Liebe Leser*innen,
wir hoffen, Sie hatten eine besinnliche Weihnachtszeit und einen guten Start in das neue Jahr. Wir wünschen Ihnen alles Gute für 2025.
Unser erster Schmidtletter in diesem Jahr nimmt Sie mit auf eine Reise in die Vergangenheit: Simon-Lennard Till, Mitarbeiter des Helmut Schmidt-Archivs, hat für Sie eine Rede herausgesucht, die der Altkanzler 2005 in Shanghai hielt. Eingeladen, eine Prognose für die Zukunft zu geben, warf Schmidt einen geopolitischen Blick in unsere Gegenwart. Seine 20 Jahre alten Ausführungen sind ein bedeutendes historisches Zeugnis, das sich heute fast wie düstere Prophezeiungen liest.
Eine interessante Lektüre wünscht
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Jahresumbrüche laden zu Vorschau und Veränderung ein. Selten scheint die Trennung zwischen Vergangenheit und Zukunft so klar, dass uns der nächste Tag ein anderes Handeln, ein anderes Denken oder sogar einen neuen Menschen abverlangen kann. Die formbare Zukunft ist ideengeschichtlich eine inhärent moderne Angelegenheit und nicht allein dem Individuum verpflichtet. Ja, die ganze Welt kann eine andere werden und Menschen können sie gestalten. Das muss kein Glücksfall sein. In Erwartung auf Negatives scheint dieses Versprechen auch eine Furcht auszulösen: Was ist, wenn unser Handeln die Welt von morgen verschlechtert? Besonders im Diskurs der letzten Jahre hat sich diese Angst festgesetzt. Durch die jahrzehntelange Forschung zum Klimawandel wurde deutlich, dass positiv gesetzte Fortschritte wie die Industrialisierung Europas und Nordamerikas ihre Kehrseite haben, deren schlimmste Auswirkungen es noch zu befürchten gilt. Jeder Tag des Nichthandelns oder des Nicht-genug-Handelns kann wie ein verschwendeter wirken, was in all seiner Paradoxie bis hin zur Lähmung führt. Vergangenheit und Zukunft sind somit nicht scharf getrennt, sondern bedingen sich. Wer etwas über unsere heutige Welt erfahren oder gar ihre Zukunft gestalten möchte, sollte in die Archive gehen.
Schmidts Prognose für die Welt der Zukunft
Vor fast 20 Jahren wagte Helmut Schmidt einen Blick in das Jahr 2025. Auf seiner Asien-Reise im August und September 2005 machte er Halt an der Fudan-Universität in Shanghai, wo er eingeladen war, seine Prognosen für eine zukünftige Welt abzugeben. Die dafür entstandene Rede lagert heute in mehrfacher Ausführung im Helmut Schmidt-Archiv und zeugt vom Wechselspiel des Vergangenen und Zukünftigen in seinem Denken. Schmidt hatte sich in diesen Jahren längst als veritable Stimme in den nationalen wie internationalen politischen Debatten etabliert und versuchte, laut Thomas Karlauf, dennoch sein Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Der ehemalige Lektor des Siedler Verlags zeichnet in seinem Buch „Helmut Schmidt: Die späten Jahre“ (2016) auf, dass dem Altkanzler die häufig attestierte Rolle des beinahe heldenhaften Krisenmanagers wenig zusagte. Stattdessen habe Schmidt durch gezielt platzierte und ausgewählte Beiträge versucht, sich als Elder Statesman im amerikanischen Sinne darzustellen. Dazu gehörte ein selbstbewusster geopolitischer Blick in die Zukunft. Die Rede in Shanghai 2005 reiht sich somit ein in einen schmidtschen Kanon ähnlicher Ausblicke wie eine zwei Jahrzehnte vorausgegangene Rede in Beijing oder den Abschluss einer Bucerius Summer School Reunion 2008 in Hamburg.
