Ein schwerer Fehler: Der Staat war erpressbar geworden

Die Lorenz-Entführung 1975 als Wendepunkt für den Umgang der Bundesrepublik mit dem Terror

Versammelte Menschen halten Zeitungen mit der Überschrift „Das Schicksal von CDU-Chef Peter Lorenz ist noch ungewiss“ in den Händen.

Liebe Leser*innen,

mit der Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz bekam der linksextremistische Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland vor 47 Jahren eine neue Dimension. Die Anschläge der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) gipfelten 1977 im „Deutschen Herbst“ in der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Entführung der Lufthansa Maschine „Landshut“. Bundeskanzler Helmut Schmidt entschied damals, dass der Staat sich nicht erpressen lassen dürfe. Lesen Sie heute in unserem Schmidtletter, warum die Entführung von Peter Lorenz für diese Entscheidung wegweisend war.

„Die RAF und der Deutsche Herbst“ heißt auch unsere BKHS-Themenwoche vom 7. bis 13. März. Mit unseren Veranstaltungen und Veröffentlichungen beleuchten wir die Folgen des Terrorismus für die Bundesrepublik. Wir präsentieren das Lernmodul „Deutscher Herbst 1977“ und diskutieren mit Expert*innen.

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre und eine spannende Themenwoche
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Der „Deutsche Herbst“ ist zu einer Chiffre für die Anschläge und Morde der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) geworden, bei denen bis zur Selbstauflösung im Jahr 1998 34 Menschen starben. Gleichsam steht sie für eine der schwersten Krisen in Helmut Schmidts politischer Laufbahn, untrennbar mit seinem Ruf als Krisenmanager verknüpft. Auf seine Fernsehansprache vom 5. September 1977 wird auch heute noch Bezug genommen. Anlass war die Entführung von Hanns Martin Schleyer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sowie seit 1977 auch Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und Vorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG. Damit verbunden war die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ am 13. Oktober durch vier palästinensische Terrorist*innen. Beide Terrorakte hielten die Bundesrepublik vom 5. September bis zum 20. Oktober im Würgegriff. Das Ziel der Terrorist*innen war es, 26 inhaftierte Gleichgesinnte zu befreien. Bekanntlich entschied die Bundesregierung unter Helmut Schmidt, den Forderungen nicht nachzugeben. Damit nahm sie den Tod Schleyers und von „Landshut“-Passagier*innen in Kauf. Schleyer wurde getötet, nachdem die Passagier*innen des Flugzeugs dank eines riskanten Einsatzes der Antiterroreinheit GSG 9 während einer Zwischenlandung auf dem Flughafen in Mogadischu, Somalia, befreit werden konnten. Schmidt wäre als Bundeskanzler zurückgetreten, wäre die Befreiungsaktion misslungen. Den Vorgängen lag die Haltung zugrunde, nicht mit Terrorist*innen zu verhandeln, auf ihre Forderungen nicht einzugehen, den Staat nicht erpressbar zu machen. Schmidts Botschaft damals: „Der Staat muss [auf den Terrorismus] mit aller notwendigen Härte antworten.“

Ein Vorbild für die RAF?

Diesen Grundsatz entwickelten die Politiker*innen nicht erst während der dramatischen Tage im Herbst 1977, sondern bereits zwei Jahre zuvor. Was war geschehen? Drei Tage vor der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses, am 27. Februar 1975, wurde der aussichtsreiche Kandidat der CDU für das Bürgermeisteramt, Peter Lorenz, entführt und fünfeinhalb Tage in einem Keller („Volksgefängnis“) in der Schenkendorfstraße 7 in Berlin-Kreuzberg gefangen gehalten – gegenüber dem lokalen CDU-Büro. Sechs inhaftierte Terrorist*innen, verurteilt unter anderem wegen Beteiligung an Sprengstoffanschlägen und Mordversuchen, sollten freikommen und ausgeflogen werden, unter ihnen Horst Mahler, Gründungsmitglied der RAF. Die Terrorist*innen stellten ein Ultimatum von 72 Stunden. Verantwortlich zeichnete die „Bewegung 2. Juni“ – ein wenig hierarchisch aufgebauter Bund autonomer Gruppen, der vor allem in West-Berlin Banküberfälle beging und Sprengstoffanschläge verübte. Für die politisch Verantwortlichen machte dies keinen entscheidenden Unterschied. Mehr noch: Ihre Vorgehensweise wurde beispielgebend für die RAF.

Die Lorenz-Entführung wurde auch auf Regierungsseite zu einem Präzedenzfall. Erstmals sah sich eine Bundesregierung mit der Frage konfrontiert, ob man Terrorist*innen nachgeben solle, wenn es um Menschleben geht. Nachdem die Entführung publik wurde, traten in Berlin und Bonn Krisenstäbe zusammen. Diesen Beratungsgremien sollte später im „Deutschen Herbst“ große Bedeutung zukommen. Das „Ministergremium für besondere Lagen“, landläufig unter „großer Krisenstab“ oder „große Lage“ bekannt, trat entgegen vieler Behauptungen nicht zum ersten Mal zusammen. Es handelte sich um ein bereits 1968 auf Druck der NATO gegründetes Format von Personen aus der Regierung, der Oppositionsparteien sowie einzelnen Ministern. Im Unterschied zu den Ereignissen 1977 entschied sich der Krisenstab angesichts der Lorenz-Entführung dafür, den Forderungen nachzugeben. Alle bis auf Horst Mahler, der aus ideologischen Gründen nicht ausgetauscht werden wollte, wurden inklusive 120.000 D-Mark Reisegeld nach Aden in die Demokratische Volksrepublik Jemen ausgeflogen.

