Die Europäische Union: „Ein weltgeschichtlich einmaliger Erfolg“

Eine fiktive Rede erinnert an die Leitlinien der schmidtschen Europa-Politik

Autor/in: Meik Woyke

Liebe Leser*innen,

was fällt Ihnen in diesen Tagen zu Europa ein? Nein, wir meinen nicht schon wieder die Fußball-Europameisterschaft. Wir richten den Scheinwerfer nicht auf den grünen Rasen, sondern auf die Europäische Union. Und nein, wir stimmen nicht in die Schlacht-gesänge ein, die vom „Corona-Chaos“ oder den „Brüsseler Bürokraten“ schwadronieren. Wir schauen, wie es der Chefredakteur der Zeitschrift Internationale Politik (IP), Martin Bialecki, so schön formuliert, auf „die hellen Seiten“ der EU, die wir in Kooperation mit der IP-Redaktion in einem neuen Special ausleuchten. Dabei stellen wir uns auch die Frage: Wie würde Helmut Schmidt den Zustand der Europäischen Union heute kommentieren? Das werden wir nie erfahren. Doch unsere fiktive Rede, die Meik Woyke aus historischen Zitaten komponiert hat, lässt die Prämissen und Leitlinien der schmidtschen Europa-Politik noch einmal lebendig werden.

In diesem Sinne, wünschen wir Ihnen einen schönen Urlaub in einem grenzenlosen, friedlichen Europa und verabschieden uns mit diesem Schmidtletter in die Sommerpause. Mit unserem 14-tägigen Schmidtletter Kompakt halten wir Sie selbstverständlich weiterhin über unsere Veranstaltungen und Veröffentlichungen auf dem Laufenden.

Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Sehr geehrte Damen und Herren! 

Nach endlosen Jahrhunderten innereuropäischer Kriege ist der am Ende des 20. Jahrhunderts erreichte Stand der europäischen Integration ein in der Weltgeschichte einmaliger Erfolg. Niemals zuvor und auf keinem anderen Kontinent hat eine große Zahl von Nationalstaaten sich aus freiem Willen zusammengeschlossen und auf Teile ihrer Souveränität verzichtet. Dabei hat keine Nation ihre Sprache oder ihre nationale Identität aufgegeben; manche alten Feindschaften, viele Verletzungen und auch einige nationale Eitelkeiten wurden hintangestellt. 

Die damals führenden Staatsmänner in Europa und in Amerika (ich nenne George Marshall, Eisenhower, auch Kennedy, vor allem aber Churchill, Jean Monnet, Adenauer und de Gaulle oder auch de Gasperi und Henri Spaak) handelten keineswegs aus Europa-Idealismus, sondern aus Kenntnis der bisherigen europäischen Geschichte. Sie handelten aus realistischer Einsicht in die Notwendigkeit, eine Fortsetzung des Kampfes zwischen Peripherie und deutschem Zentrum zu vermeiden.

Kaum einer der heute lebenden Europäer war jemals freier als heute, kaum einer hat jemals in größerem Wohlstand gelebt – eine große Leistung! Wenn heute der größte Teil Europas sich der Menschenrechte und des Friedens erfreut, dann hatten wir uns das weder 1918 noch 1933 noch 1945 vorstellen können. Lasst uns deshalb dafür arbeiten und kämpfen, dass die historisch einmalige Europäische Union aus ihrer gegenwärtigen Schwäche standfest und selbstbewusst hervorgeht!

Leicht getrübtes Friedens-Szenario

Ganz anders als im 20. Jahrhundert erscheint Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts den meisten als ein friedlicher Kontinent. Ein innereuropäischer Krieg ist für die meisten Menschen undenkbar geworden. Auch eine etwaige militärische Bedrohung der europäischen Nationen durch einen fremden Staat will mir äußerst unwahrscheinlich vorkommen. Zu den Ausnahmen, die das Bild von einem friedlichen Europa trüben, gehören die ungelösten Konflikte auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien; dazu könnten denkbare Konflikte zwischen Staaten gehören, die ehemals Teil der Sowjetunion waren. Falls sich aus einer generellen Konfrontation zwischen den westlichen und den islamischen Kulturen auch militärische Konflikte ergeben, wird Europa ebenfalls einbezogen sein. Vom islamistischen Terrorismus gehen schon heute mancherlei Gefährdungen auch für Europa aus.

