Liebe Leser*innen,
Klimawandel, bewaffnete Konflikte, Rechtsruck, Pandemien, Inflation und vieles mehr – die aktuelle Situation ist so sehr geprägt von Krisen, dass wir von einem Zeitalter der Polykrise sprechen.
Unsere Programmleiterin Dr. Elisabeth Winter beschreibt in diesem Schmidtletter, wie angesichts dessen das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft neu ausgerichtet werden muss. Sie fordert ein neues Paradigma für die internationale Handelspolitik, das statt offener Märkte und eng gefasster nationaler Sicherheitsbedenken das menschliche Wohlergehen in den Vordergrund stellt.
Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre,
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Es sei an der Zeit, „eine Form der Globalisierung zu entwerfen, die die Vorteile des Freihandels mit der Notwendigkeit des Schutzes der Schwachen und der Koordinierung der Klimapolitik in Einklang bringt und gleichzeitig die nationale Kontrolle über wichtige strategische Interessen ermöglicht“. So fordert es eine Gruppe progressiver Wirtschaftswissenschaftler*innen auf dem Kongress des Berliner Forum New Economy letzte Woche in ihrer „The Berlin Summit Declaration – Winning back the people“.
Erst im März diesen Jahres hatten mein Kollege Tobias Lentzler und ich ein konkretes Konzept vorgestellt, um diese Form der Globalisierung zu gestalten. In unserem BKHS Perspectives #5_2024 mit dem Titel „A trade paradigm for the age of geoeconomic competition: Not economic, but human security“ fordern wir, den internationalen Handel mit Hilfe des Konzepts der menschlichen Sicherheit neu zu gestalten. Als neues Handelsparadigma stellt menschliche Sicherheit das menschliche Wohlergehen in den Vordergrund der Handelspolitik und ergänzt es durch Fragen der Nachhaltigkeit und der nationalen Sicherheit.
Von der Globalisierung zur Geoökonomie
Der Begriff der Geoökonomie bezeichnet den Einsatz wirtschaftlicher Mittel zur Erreichung strategischer und sicherheitsrelevanter Ziele. Die momentane Wiederentdeckung der Geoökonomie wurde einerseits durch die strukturellen Mängel des internationalen Handelssystems und andererseits durch die Gleichzeitigkeit multipler globaler Krisen begünstigt.
Nach dem Kalten Krieg trat die Globalisierung ihren Siegeszug an. Die nationalen Volkswirtschaften begannen sich rund um den Globus zu integrieren und zahlrieche neue Institutionen zur Steuerung des Welthandels wurden gegründet.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise von 2007/08 erschütterten das bestehende System erstmals grundlegend. Dann, beginnend mit dem Brexit-Referendum 2016 und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im selben Jahr, verdeutlichten zahlreiche Ereignisse die tiefliegenden Herausforderungen der Globalisierung. Viele sehen in dem von der Globalisierung hervorgerufenen Wandel die Ursache für ihre wirtschaftliche Stagnation oder sogar ihren sozialen Abstieg. Misstrauen in die Demokratie, wirtschaftlicher Nationalismus und Protektionismus gewinnen seitdem an Zugkraft. Die Europawahl im Juni 2024 ist nur das jüngste Ereignis, das diese Entwicklung noch einmal eindringlich vor Augen führt.
Wirtschaftliche Sicherheit allein keine Lösung
Die internationale Ordnung befindet sich derzeit in einer Polykrise. Angesichts der Gleichzeitigkeit von Krisen in der Geopolitik, der öffentlichen Gesundheit, der Umwelt und der Wirtschaft wird Globalisierung (zu Recht) nicht mehr mit den Chancen des freien Handels gleichgesetzt, sondern mit Risiken assoziiert. Die internationale Wirtschaftsordnung scheint zu zersplittern, meist entlang nationalistischer und ideologischer Linien. Die liberale Hoffnung, dass wirtschaftliche Verflechtungen Kriege unwahrscheinlich machen, hat sich als falsch erwiesen.
Wirtschaftliche Abhängigkeiten haben sich zu einer Frage der nationalen Sicherheit entwickelt. Sie machen einen Staat verwundbar, da Zugang und Versorgung verweigert, unterbrochen und ausgenutzt werden können. Ökonomische Interdependenzen sind zu einem wichtigen außenpolitischen Instrument geworden: Staaten nutzen asymmetrische wirtschaftliche Abhängigkeiten als Druckmittel, um strategische Ziele durchzusetzen.
Internationale Handelspolitik ja, aber bitte sicher, grün und fair
Die aktuelle Polykrise zeigt unverblümt die Fehler der auf Freihandel setzenden Globalisierung der 1990er-Jahre. Inzwischen hat sich die internationale Handelsordnung verändert. Statt dem einstigen Vertrauen in unregulierte Märkte prägen heute meist außen- und sicherheitspolitische Überlegungen die internationale Handelspolitik der Europäischen Union (EU): Ökonomische Sicherheit lautet das Gebot der Stunde.
Internationaler Handel sollte zuvorderst ein Mittel zur Förderung globalen Wohlstands sein. Diesen erreichen wir langfristig nur, wenn globale Lieferketten resilient gegenüber geopolitischen Spannungen werden, wenn sie nachhaltig gestaltet werden, die planetarischen Grenzen berücksichtigen und wenn sie ein menschenwürdiges Arbeiten und gutes Leben ermöglichen. Dementsprechend gilt es, eine Neuausrichtung unseres handelspolitischen Paradigmas zu fordern, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Menschliche Sicherheit als neues Handelsparadigma
Angesichts der aktuellen Polykrise muss das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft neu kalibriert werden. Das Konzept der menschlichen Sicherheit hilft dabei, den internationalen Handel umzugestalten. Als handelspolitisches Paradigma stellt es das individuelle Wohlergehen in den Vordergrund statt sich auf offene Märkte und eng gefasste nationale Sicherheitsbedenken zu beschränken. Es öffnet den handelspolitischen Ansatz und verlangt verschiedene Interessen im Sinne menschlicher Bedürfnisse auszubalancieren. Die Verknüpfung von Handelspolitik und menschlicher Sicherheit ermöglicht so einen umfassenden und neuen Blick auf die bestehenden Paradigmen
Menschliche Sicherheit ist ein politisches Konzept, das Staaten als politisches Instrument für ihre politische Agenda nutzen können. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Rolle des Staats als aktiver Gestalter der globalen Handelsordnung. In Anbetracht dieser Entwicklung bietet das Konzept der menschlichen Sicherheit den politischen Entscheidungsträger*innen einen Weg, wirtschaftliche und politische Ambitionen miteinander zu verbinden, indem sie eine globale Handelsordnung entwerfen und dabei bewusst politische Ziele einbeziehen.
Als aktive Designer dieser Ordnung können Staaten die internationale Handelspolitik als Instrument einsetzen, um einige der drängendsten globalen Herausforderungen unserer Zeit zu bekämpfen: soziale Ungleichheiten, Klimawandel und die zunehmend eskalierende internationale Rivalität.
Lesen Sie eine ausführlichere Analyse zum Thema von unserer Programmleiterin Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit Dr. Elisabeth Winter und Tobias Lentzler im oben genannten BKHS Perspectives #5_2024 mit dem Titel „A trade paradigm for the age of geoeconomic competition: Not economic, but human security“.