Helmut Schmidt und China – Ein Brückenbauer

Die deutsch-chinesischen Beziehungen im Spiegel der Zeit – Konferenz zu internationalen Perspektiven auf China

1975: Helmut und Loki Schmidt auf der chinesischen Mauer

Liebe Leser*innen,

zehn Jahre nach Chinas Bekanntgabe der Belt and Road Initiative, ein chinesisches Infrastrukturprojekt mit ambitioniertem globalem Ausmaß, wird die Bundesregierung 2023 die erste deutsche China-Strategie vorstellen.

Helmut Schmidt war zeitlebens von der Volksrepublik begeistert – seine Positionen zu China und den deutsch-chinesischen Beziehungen sind jedoch umstritten. Einige dieser Aspekte beleuchtet Hendrik Heetlage, wissenschaftlicher Assistent unserer Programmlinie „Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit“, im aktuellen Schmidtletter.

Um zu analysieren, wie die verschiedenen internationalen Perspektiven auf ein globales China entstanden sind, laden wir nächste Woche ein internationales Fachpublikum zu einer Konferenz ein. Diskutieren auch Sie mit uns: bei der Abendveranstaltung „Hamburg, China and the Politics of Globalisation“ am 30. März 2023 im Spiegelsaal des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe.
Hier können Sie sich direkt anmelden.

Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme und wünschen Ihnen ein schönes Wochenende
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Die Bundesregierung arbeitet derzeit an der ersten deutschen China-Strategie, ihre Veröffentlichung steht kurz bevor. Mit der Strategie übt Deutschland sich an der Gratwanderung zwischen der Umsetzung wirtschaftlicher Interessen und dem eigenen Anspruch an die Universalität der Menschenrechte. Auch wenn die Debatte unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs neu geführt werden muss, die Diskussion über den scheinbaren Konflikt zwischen moralischer Haltung und wirtschaftlichen Interessen in der Außenpolitik ist keine neue.

Bis zu seinem Tod 2015 war Helmut Schmidt eine der prägenden Persönlichkeiten der Debatte um die deutsch-chinesischen Beziehungen. Er war begeistert von China, was sich vor allem nach seiner Kanzlerschaft in Form von zahlreichen Reisen in die Volksrepublik zeigte. Seine Eindrücke fasste er in Büchern zusammen und er gab zahlreiche Interviews. Sein Wissen über die chinesische Kultur und Geschichte brachte ihm zuweilen den Ruf eines „China-Kenners“ ein, aber auch den des „China-Verstehers“. Diese mitunter nicht unproblematische Rolle lässt sich mit einem Blick auf Helmut Schmidt und ausgewählte Beispiele aus den deutsch-chinesischen Beziehungen im Spiegel der Zeit betrachten.

Helmut Schmidt: der erste Bundeskanzler in China

Vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Oktober 1972 war das Verhältnis zwischen Westdeutschland und China von der politischen Ideologie des Kalten Kriegs bestimmt, eine offizielle Annäherung erschien angesichts der verhärteten Fronten undenkbar. Parteiintern wurde dennoch eine fehlende wirtschaftspolitische Agenda bemängelt, allerdings nicht in der SPD, sondern in der CDU/CSU: Bereits 1967 kritisierte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), dass es trotz aller Analysen, nach denen die Volksrepublik die wirtschaftlich stärkste Ökonomie weltweit werde, noch keine klare ausgearbeitete Strategie gegenüber China gebe.

In ihren außenpolitischen Konzeptionen mussten sich die westdeutschen Regierungen sowohl an den USA orientieren als auch Rücksicht auf die Sowjetunion nehmen. Dieses lässt sich auch an der Implementierung der „Neuen Ostpolitik“ als Leitmotiv bundesrepublikanischer Außenpolitik der sozial-liberalen Regierung unter Willy Brandt ab 1969 ablesen. Zwar erweiterte das sino-sowjetische Zerwürfnis, das seinen Höhepunkt im selben Jahr erlebte, den Handlungsspielraum westdeutscher Politiker – die Volksrepublik entwickelte sich in ihren Augen zu einem potenziellen Verbündeten gegen die Sowjetunion. Politische Schritte konnten jedoch erst nach dem von Henry Kissinger eingefädelten China-Besuch des US-Präsidenten Richard Nixon drei Jahre später unternommen werden.