Strategisches Interesse an Integration

Seit Maastricht 1991/92 hat sich aber die Welt gewaltig verändert. Wir haben die Befreiung der Nationen im Osten Europas und die Implosion der Sowjetunion erlebt. Wir erleben den phänomenalen Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer „Schwellenländer“, die man früher pauschal „Dritte Welt“ genannt hat. Gleichzeitig haben sich die realen Volkswirtschaften größter Teile der Welt „globalisiert“, auf Deutsch: Fast alle Staaten der Welt hängen voneinander ab. Vor allem haben die Akteure auf den globalisierten Finanzmärkten sich eine einstweilen ganz unkontrollierte Macht angeeignet.  Jede einzelne der europäischen Nationen wird 2050 nur noch einen Bruchteil von 1 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Das heißt: Wenn wir die Hoffnung haben wollen, dass wir Europäer eine Bedeutung für die Welt haben, dann können wir das nur gemeinsam.

Daraus ergibt sich das langfristige strategische Interesse der europäischen Nationalstaaten an ihrem integrierenden Zusammenschluss. Dieses strategische Interesse an der europäischen Integration wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es ist bisher den Nationen weitestgehend noch nicht bewusst. Es wird ihnen durch ihre Regierungen auch nicht bewusst gemacht. Falls jedoch die Europäische Union im Laufe der kommenden Jahrzehnte nicht zu einer – wenn auch begrenzten – gemeinsamen Handlungsfähigkeit gelangen sollte, so ist eine selbstverursachte Marginalisierung der einzelnen europäischen Staaten und der europäischen Zivilisation nicht auszuschließen. Ebenso wenig kann in solchem Falle das Wiederaufleben von Konkurrenz- und Prestigekämpfen zwischen den Staaten Europas ausgeschlossen werden. In solchem Falle könnte die Einbindung Deutschlands kaum noch funktionieren. Das alte Spiel zwischen Zentrum und Peripherie könnte abermals Wirklichkeit werden.

Nachbarschaftspfleger

Wir Deutschen, mit neun unmittelbaren Nachbarn in der Mitte Europas lebend, mit der größten Einwohnerzahl und der größten Volkswirtschaft, wir müssen jedenfalls wissen: Wir haben keine weltstrategischen Aufgaben in anderen Erdteilen; wohl aber bleibt ein friedliches und enges Verhältnis zu allen unseren Nachbarn unsere wichtigste Aufgabe.

Eine „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“, über die einige europäische Außenminister in visionären Sonntagsreden geschwatzt haben, ist in Wahrheit nicht vorhanden. Ob sie jemals zustande kommt, ist zweifelhaft. Denn auch der 2007 paraphierte Vertrag von Lissabon kann keine Gemeinsamkeit des Handelns erzwingen. Einstweilen hat die Welt mit 27 verschiedenen europäischen Außenministern zu tun, dazu mit einem häufig wechselnden EU-Ratspräsidenten. 

Die Briten haben von Anfang an vor jedem Schritt des europäischen Zusammenwachsens gezögert. Als Churchill 1946 in seiner Züricher Rede den Franzosen empfahl, gemeinsam mit dem soeben besiegten (West-)Deutschland die Vereinigten Staaten von Europa zu begründen, war ihm die Nichtbeteiligung des Vereinigten Königreichs ganz selbstverständlich. Die Neigung der englischen politischen Klasse, ihr Land apart zu halten, hat ihre Ursache sowohl in prestige- und machtpolitischen Motiven als auch in der Besorgnis, die nationale Identität zu beschädigen. Dagegen waren die vorgetragenen ökonomischen Argumente tatsächlich von minderem Gewicht – so wie heute.  Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, gestützt auf unsere ökonomische Stärke, eine politische Führungsrolle in Europa zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter pares zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren. Unsere geopolitische Zentrallage, dazu unsere unglückliche Rolle im Verlaufe der europäischen Geschichte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, dazu unsere heutige Leistungsfähigkeit, all dies zusammen verlangt von jeder deutschen Regierung ein sehr hohes Maß an Einfühlungsvermögen in die Interessen unserer EU-Partner. Und unsere Hilfsbereitschaft ist unerlässlich.

