„Demokratie leben“ heißt auch über Inklusion und Teilhabe zu sprechen

Barrierearme Ausstellungsführung thematisiert den Kampf um die Rechte von Menschen mit Behinderung

Autor/in:Merle Strunk

Liebe Leser*innen,

denken Sie bei den Neuen Sozialen Bewegungen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren aufkamen, zunächst auch an Anti-AKW-Proteste, Frauenrechts- oder Friedensbewegung? Uns ging es bislang genauso. Dass von Menschen mit Behinderung, die für ihre Rechte kämpfen, in den Geschichtsbüchern selten die Rede ist, stellt ein großes Manko dar. Warum Inklusion für die Demokratie essenziell ist, und wie wir in Kooperation mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf das Programm unserer Dauerausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ weiterentwickelt haben, um auch die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung sichtbar zu machen, das schildert Ihnen unsere Kollegin Merle Strunk, die in unserem Ausstellungsteam für den Bereich Bildung und Vermittlung zuständig ist, in unserem ersten Schmidtletter nach der Sommerpause.

Wir hoffen, dass Sie die Urlaubszeit genießen konnten und wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!

Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung 


Die politisch aktiven Jahre Helmut Schmidts fallen mit gesellschaftlich bewegten Zeiten zusammen. Insbesondere in den 1960er- und 1970er-Jahre herrscht Aufbruchsstimmung. Die Neuen Sozialen Bewegungen stellen alte Strukturen in Frage und fordern mehr Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen. Studentenbewegung, Anti-AKW-Proteste, Frauenrechts- und Friedensbewegung gehören heute ganz selbstverständlich zum kollektiven Gedächtnis der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Einige der Schlüsselszenen dieser Jahre finden sich auch in unserer Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ wieder.

Viel weniger bekannt hingegen ist die Geschichte der (west)deutschen Behindertenrechtsbewegung. Dass sie selten in einem Atemzug mit den anderen sozialen Bewegungen dieser Jahre genannt wird, liegt nicht zuletzt daran, dass ihr in populären Geschichtserzählungen wenig Raum zugestanden wird. Dabei ist der Einsatz der Menschen mit Behinderung für ihre Gleichstellung und Selbstbestimmung ebenso in den Rahmen des gesellschaftlichen Aufbruchs seit den 1960er-Jahren einzuordnen. Und er hat bis heute nichts an Aktualität und Dringlichkeit verloren. Nicht nur, weil für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung immer wieder gestritten werden muss, sondern auch, da mit dem Erstarken rechtsextremer Kräfte in Europa offen ausgelebte Behindertenfeindlichkeit (Ableismus) vielerorts zunimmt. Demokratie zu stärken muss daher auch heißen, eine inklusive Demokratie zu stärken. Für die Darstellungen der Demokratiegeschichte bedeutet dies, auch die Spuren von Menschen mit Behinderung sowie ihren Kampf um ihre Rechte sichtbar zu machen.

Kein Aufbruch nach dem Krieg

Während des Nationalsozialismus werden psychisch Erkrankte sowie Menschen mit einer körperlichen und vor allem einer geistigen Behinderung systematisch diskriminiert und verfolgt. Hunderttausende werden zwangssterilisiert und ermordet. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es zunächst wenig Aufmerksamkeit für diese Opfergruppe. Auch ist in Deutschland das Engagement gering, um die Situation der Menschen mit Behinderung zu verbessern. Die Kasernierung behinderter Menschen in Heimen oder „Anstalten“, das sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert etabliert, wird fortgesetzt. Für sie besteht als einzige Alternative oft nur der Verbleib in der Herkunftsfamilie. Ein selbstbestimmtes Leben ist so weder möglich noch Ziel der bestehenden Konzepte im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Der Fokus liegt auf ihrer Unterbringung und Versorgung. Unter gesellschaftlichen oder politischen Aspekten werden Behinderungen kaum betrachtet. 