Aufgrund des Rücktritts von Willy Brandt im Mai 1974 war es dann Helmut Schmidt, der im Oktober/November 1975 als erster Bundeskanzler die Volksrepublik 1975 besuchte. Von seinem Treffen mit Mao und Deng Xiaoping berichtete Schmidt in seinen Publikationen immer wieder. Beeindruckt war er unter anderem von der 5.000-jährigen chinesischen Zivilisation, von Maos Philosophiekenntnissen und von Dengs Pragmatismus, der ab Ende der 1970er-Jahre mit der Umsetzung des wirtschaftlichen Reformprogramms – den „Vier Modernisierungen“ – für die ökonomische Entwicklung Chinas verantwortlich zeichnete.

Besuch in Bejing 1990

Am 4. Juni 1989 ließ die chinesische Regierung eine vor allem von Arbeiter*innen und Studierenden getragene Demokratiebewegung gewaltsam niederschlagen. Der Einsatz des Militärs hatte zahlreiche Todesopfer zur Folge. Als Konsequenz entschieden sich einige westliche Industriestaaten zu Sanktionen, einem Waffenembargo und politischer Isolation.

Fast genau ein Jahr nach dem als „Tian’anmen-Massaker“ bekannt gewordenen Ereignis versuchte Schmidt, die Wogen zu glätten. Er traf sich dazu in Beijing sowohl mit deutschen Journalisten, Geschäftsleuten und Diplomaten als auch mit hochrangigen Vertretern der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Die auch in unserer Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ vorgestellte Reise ein Jahr nach dem „Tian‘anmen-Massaker“ ist ein wichtiges Kapitel in den deutsch-chinesischen Beziehungen, denn erstmals nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen waren diese ernsthaft gefährdet.

Helmut Schmidt verteidigte nach dieser Reise das Vorgehen der KPCh und setzte sich weiter für gute Beziehungen ein. Damit warf er die stets aktuelle Entscheidung zwischen moralischem Selbstanspruch und wirtschaftlichen Interessen auf, die auch heute wieder das Verhältnis zur Großmacht bestimmt. Wie Gesprächsprotokolle zur Reise aus dem Helmut Schmidt-Archiv zeigen, ließ sich Schmidt von chinesischen Parteifunktionären in seiner Beurteilung der Lage stark beeinflussen. Seine Einschätzungen über die Vorgänge scheinen sich insbesondere auf die Schilderungen von Luo Gan, damals Generalsekretär des Staatsrats, zu stützen. Zeitgenössische Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder kritischer Stimmen gegenüber der chinesischen Regierung fanden hingegen weniger Beachtung, zumindest lässt sich dies in den Archivmaterialien nicht finden.

Bei Schmidts Besuch in Bejing 1990, nur ein Jahr nach dem „Tian’anmen-Massaker“, hätte man diese Perspektive vielleicht noch unzureichenden Informationen zuschreiben können. Schmidt beharrte jedoch bis ins hohe Alter auf diesem Standpunkt. Im Jahr 2008 ging er in einem Interview mit der Westdeutschen Zeitung in seiner Argumentation noch weiter. Dort bezeichnete er die Protestierenden als „wildgewordene Studenten“, die zuerst die Soldaten angegriffen hätten. Dies und der drohende Gesichtsverlust – aufgrund des Besuchs des sowjetischen KP-Chefs Michail Gorbatschow inmitten der Proteste – hätten der Parteiführung keine andere Wahl gelassen.

Mehr China-Kompetenz – damals wie heute

Schmidt erwarb seine China-Kenntnisse über Jahrzehnte hinweg und ihm war früh bewusst: Ohne China geht es international nicht mehr. Allerdings ähneln Schmidts Standpunkte mitunter den offiziellen Vorgaben der KPCh, etwa bei der die geschichtlichen Bewertung Maos oder der Erzählung von China als „friedlichstem Land der Weltgeschichte“. Zugleich warnte er vor dem wachsenden chinesischen Nationalismus und kritisierte die Repressionen gegen Tibet sowie die Unterdrückung der Uiguren und anderer ethnischer Minderheiten in der chinesischen Provinz Xinjiang.

Auch die 5.000-jährige Geschichte Chinas spielt für die gegenwärtige chinesische Regierung eine integrale Rolle, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung doch als ein politisch instrumentalisierter Mythos – ein chinesisches Reich, das kulturell und geografisch geeint war, gab es schlicht nicht. Damit werden keineswegs die zivilisatorischen Errungenschaften bestritten. Geschichte ist aber stets eine Konstruktion, die in hohem Maße vom gegenwärtigen Blick auf die Ereignisse abhängig ist. Die Frage ist daher, inwiefern sich aus dieser Erzählung politische Schlussfolgerungen ableiten lassen. Im Falle des jetzigen chinesischen Staatspräsidenten Xi wird die Erzählung zu einer Geschichtspolitik, mit der etwa auch der Zusammenschluss mit Taiwan gerechtfertigt wird.

