Liebe Leser*innen,
hätten Sie sich einen Job bei Helmut Schmidt zugetraut? Wem er ein Regierungsamt anvertraute oder wer für ihn tätig war, musste nicht nur exzellent qualifiziert und absolut loyal sein, sondern auch mit ganz besonderen Herausforderungen zurechtkommen. Zum Beispiel mit einem Chef, der immer alles genau wissen wollte und damit auch Minister in seinem Kabinett ins Schwitzen brachte, der Dienstbesprechungen gerne auch spätabends ansetzte und seine Mitarbeiter*innen gelegentlich sogar nach Mitternacht zu einer Partie Schach aufforderte. Das und vieles andere mehr erzählen uns die Menschen, die für und mit Schmidt gearbeitet haben oder zu seinen Weggefährt*innen in Politik, Medien und Wirtschaft zählten. In Oral-History-Interviews lassen wir diese Frauen und Männer zu Wort kommen und befragen sie danach, was sie mit dem Staatsmann und Publizisten erlebt haben und was sie bis heute mit ihm verbindet. Durch unser Zeitzeugenprojekt wird Zeitgeschichte aus einer Perspektive erzählt, die einen Blick hinter die Kulissen ermöglicht. Dieses Projekt stellt Ihnen unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Dr. Wolfgang Schmidt in diesem Schmidtletter vor.
Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche und vergnügliche Lektüre!
Ihre Bundeskanzler Helmut-Schmidt-Stiftung
In Bertold Brechts Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ finden sich die Zeilen: „Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?“ Darin drückt sich eine schlichte Wahrheit aus, die beim Blick auf historisch herausragende Figuren meist unausgesprochen bleibt und die, wenngleich er alles andere als ein Cäsar war, auch auf Helmut Schmidt zutrifft: Um erfolgreich zu sein, brauchte er Menschen an seiner Seite, die ihm gute Dienste leisteten, ihn unterstützten und seine politische und publizistische Arbeit (zuweilen auch kritisch) begleiteten. In unserem Zeitzeugenprojekt, das im letzten Jahr begann und mindestens noch bis Ende 2025 laufen wird, widmen wir uns den noch lebenden Frauen und Männern, die zu seinen Mitarbeiter*innen und Wegbegleiter*innen zählten.
Wer sind diese Personen und was ist ihr biografischer Hintergrund? Wie sahen ihre Tätigkeiten im Kanzleramt oder später in einem seiner Büros in Hamburg, Bonn und Berlin oder auch bei der Zeit und anderen Einrichtungen aus, in denen Schmidt aktiv war? Was wissen diese Menschen zu berichten über ihn, seine Arbeitsweise, seine Persönlichkeit und sein Netzwerk? Das möchten wir über Oral-History-Interviews herausfinden, die wir audiovisuell aufzeichnen und archivieren. Nach Abschluss des Projekts werden wir diese Interviews auf der Erschließungs- und Rechercheplattform „Oral-History.Digital“ (oh.d) im Internet präsentieren und für Zwecke der historischen Forschung, der Medienberichterstattung und der politischen Bildung zugänglich machen.
Erkenntnisinteressen und Ziele unseres Projekts
Wir bitten die Interviewpartner*innen, uns vor allem zu erzählen, welche Aufgaben und Schwierigkeiten sie bei der Zusammenarbeit mit Helmut Schmidt zu meistern hatten, was sein Verhalten als Chef kennzeichnete und welche Erlebnisse und Erfahrungen für sie besonders prägend oder bewegend waren. Ebenso interessiert uns, was die Menschen in seinem Umfeld über sein Verständnis von Politik, Geschichte, Journalismus oder Kunst zu sagen haben. Nicht zuletzt möchten wir von den Befragten auch erfahren, was sie vor ihrer Zusammenarbeit mit Helmut Schmidt gemacht haben und inwieweit die Jahre mit ihm für ihren weiteren Lebensweg prägend waren.