Im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen der 1960er-Jahre kündigen sich erste Anzeichen einer Veränderung an. Bis dahin entstehen zur Förderung von Menschen mit Behinderung vor allem sogenannte Sonderkindergärten und -schulen und „Werkstätten für behinderte Menschen“. Diese daraus entstehende Struktur trennt Menschen mit Behinderung jedoch von dem Rest der Gesellschaft. Das Konzept der Inklusion und die Idee der Selbstbestimmung stehen noch nicht im Vordergrund.

Erste Proteste

In den 1960er-Jahren beginnen immer mehr junge Menschen mit Behinderung sich zu politisieren. Der Einfluss der Studenten- und Frauenrechtsbewegung spielt dabei eine bedeutende Rolle. Sie nehmen wahr, dass Protest gegen alte Gesellschaftsmuster möglich ist. Hier fällt auch der Einfluss aus den USA ins Gewicht, in denen die Bürgerrechtsbewegung grundsätzliche Fragen der Gleichstellung und Gleichberechtigung aufwirft und sich das Disability Rights Movement herausbildet. Wie in den USA gründen sich nun auch in Westdeutschland Camps und Clubs von Menschen mit Behinderung. Die „CeBeeFs“ („Clubs Behinderter und ihrer Freunde“) sind Orte des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung. Erste Initiativen erreichen größere mediale Aufmerksamkeit. So auch der Frankfurter Volkshochschulkurs „Bewältigung der Umwelt“, initiiert von Sozialarbeiter Gusti Steiner (selbst auf einen Rollstuhl angewiesen) und Journalist Ernst Klee. Ab 1974 machen sie mit behinderten und nicht behinderten Menschen auf Alltagsbarrieren aufmerksam, beispielsweise durch die Blockade einer Straßenbahn. 1978 verleihen sie zum ersten Mal den Negativpreis „Goldene Krücke“ an Unternehmen, Vereine oder Gesetze, die Menschen mit Behinderung ausgrenzen oder benachteiligen.

Daneben bilden sich Zusammenschlüsse von Menschen mit Behinderung, die sich selbst den Namen „Krüppelgruppen“ geben. Die Bezeichnung dient der Selbstermächtigung dieses diskriminierend verwendeten Begriffs und soll gezielt Unbehagen bei Menschen ohne Behinderung hervorrufen. Die „Krüppelgruppen“ sind höchst politisch. Die Teilnahme von Menschen ohne Behinderung ist in diesen Gruppen unerwünscht.

1981: „Jahr der Behinderer“

Die frühen 1980er-Jahre werden zu einem Schlüsselmoment für die Behindertenrechtsbewegung in Westdeutschland. Ein Gerichtsurteil löst bundesweit Proteste aus, als eine Reisende sich einen niedrigeren Preis für ihre Pauschalreise erstreitet, da sie am Urlaubsort auf Menschen mit Behinderung trifft. Die darauffolgenden Demonstrationen finden überregional Eingang in die mediale Berichterstattung. Viele Aktivist*innen fühlen sich darin bestärkt, dass ihre Proteste vielleicht nicht unmittelbar eine Änderung der Missstände mit sich bringen (das sogenannte Frankfurter Urteil hatte weiterhin Bestand), sie aber dennoch mehr Menschen für ihre Sache sensibilisieren und gewinnen können.

1981 erklären die Vereinten Nationen zum „Internationalen Jahr der Behinderten“. Auch wird aus diesem Anlass erstmals in Westdeutschland unter Kanzler Helmut Schmidt der „Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung“ eingesetzt.

Die Behindertenrechtsbewegung nutzt die Bühne, die sich ihnen durch das Aktionsjahr bietet. Aktivist*innen betiteln das Jahr kurzerhand neu in „Jahr der Behinderer“. Bereits bei der Eröffnungsveranstaltung in der Dortmunder Westfalenhalle sind sie präsent. Eine Gruppe kettet sich an der Bühne fest, sodass Bundespräsident Karl Carstens seine Rede in einem Nebensaal halten muss. Die Forderungen der Bewegung sind unmissverständlich: „Keine Reden, keine Aussonderung, keine Menschenrechtsverletzungen“. Das mediale Interesse, das die Bewegung durch diese und weitere Aktionen erhält, ist groß. Doch werden weiterhin viele Schritte, wie die Einrichtung von Zentren für „Selbstbestimmtes Leben“, durch die Bewegung selbst und das Engagement behinderter Personen getragen. Auf politischer und juristischer Ebene besteht weiterhin Nachholbedarf. 

