.
Damit unterstrich Helmut Schmidt auch die Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Notwendigkeit, verschiedene Akteure zusammenzubringen, um die Demokratie zu stärken. Eine Demokratie, die nur dem reinen Mehrheitswillen entspreche und Minderheiten übergehe, sei für ihn undenkbar. „Demokratie besteht nicht allein aus dem Prinzip der Mehrheitsbildung“, mahnte er. „Ihre existentielle Begründung findet sie in der Humanisierung der Politik.“ Diese Haltung entsprang seiner eigenen biografischen Erfahrung. Für die Schlüsse, die er angeregt durch die Auseinandersetzung im Kriegsgefangenenlager zog, steht bis heute das kleine Schachspiel in der Vitrine in seinem Arbeitszimmer.
Lehren für die Gegenwart
Helmut Schmidt rief vor den Gästen der Philipps-Universität dazu auf, Demokratie zu leben und gegen ihre Feinde zu verteidigen: „Wir Deutschen haben — unserer katastrophenreichen Geschichte wegen — gleichwohl allen Grund, mit Zähigkeit an unserer Demokratie festzuhalten, sie immer wieder zu erneuern, ihren Feinden aber immer wieder tapfer entgegenzutreten. Nur wenn wir darin übereinstimmen, nur dann behält der schöne Vers von ,Einigkeit und Recht und Freiheit‘ seine Berechtigung.“ Schmidts Mahnung ist heute aktueller denn je: Weltweit stehen Demokratien unter Druck und auch in Deutschland erstarken seit Jahren antidemokratische Kräfte, die das im Grundgesetz formulierte Wertefundament infrage stellen. Angriffe auf unsere Pressefreiheit, die Relativierung von Menschenrechten oder die Unterminierung der Gewaltenteilung zeigen, dass demokratische Werte keineswegs selbstverständlich sind.
Gleichzeitig erleben wir neue Formen des Engagements – von Klimaprotesten über Bürgerinitiativen bis zu solidarischen Bewegungen für Gleichberechtigung und Teilhabe, wie zuletzt bei den Demonstrationen gegen die „Stadtbildäußerung“ von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). Demokratie ist im Wandel und sie braucht Menschen, die sie aktiv gestalten und ihre Grundwerte schützen.
In einem Interview mit der Zeit sagte Helmut Schmidt 2014: „Ich würde für die Menschenrechte in meinem eigenen Staat notfalls auf die Barrikaden gehen (…)“ – würden auch Sie das tun?