Die Erzählungen und Einschätzungen der Zeitzeug*innen sind wertvolle Quellen. Sie eröffnen neue Einblicke in Bereiche von Helmut Schmidts Denken und Handeln, über die bisher zumeist nur wenig bekannt ist. Zugleich dokumentieren und erschließen wir damit die Biografien und die Perspektiven der Menschen, die für ihn tätig waren. Ihre Arbeit und ihre Leistungen zu würdigen ist auch ein wichtiges Anliegen dieses Zeitzeugenprojekts. Durch die Oral-History-Interviews möchten wir einen vielstimmigen und spannenden Erinnerungsraum schaffen und für die Nachwelt sichern. Damit befördern wir auch die Rekonstruktion historischer Zusammenhänge und Prozesse.
Einblicke in die ersten Interviews
Inzwischen konnten wir bereits acht Oral-History-Interviews in Hamburg, Berlin, Bonn und Lübeck führen. Bis Ende 2025 soll die Sammlung auf etwa 25 Interviews anwachsen. Wir sprachen unter anderem mit Thilo von Trotha, Petra Rosenbaum und Uwe Plachetka, die zum Redenschreiberteam des Bundeskanzleramts beziehungsweise später zum Mitarbeiterstab im Altkanzlerbüro zählten. Unser prominentester Gesprächspartner war bislang ein wichtiger politischer Weggefährte Helmut Schmidts: Wenige Tage nach seinem 85. Geburtstag konnten wir Ministerpräsident a. D. Björn Engholm interviewen, der als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft 1981/82 der sozial-liberalen Bundesregierung angehörte und von 1991 bis 1993 SPD-Vorsitzender war.
Es sind spannende Geschichten und Erlebnisse, die uns die Interviewten erzählen. Unisono bewunderten unsere Gesprächspartner*innen das unglaubliche Wissen, das Helmut Schmidt in so vielen Bereichen besaß, und seine nimmermüde Neugier, die ihn bis an sein Lebensende antrieb. Ebenso fasziniert äußern sie sich über seine rhetorische Brillanz, die ihresgleichen suchte. Ohne von Schmidts großartigen Fähigkeiten und Verdiensten etwas abzustreichen, kommt in den Interviews durchaus auch Kritisches zur Sprache: Sein fehlendes Verständnis und Einfühlungsvermögen für die junge Generation, seine umstrittenen Einlassungen über seine Zeit als Wehrmachtssoldat während der NS-Diktatur oder seine gelegentlich zu groben Umgangsformen.
Kostproben zum Anschauen und Reinhören
Keine Frage: Helmut Schmidt war ein Chef, der außerordentlich viel verlangte. Seine Mitarbeiter*innen mussten nicht nur ausgesprochen präzise arbeiten, sondern wurden nicht selten spätabends zu Dienstbesprechungen gerufen oder gar um 1 oder 2 Uhr nachts zum Schachspielen verpflichtet. Berichtet wird aber auch von einer familiären Atmosphäre, die besonders bei Zusammenkünften im Wohnhaus der Schmidts im Neubergerweg herrschte und für die vor allem Loki Schmidt sorgte, wenn sie zum Beispiel um Mitternacht Suppe für alle servierte.
Dass Schmidt immer alles genau wissen wollte, davon kann auch Björn Engholm ein Lied singen, der als Minister einmal die undankbare Aufgabe hatte, ein umfangreiches Hochschulgesetz in nur sieben Minuten im Bundeskabinett vorstellen zu müssen. Was er dabei erlebte, sehen Sie in diesem Interviewausschnitt. Weitere Kostproben aus den bereits vorliegenden Interviews können Sie hier anschauen und anhören. Eines wird dabei sehr deutlich: Obwohl er enorm viel von ihnen forderte, fühlen sich unsere Zeitzeug*innen bis heute eng mit Helmut Schmidt verbunden, und sie empfinden Freude und Dankbarkeit, ihm gedient zu haben.