Rechtliche Meilensteine

Ab den 1990er-Jahren folgen schließlich verschiedene rechtliche Schritte, die die Rechte von Menschen mit Behinderung schützen und Teilhabe ermöglichen sollen – weiterhin maßgeblich vorangetrieben und unterstützt von betroffenen Personen, wie dem „Forum behinderter Juristinnen und Juristen“. 1994 wird schließlich ein weiterer Meilenstein erreicht: Der Grundgesetzartikel 3 Absatz 3 wird um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ergänzt. Ebenso wichtig sind das Behindertengleichstellungsgesetz (2002), das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (2006) sowie die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert, und das Bundesteilhabegesetz (2016).

Betroffene protestieren jedoch weiterhin regelmäßig, da zentrale Forderungen der Behindertenrechtsbewegung nicht oder nur eingeschränkt in Gesetze einfließen. Auch bei der konkreten Ausgestaltung der Maßnahmen sowie in der Auslegung vor Gericht sehen sie immer wieder Mängel und Lücken.

Inklusive Themenführung durch die Ausstellung 

Der Einsatz der Menschen mit Behinderung für Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Teilhabe ist lang und andauernd. Er ist ein Teil der deutschen Geschichte und Gegenwart. Als Politikergedenkstiftung des Bundes, zu deren Kernaufgaben die Beschäftigung mit der deutschen Demokratiegeschichte gehört, verbessern wir als Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nicht nur stetig unser barrierearmes Angebot. Wir möchten ebenso die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung sichtbar machen und würdigen. 

Im Rahmen der Hamburger Stiftungstage haben wir uns dafür mit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zusammengetan und eine barrierearme Führung durch unsere ständige Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ entwickelt. Bei diesem Rundgang durch die deutsche Nachkriegsgeschichte wollen wir auch Schlaglichter auf die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung in Deutschland werfen. Die Führung findet in Leichter Sprache statt. Sie wird in Deutsche Gebärdensprache übersetzt. An mehreren Stellen kommen Tastobjekte zum Einsatz.

Die Führung „Geschichte neu gesehen“ findet am 13. September um 13 Uhr im Helmut-Schmidt-Forum statt. Wenn Sie dabei sein möchten, melden Sie sich bitte unter buchung@remove-this.helmut-schmidt.de an.

Schwarzweißfoto von Personen im Rollstuhl auf einer Bühne.

Gusti Steiner und Aktivist*innen auf der Bühne der Westfalenhalle 1981. © Archiv der behindertenpolitischen Selbsthilfe/Ernst Herb

Schwarzweißfoto einer Versammlung von Menschen auf Stühlen und Rollstühlen in einem Seminarraum.

Zum Abschluss des „Jahres der Behinderten“ trafen sich 1981 in der Schalom-Gemeinde in Dortmund-Scharnhorst Behinderte zu einem so genannten „Krüppel-Tribunal“. © picture alliance/Hartmut Reeh

Autorin: Merle Strunk, M.A.

Referentin für Bildung und Vermittlung

Merle Strunk, M.A., ist Historikerin mit dem Schwerpunkt der Wissensvermittlung in Museen. Sie war in verschiedenen Einrichtungen an Ausstellungs- und Publikationsprojekten beteiligt, darunter im Museum der Arbeit. Als Geschichtsvermittlerin beschäftigt sie sich in der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung damit, Brücken zwischen historischen Ereignissen und der Gegenwart zu schlagen. Daneben arbeitet sie zu Fragen der Visual und Public History.

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