Folgenschwere Entscheidung

Helmut Schmidt, der zum Zeitpunkt der Entführung mit über 40 Grad Fieber gekämpft haben soll, bat zuvor um eine tiefergehende, grundsätzliche Debatte in einer solch außergewöhnlichen Situation und stand einem Austausch ablehnend gegenüber. Er selbst befand sich nicht nur wegen seiner Erkrankung, die ihn an der Teilnahme so mancher Sitzung des Gremiums hinderte, in einer denkbar ungünstigen Lage, hatte er sich doch zuvor im Wahlkampf über die Sicherheitsbedenken und das Bedrohungsgefühl von Lorenz lustig gemacht. Vor allem Helmut Kohl, damals Parteivorsitzender der CDU und rheinland-pfälzischer Ministerpräsident, und der Regierende Bürgermeister von West-Berlin Klaus Schütz (SPD) – beide persönliche Freunde von Lorenz – plädierten für einen Austausch. Da die Entscheidung nicht vom Bund, sondern vom Berliner Senat gefällt werden musste, überwogen am Ende die Stimmen, die auf die Forderungen der Terrorist*innen eingehen wollten. Schmidt schloss sich dieser Entscheidung an, auch um öffentlich ein einheitliches Bild abzugeben und wohl auch um nicht den Anschein einer persönlichen Niederlage zu erwecken.

Wie folgenreich diese Entscheidung war, zeigte sich nicht erst 1977: Nur etwa zwei Monate nach der Freilassung von Lorenz besetzen RAF-Mitglieder („Kommando Holger Meins“) die deutsche Botschaft in Stockholm. Nach dem Vorbild der Lorenz-Entführer*innen forderten sie, 26 Terrorist*innen freizulassen, darunter die RAF-Köpfe Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Die Politiker der Krisenstäbe waren sich spätestens jetzt ihres vorangegangenen Fehlers bewusst geworden. Helmut Kohl schrieb später: „Der Staat war erpressbar geworden. […] ein unhaltbarer Zustand.“ Schmidt bezeichnete es 2007 nachträglich als „schweren Fehler“. Nach der Erstürmung der Botschaft in Schweden wurde den Forderungen nicht nachgegeben, zum Entsetzen nicht nur der Terrorist*innen, sondern auch des schwedischen Amtskollegen Olof Palme: Denn Schmidt hob die Exterritorialität der Botschaft auf und zwang ihn so zum Handeln. Schmidt selbst präsentierte sich als zupackender, Härte zeigender Krisenmanager. In einem zeitgenössischen Spiegel-Interview sagte er: „Denen mußte doch mal gezeigt werden, daß es einen Willen gibt, der stärker ist als ihrer.“ Die in der Lorenz-Entführung gemachten Erfahrungen gaben die Richtung für staatliches Handeln für die kommenden Konfrontationen vor. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass derartigen Forderungen seitens des Staats nachgegeben wurde, wie die RAF im „Deutschen Herbst“ zwei Jahre später erneut feststellen musste.

BKHS-Themenwoche: Die RAF und der „Deutsche Herbst“

Der Terrorismus der RAF erreichte mit dem „Deutschen Herbst“ seinen Höhepunkt. Anlässlich der Veröffentlichung unseres Lernmoduls „Deutscher Herbst 1977“ widmen wir uns der RAF und dem „Deutschen Herbst“ in einer BKHS-Themenwoche aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Formaten. Das Lernmodul, das in Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ der Universität Tübingen entstand, bringt anhand ausgewählter Medien und Dokumente die Geschichte des „Deutschen Herbsts“ ins Klassenzimmer. Die Lernenden thematisieren Entscheidungssituationen in der Vergangenheit und werden dazu aufgefordert, die Geschichte dieser Zeit selbst zu erzählen. Begleitet wird die Veröffentlichung von einer Diskussion, die sich mit den Folgen von Terrorismus für die Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft beschäftigt. Darüber hinaus zeigt eine Pop-Up-Map der interaktiven Schmidt-Stadtkarte die Orte der RAF in Hamburg.

Auch aus Perspektive der Ausstellungsmacher der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung provoziert die Geschichte des Terrorismus Fragen: Wie umgehen damit, wie darstellen? Über Hürden und Herausforderungen spricht das Ausstellungsteam in der ersten Folge der neuen Podcast-Reihe „Schmidt! Macht Geschichte“. 

Dies und mehr erwartet Sie in der Woche vom 7. bis zum 13. März, mehr Informationen auf unserer Webseite.

Porträtaufnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz vom 15.12.1982. © Bundesregierung, Ulrich Wienke

 

Versammelte Menschen halten Zeitungen mit der Überschrift „Das Schicksal von CDU-Chef Peter Lorenz ist noch ungewiss“ in den Händen.

West-Berliner*innen lesen die Berliner Morgenpost, noch scheint alles offen zu sein. Aufgenommen am 27.05.1975. © picture alliance, AP

Menschen betreten ein Lufthansa-Flugzeug über eine Treppe.

Die freigepressten Gefangenen auf der Gangway. Aufgenommen am 03.03.1975. © dpa, Heinz Wieseler

Autor: Hendrik Heetlage, M.A.

Hendrik Heetlage ist Historiker und war bis März 2023 Wissenschaftlicher Assistent in der Programmlinie „Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit“ der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung. Seine Schwerpunkte sind die (deutsche) Zeitgeschichte und die Geschichte des modernen Chinas. Neben historischen Ausstellungsprojekten beschäftigt er sich mit Geschichte und Geschichtsvermittlung im digitalen Raum.

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