Reformwege aus der Krise

Diese Solidarität mag heute der deutschen politischen Klasse nicht ausreichend bewusst sein. Aber bisher war sie selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich – und außerdem seit Lissabon vertraglich vorgeschrieben – ist das Prinzip der Subsidiarität: Das, was ein Staat nicht selbst regeln oder bewältigen kann, das muss die Europäische Union übernehmen.  Für die Überwindung der heutigen Führungskrise der EU gibt es kein Patentrezept. Man wird mehrere Schritte benötigen, zum Teil gleichzeitig, zum Teil nacheinander. Man wird nicht nur Urteilskraft und Tatkraft benötigen, sondern auch Geduld! Dabei dürfen konzeptionelle deutsche Beiträge sich nicht auf Schlagworte beschränken. Sie sollten nicht auf dem Fernseh-Marktplatz, sondern stattdessen vertraulich im Rahmen der Gremien der Organe der EU vorgetragen werden.  In einem wichtigen Punkt stimme ich mit Jürgen Habermas überein, der jüngst davon gesprochen hat, dass – ich zitiere – „wir tatsächlich jetzt zum ersten Mal in der Geschichte der EU einen Abbau von Demokratie erleben!!“ (Ende des Zitats). In der Tat: Nicht nur der Europäische Rat inklusive seiner Präsidenten, ebenso die Europäische Kommission inklusive ihres Präsidenten, dazu die diversen Ministerräte und die ganze Brüsseler Bürokratie haben gemeinsam das demokratische Prinzip beiseite gedrängt! Ich bin damals, als wir die Volkswahl zum Europäischen Parlament einführten, dem Irrtum erlegen, das Parlament würde sich schon selbst Gewicht verschaffen.

Die Europäische Union muss ein dynamisch sich entwickelnder Verbund bleiben. Es gibt dafür in der ganzen Menschheitsgeschichte kein Beispiel. Ein gewaltiger Erfolg – erzielt im Laufe eines halben Jahrhunderts. Es darf getrost noch einmal ein halbes Jahrhundert dauern, bis wir von Vollendung der Europäischen Union werden reden können.

Heute treten wir nicht ein für die Vereinigten Staaten von Europa, aber für eine Gemeinschaft, die sich demokratisch selbst steuert. Ich bitte herzlich darum, dass Sie sich das überlegen und dass Sie möglichst viele Kolleginnen und Kollegen im Büro oder in der Fabrik, Kameraden im Turnverein oder im Sportverein, Gartennachbarn in der Kleingartenkolonie, dass Sie möglichst viele Leute dazu kriegen, mitzudenken und dann mitzutun.


Die Helmut-Schmidt-Zitate, aus denen dieser Text besteht, wurden folgenden Werken entnommen:

  • Helmut Schmidt, Einer für alle. Der Euro vergrößert den Wohlstand und das weltpolitische Gewicht, in: Die ZEIT, 15. November 2001.
  • Helmut Schmidt, Hand aufs Herz. Helmut Schmidt im Gespräch mit Sandra Maischberger, München 2002.
  • Helmut Schmidt, Wir brauchen Mut. Europa hat viele Schwächen, aber am Ende ist es keineswegs, in: Die ZEIT, 9. Juni 2005.
  • Helmut Schmidt, Außer Dienst. Eine Bilanz, München 2008.
  • Deutschland in und mit Europa. Rede von Helmut Schmidt am 4. Dezember 2011 auf dem SPD-Parteitag in Berlin, www.spd.de/aktuelles/detail/news/deutschland-in-und-mit-europa/11/11/2015/.
  • Helmut Schmidt, Mein Europa. Reden und Aufsätze. Mit einem Gespräch zwischen Helmut Schmidt und Joschka Fischer, moderiert von Matthias Naß, Hamburg 2013.

Der Text, der hier leicht gekürzt wiedergegeben wurde, ist erschienen in der Zeitschrift Internationale Politik Special, Nr. 4/2021, „Die Entdeckung Europas. Warum die EU mehr kann“. Sie ist sowohl im Abonnement als auch für 9,90 Euro im Bahnhofsbuchhandel erhältlich.

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