„Ökonomen sind vertrauenswürdig, solange sie von der Vergangenheit sprechen“
Nicht um einen Witz verlegen, eröffnete der Altkanzler in Shanghai mit dem ausgestellten Problembewusstsein für die darauffolgenden Prognosen. Diesen sei, besonders aus dem Munde eines Ökonomen, jedoch nicht zu trauen: „Ökonomen sind vertrauenswürdig, solange sie von der Vergangenheit sprechen, das Publikum sollte vorsichtig sein, wenn diese über die Gegenwart sprechen. Aber besonders vorsichtig, wenn sie die Zukunft behandeln.“ Schmidt baut seine Rede schematisch auf. Ausgehend von einer gegenwärtigen Weltlage seien Gewissheiten und eher Ungewisses von der Zukunft zu erwarten. In diesem Dreischritt vermischen sich bereits Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Dem Gastgeberland China wird dabei die Sonderrolle einer „Weltmacht“ zuteil, die Schmidt im Vergleich zu den USA („Supermacht“) abzugrenzen weiß. Mit gewohnter Bewunderung für den ökonomischen Aufstieg der Volksrepublik und ihrer Leitfigur Deng Xiaoping sieht er das Land auch für die Zukunft bestens gewappnet. Dass die weltpolitische Lage 2025 dabei auch militärisch eine der Deeskalation bleibt, hänge nicht allein an der Politik Chinas, sondern auch an der der Vereinigten Staaten. Aufgrund der verschlechterten Beziehungen beider Mächte heute, wirken diese 20 Jahre alten Warnungen wie düstere Prophezeiungen. Russlands Stellung als Weltmacht sei hingegen aufgrund seiner territorialen Ausdehnung, der enormen Rohstoffvorkommen und der militärischen Stärke auch zukünftig gesichert. Hierin will Schmidt aber keine Gefahren für ehemalige Sowjetstaaten oder Europa erkennen: „Ähnlich zu China sind von Russland in absehbarer Zukunft keine Aggressionen zu erwarten, wenn sie nicht provoziert werden.“ Es ist mittlerweile enttäuschter Optimismus bei gleichzeitigem Appell zur internationalen Zusammenarbeit. Ob Klimawandel, Pandemien, die Gefahr des internationalen Terrorismus, europäische Außen- und Verteidigungspolitik, Migrationsbewegungen oder die fortschreitende atomare Bewaffnung, immer ermahnt der Altkanzler sein Publikum 2005 und uns heute zur Zusammenarbeit. All dies seien Krisen und Phänomene einer globalisierten Welt, die auch als solche möglichst gemeinsam bewältigt werden müssten.
Im Zeichen des Kalten Kriegs
Helmut Schmidt war als Kanzler und Elder Statesman vom Kalten Krieg geprägt. Diese zeitgeschichtliche Besonderheit prägt seine Rede in Form und Inhalt. Um die Bewahrung des Friedens bedacht und um die Fragilität der Staatengemeinschaft wissend, ist dieses Dokument ein Ausdruck seiner Zeit und seiner Biografie. Das Denken in großen Linien der Weltgeschichte und Kennzahlen der Weltwirtschaft stößt bei allen eingetretenen Prognosen in den Details an seine Grenzen. Zwar lässt sich ein Erkennen der auf das Ende der bipolaren Weltordnung folgenden Veränderungen herauslesen, doch das Wohlwollen gegenüber China und der einseitige Blick auf Russland führen zu Fehleinschätzungen. Kaum jemand in der Politik dürfte bereits 2005 mit einem russischen Krieg gegen die Ukraine in der Zukunft gerechnet haben. Zu stark war der Glaube an eine friedensorientierte, regelbasierte und diplomatisch agierende Welt. Doch in den Ausführungen des Elder Statesman ist die Rollenverteilung der Weltmächte und die von ihnen hergestellte Ordnung so fest verankert, dass kein Raum für Zweifel bleibt.
Vorhersagen sind verführerisch. Besonders wenn ihre düstersten Prognosen eintreten, scheint die Vergangenheit die Gegenwart einzuholen und keine andere Zukunft mehr denkbar. Wenn wir aber Helmut Schmidts Blick in das Jahr 2025 als historisches Zeugnis einzuordnen wissen und nicht der Idee des Allwissenden verfallen, können wir mit der Offenheit der Zukunft das neue Jahr beginnen.