An den beschriebenen Positionen und Äußerungen von Helmut Schmidt wird deutlich, wie sehr ein vertieftes und differenziertes Verständnis von China in Deutschland vonnöten ist. Schmidt wies selbst auf die verbreitete Unkenntnis über die Kultur und Geschichte Chinas hin, die hierzulande den Diskurs oftmals zu beherrschen scheint. Dies wäre auch heute noch zu kritisieren, da die mediale Konstruktion Chinas häufig mit jahrhundertalten Bildern und Chiffren arbeitet. Mehr noch wird sich einer Tradition des Exotismus (zum Beispiel das Spiegel-Cover vom 22. Januar 2021) bedient, die sich wiederum in einem anti-asiatischen Rassismus im Zuge der Corona-Pandemie äußerte. Nicht ohne Grund ist mehr China-Kompetenz auch für eine moderne Strategie unerlässlich.

Internationale Fachtagung der BKHS: „International Perspectives on a Global China“

Helmut Schmidt war zeitlebens tief von Chinas Entwicklung beeindruckt. Gute Beziehungen zum Land waren ihm mitunter wichtiger als eine deutsche Außenpolitik, die kompromisslos die Einhaltung von Menschenrechten fordert. Mit dieser Haltung wirkte Schmidt auch nach seiner Amtszeit als Bundeskanzler darauf ein, wie über China in Deutschland erzählt wird.

„Globale Wirtschaftsmacht“, „gleichberechtigter Partner“, „globaler Investor“, „Aggressor“, „strategischer Rivale“ oder „Friedensmacht“ – dies sind nur einige der konkurrierenden Schlagwörter, die derzeit die Diskussionen über China bestimmen oder von dem Land selbst propagiert werden. Solche Narrative prägen unsere Vorstellungen und Diskussionen. Sie können Interessen beeinflussen, denen (wirtschafts-)politische Handlungen folgen, oder politischen Akteur*innen als rhetorische und strategische Instrumente der Überzeugung in politischen Entscheidungsprozessen dienen.

Im Rahmen der internationalen und interdisziplinären Fachtagung „From the ‚workshop of the world‘ to ‚sytemic rival‘ – International Perspectives on a Global China“ lädt die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (BKHS) am 30. und 31. März 2023 ein internationales Fachpublikum aus Wissenschaft, Politik, Medien und Wirtschaft nach Hamburg ein, um gemeinsam die Perspektiven auf China in verschiedenen Regionen der Welt zu analysieren und zu fragen: Wer prägt den Blick auf China, was sind die treibenden Motive? Erleichtern die verschiedenen Erzählungen die internationale Zusammenarbeit oder behindern ihre Widersprüchlichkeiten internationale Partnerschaften?

Wir setzen regionale Schwerpunkte und kooperieren dafür mit den einigen der renommiertesten Institutionen in diesem Bereich: dem Mercator Institute on China Studies (MERICS), dem Africa Policy Research Institute (APRI), dem European Council on Foreign Relations (ECFR), dem German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und dem Kissinger Institute on China and the United States am Wilson Center (KICUS).

Helmut und Loki Schmidt auf der chinesischen Mauer

Helmut Schmidt besuchte als erster Bundeskanzler 1975 die Volksrepublik China. Es folgten zahlreiche Reisen im Laufe seines Lebens.

© Bundesregierung/Ulrich Wienke

Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt beim Staatsbesuch in China

China-Reise des Bundeskanzlers 1975: Helmut Schmidt blieb bis zu seinem Tod eine wichtige Person in den deutsch-chinesischen Beziehungen.

© Bundesregierung/Ulrich Wienke

Schwarz-weiß Foto von Helmut Schmidt in einer Gruppe von chinesischen Künstler*innen.

Helmut Schmidt hatte großes Interesse am „Reich der Mitte“.

© Bundesregierung/Ulrich Wienke

Helmut Schmidt mit Vertreter*innen der chinesischen Regierung.

Helmut Schmidts Besuch in Beijing 1990 nach dem Massaker auf dem Platz am Tor des Himmlischen Friedens im Juni 1989.

© Bundesregierung/Ulrich Wienke

 

Autor: Hendrik Heetlage, M.A.

Hendrik Heetlage ist Historiker und war bis März 2023 Wissenschaftlicher Assistent in der Programmlinie „Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit“ der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung. Seine Schwerpunkte sind die (deutsche) Zeitgeschichte und die Geschichte des modernen Chinas. Neben historischen Ausstellungsprojekten beschäftigt er sich mit Geschichte und Geschichtsvermittlung im digitalen Raum.

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