Liebe Leser*innen,
die internationale Ordnung ist im Wandel. Nicht erst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, die von den USA angestoßenen Diskussionen um die NATO-Beistandspflicht oder die Kehrtwende in der Handelspolitik, die seit dem Amtsantritt Donald Trumps eingeschlagen wurde, verschiebt sich das globale Machtgefüge.
Unser Kollege Dr. Dan Krause untersucht in diesem Schmidtletter die Frage, wie sich die Europäische Union in dieser Situation zukünftig aufstellen sollte. Dabei zeigt er auf, dass sich bereits Helmut Schmidt intensiv mit dem Thema auseinandersetzte und dafür eintrat, eine gemeinsame Handlungsfähigkeit der EU zu entwickeln.
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Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Ob in seinen Büchern wie „Die Selbstbehauptung Europas: Perspektiven für das 21. Jahrhundert“ (2000) und „Die Mächte der Zukunft“ (2004) oder in seiner letzten großen Rede auf dem SPD-Bundesparteitag im Dezember 2011: Die Entwicklung der internationalen Ordnung und die Rolle Europas darin haben Helmut Schmidt stets in besonderem Maße beschäftigt. Angesichts der massiven Kräfte- und Machtverschiebungen – weg von Europa und in Richtung Asien, Afrika und Lateinamerika – plädierte Schmidt für die Entwicklung einer „gemeinsamen Handlungsfähigkeit“ der Europäischen Union. Gelänge dies nicht, riskiere Europa eine „selbstverursachte Marginalisierung“ in der zukünftigen Weltpolitik. Eine Prophezeiung, die sich gegenwärtig bei den Versuchen zur Lösung des Kriegs gegen die Ukraine und der Aufrechterhaltung einer europäischen Sicherheitsordnung zu bewahrheiten scheint: gegenüber dem Aggressor Russland und seiner gewaltsamen, revisionistischen Politik, aber auch hinsichtlich des bisherigen Verbündeten USA.
Beschleunigte globale Trends und drei revisionistische Großmächte
Seit Schmidts Rede 2011 haben sich die beschriebenen Entwicklungen noch verstärkt und hat sich das Zentrum der internationalen Beziehungen vom transatlantischen Raum in den Indopazifik verschoben. Die zahlreichen Krisen der letzten Jahre haben sich zu einer als „Polykrise“ wahrgenommenen Entwicklung überlagert und verbunden. Hinzu kam jüngst die „doppelte Zeitenwende“ aus russischem Angriffskrieg gegen die Ukraine und aktiver Aufkündigung des liberalen Weltordnungsmodells durch die US-Administration. Der alte „Westen“ existiert nicht mehr und die EU steht vor zahlreichen internen sowie externen Herausforderungen. Liberale Werte, nicht zuletzt individuelle Menschen- und Bürgerrechte, Freiheit und Gleichheit, werden nicht nur durch Autokratien als „westliche Werte“ infrage gestellt. Zudem wird der Erhalt einer regelbasierten Ordnung in weiten Teilen des „Globalen Südens“ als Versuch der Bewahrung der asymmetrischen Struktur des internationalen Machtgefüges gedeutet.
Die internationale Politik wird zunehmend von ökonomischer und militärischer Hard Power sowie gegenwärtig von drei revisionistischen Großmächten bestimmt: Russland, China, USA. Diese unterminieren in unterschiedlicher Intensität internationale Normen, Grenzen und Institutionen und destabilisieren regionale sowie globale Ordnungssysteme. Die dabei entstehenden Dynamiken fordern andere Staaten dieses Systems unmittelbar heraus, bestehende Annahmen und Überzeugungen zu überdenken.
Entwicklungsszenarien der internationalen Ordnung
Gegenwärtig scheinen die Absichten Russlands, Chinas und der USA auf eine gegenseitige Anerkennung ihrer noch zu definierenden exklusiven Einflusszonen und ihres ebenfalls noch zu bestimmenden Sonderstatus ausgerichtet. Das würde ein globales „Konzert der Großmächte“ mit Macht- und Gleichgewichtspolitik wie im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts bedeuten. Ob die Europäische Union, Indien oder weitere Akteure zu diesem Großmächtekonzert gehören würden, ist umstritten. Klar scheint: Ohne eigene Handlungsfähigkeit, unterlegt mit verfügbaren ökonomischen, technologischen und militärischen Machtmitteln, dürfte Europa nicht nur in dieser Ordnungsoption wenig Aussicht auf Mitbestimmung haben.
Ebenfalls möglich erscheint eine bipolare Konstellation zwischen den USA und China. Dabei ist eine friedliche Koexistenz ebenso denkbar wie eine wachsende Konfrontation, in der manche einen neuen „Kalten Krieg“ sehen. Die Voraussetzungen hierfür sind zweifellos gegeben, aber sowohl China als auch den USA scheinen die willigen Partner für eine derartige Politik zu fehlen. Während die Volksrepublik traditionell wenig Interesse an festen Allianzen zeigt, arbeitet Washington selbst an der Demontage seiner Bündnisse. Trumps transaktionale Außenpolitik befördert Trends der Regionalisierung, der Auflösung von Allianzen und der Bi- und Minilateralisierung sicherheitspolitischer Beziehungen.
Nicht nur für die EU wäre eine regelbasierte multizentrische Ordnung, möglicherweise mit überlappenden regionalen Ordnungen, die beste Option. Gemeinsame Basis müssten die Charta der Vereinten Nationen und das Konzept eines inklusiven und fairen Multilateralismus sein, welcher effektiv zur Bewältigung existenzieller transnationaler Herausforderungen und der Steuerung globaler Fragen beiträgt. Revisionismus und die gewaltsame Durchsetzung nationaler Ordnungs- und Territorialansprüche stoßen auch in den meisten Ländern des „Globalen Südens“ auf Ablehnung. Diese könnten für die Bildung einer gerechten, multilateralen internationalen Ordnung sowie für strategische Partnerschaften gewonnen werden. Dabei sollten Pragmatismus und gemeinsame Interessen, nicht primär ideologische Gemeinsamkeiten handlungsleitend sein.
Zur Realisierung dieses Szenarios sollte die EU neben politischem Willen auch über weltpolitische Handlungsfähigkeit verfügen. Dazu wären eine interne Konsolidierung (Reform- beziehungsweise Vertiefungsdebatte) und der Erhalt der ökonomisch-technologischen Wettbewerbsfähigkeit (Letta- und Draghi-Report) hilfreich. Am dringlichsten aber ist die Erlangung einer außen- und sicherheitspolitischen Selbstständigkeit und autonomen Abschreckungsfähigkeit gegenüber einem aggressiven Russland. Ökonomische und diplomatische Macht sind unter den gegenwärtigen Bedingungen des internationalen Systems auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten angewiesen. Ohne eine derartige Handlungsfähigkeit dürfte die Mitgestaltung der EU bei einer Friedenslösung für die Ukraine und einer zukünftigen europäischen Sicherheitsordnung außerordentlich beschränkt bleiben. Dies hätte unmittelbare Konsequenzen für die Frage, ob Europa zu den „Mächten der Zukunft“ gehört oder sich in der internationalen Politik des 21. Jahrhundert selbst marginalisiert.