Helmut Schmidt im Ringen um die Idee eines „Weltethos“

Die Idee der „Menschenpflichten“ im Staat als Ergänzung zur „Menschenrechtserklärung“

Autor/in: Karin Ellermann

Liebe Leser*innen,

bis ins fortgeschrittene Alter trieb Helmut Schmidt die grundsätzliche Frage um, welche gemeinsamen Werte und welche ethischen Standards wir in allen Religionen und Kulturen weltweit brauchen, um friedlich zusammen leben zu können. Er setzte sich intensiv mit den Pflichten des Einzelnen im Staat auseinander. Das Ziel war es, „Freiheit und Verantwortlichkeit in ein Gleichgewicht zu bringen und ein Umdenken zu bewirken.“

Lesen Sie in unserem aktuellen Schmidtletter, wie diese Gedanken zu einer „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“ führten und wie Schmidts Interpretation eines „Weltethos“ aufgenommen wurde.

Wir wünschen Ihnen eine erbauliche Lektüre
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Seit den 1990er-Jahren beschäftigte sich Helmut Schmidt immer öfter und intensiver mit der Idee der sogenannten „Menschenpflichten“, die er gedanklich eng mit dem Begriff des „Weltethos“ verband. Mit dem Schweizer Theologen Hans Küng, dem Schöpfer dieses Begriffs, stand er in regem Gedankenaustausch. Küng hat mit seinem Projekt Weltethos ein Bewusstsein für grundlegende gemeinsame Werte in allen Teilen der Gesellschaft sowie für ein friedliches und respektvolles Miteinander über die Grenzen von Religionen, Kulturen und Nationen hinweg geschaffen. Fundamentale Gebote wie Gewaltlosigkeit und Wahrhaftigkeit sind dabei Teil der von Küng begründeten Stiftung, die dies auch aus aktuellem Anlass auf ihrer Homepage darlegt.

1998 hielt Helmut Schmidt in Prag eine Rede zum 50. Jahrestag der „Deklaration der Menschenrechte“. Darin betont er, dass der Begriff der Menschenrechte seinen historischen Ursprung im Westen habe. Anschließend übte er scharfe Kritik an den Führern der Staaten im heute als „Globaler Süden“ benannten Rest der Welt, die zwar für sich die Wahrnehmung der Menschenrechte postulieren, aber keinerlei Anstalten träfen, dies auch durch die Schaffung demokratischer Strukturen zu untermauern. Mit den Worten: „Sadly, this relationship between freedom and responsibility has not always been clearly understood“, leitet er zu den von ihm mitverfassten „Menschenpflichten“ über.

Im gleichen Jahr schreibt er, dass es an der Zeit sei, über menschliche Pflichten zu sprechen. Weiter heißt es: „Der […] Entwurf menschlicher Pflichten versucht Freiheit und Verantwortlichkeit in ein Gleichgewicht zu bringen und ein Umdenken zu bewirken, von der Freiheit der Indifferenz hin zu Freiheit des Engagements.“

„Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“

1996 hatte Schmidt seine Bemühungen hinsichtlich des Pflichtenkatalogs intensiviert. Er war damals Vorsitzender des InterAction Councils, eines Zusammenschlusses von ehemaligen Staats- und Regierungschefs, den er gemeinsam mit dem japanischen Premierminister Takeo Fukuda 1983 gegründet hatte. In der hochkarätigen Runde wurde das Thema gemeinsam mit Hans Küng ausführlich diskutiert. Am 3. Juni 1997 verabschiedet das InterAction Council eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ (Universal Declaration of Human Responsibilities). Die „Menschenpflichten“ wurden in der Öffentlichkeit nicht nur positiv aufgenommen. Constanze Stelzenmüller etwa veröffentlichte kurz nach Erscheinen in der Zeit eine Replik über "Die gefährlichen achtzehn Gebote". Die Verfasser wiesen immer wieder darauf hin, dass sie keine Konkurrenz zur „Menschenrechtserklärung“ der Vereinten Nationen darstellten, sondern diese nur auf vernünftige Weise ergänzen sollten. In seiner Weltethos-Rede „Konflikt zwischen Vernunft und Religion“, gehalten am 8. Mai 2007 in Tübingen, fasst Helmut Schmidt noch einmal beides – Weltethos und Pflichtenkatalog – zusammen.

Pflichterfüllung gegenüber der Gesellschaft war für Helmut Schmidt selbstverständlich. Dazu habe der Staat zwar ordnende Bedingungen zu schaffen, aber keinerlei geistige Führung zu übernehmen. Schmidt formuliert dies in seiner Abschiedsrede vor dem Deutschen Bundestag am 10. September 1986 klar und deutlich. Er erwarte geistige Orientierung von Lehrenden, Künstler*innen und Literat*innen, aber auch in Kirchen und Religionsgemeinschaften. Die persönliche Richtschnur dafür zu finden obliege dem einzelnen Menschen hingegen selbst. Persönliche Entscheidungen seien vielfältig und von großer Pluralität – Schmidt bezieht sich dabei auf unterschiedliche geistige Haltungen, Philosophien sowie auf Ethik und Moral – weshalb der pluralistische Staat und seine Gesellschaft bejaht werden können, die den Menschen für ihr vielfältiges Wirken genügend Spielraum zur Verfügung stellt.

Ein Garant der Menschenrechte?

Für Schmidt, der in der NS-Diktatur aufwuchs und der sich als Bundeskanzler mit den Führern der „Diktatur des Proletariats“ im Ostblock und aufstrebender Autokraten im entkolonialisierten Afrika konfrontiert sah, konnte nur der demokratische Staat nach westlichem Muster ein Garant der Menschenrechte sein. Schmidt betonte, dass an erster Stelle Respekt vor der Freiheit und Würde anderer für die Qualität unserer Demokratie entscheidend sei, und es ohne gelebte Freiheit keine politische Kultur geben könne. Diese Freiheit, so seine Überlegungen, konnte es aber nur in Verbindung von Rechten und Pflichten jedes Einzelnen der Gesellschaft gegenüber geben.
Grundsätzlich könne der Idee eines „Weltethos“ zugestimmt werden, verheiße sie doch den globalen Weltfrieden. In seiner Weltethos-Rede von 2007 gedenkt Schmidt des früheren ägyptischen Staatspräsidenten Anwar el-Sadat und dessen Friedensbemühungen: „Er wusste von dem gemeinsamen Friedensangebot, zum Beispiel in den Psalmen des jüdischen Alten Testamtens, zum Beispiel in der Bergpredigt oder in der vierten Sure des muslimischen Koran. Wenn doch nur auch die Völker Kenntnis von dieser Übereinstimmung hätten, wenn wenigstens doch die politischen Führer der Völker sich dieser ethischen Übereinstimmung ihrer Religionen bewusstwürden, dann würde ein dauerhafter Friede möglich sein. Dies war eine tiefe Überzeugung.“ Doch die drei abrahamitischen Religionen als Basis des „Weltethos“ genügen bei Weitem nicht, den Weltfrieden Wirklichkeit werden zu lassen. Allein die Geschichte des 20. Jahrhunderts belegt dies augenfällig.

„An ihren Taten sollt ihr sie erkennen“

Ethisch-moralische Grundsätze menschlichem Handeln zugrunde zu legen ist dabei ein guter Ansatz. Doch Ethik und Moral sind keine universellen Konstanten, sondern abhängig von Kultur und Gesellschaft, in der Menschen leben. Letztendlich bleiben „Weltethos“ und „Pflichtenkatalog“ westeuropäische Sichtweisen, die sich aus der konkreten europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts herleiten, wie Schmidt selbst erkannte. Auch wenn der Idee zugute gehalten werden kann, dass sie den Weltfrieden für alle anstrebt, bleibt sie ein Modell des europäischen Denkens. Angesichts der noch immer andauernden politischen und wirtschaftlichen Hegemonie des Westens gegenüber dem Globalen Süden, scheint aus heutiger Sicht weniger die Frage von Menschenpflichten als erneut die Aufforderung zur Einhaltung der Menschenrechte weltweit im Vordergrund zu stehen. 
Der Export des westlichen Demokratiemodells erweist sich auch im 21. Jahrhundert als Fehlschlag, begleitet von regionalen militärischen Konflikten weltweit.

Was also bleibt übrig vom schmidt‘schen „Weltethos“ und dem „Pflichtenkatalog“? Diese Frage lässt sich nicht konkret beantworten. Denn ob und auf welchem Weg die heute global vernetzte Menschheit zur weltweiten sozialen Gerechtigkeit und damit zur Befriedung findet, ist derzeit offen.

Für Helmut Schmidt, der gern aus der Bibel zitierte, mag 1. Johannes 2.6 gelten: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen“. Die von ihm eingeforderten „Menschenpflichten“ lassen sich auf ihn selbst bezogen durchaus prüfen. Werden seine Entscheidungen, die er in seiner Amtszeit als Bundeskanzler und Abgeordneter im Deutschen Bundestag getroffen hat, an seinen ethisch-moralischen Grundsätzen gemessen, wird sichtbar, dass er sein politisches Wirken als Pflichterfüllung gegenüber der Gesellschaft verstanden hat. Schmidts nach dem Zweiten Weltkrieg gewonnene Überzeugung, sein politisches Handeln in den Dienst des freiheitlichen und demokratischen Staates zu stellen, mag durchaus auch heute beispielgebend sein.

Hier sehen Sie die Weltethos-Rede im Original:

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