Stumme Zeugen der größten Lüge der Nachkriegsgeschichte

Relikte erinnern im Schmidt-Haus an den Mauerbau vor 60 Jahren

Autor/in: Franziska Zollweg

Liebe Leser*innen,

wir hoffen, Sie haben die Sommerpause, die wir mit dem letzten Schmidtletter Anfang Juli eingeläutet haben, genießen können und Sie haben eine wunderbare Zeit verbracht. Urlaub in deutschen Gefilden stand in diesem Jahr hoch im Kurs, zum Beispiel an der Ostsee, an der Mecklenburgischen Seenplatte, im Erzgebirge oder auch in der Sächsischen Schweiz. Können Sie sich noch an die Zeit erinnern, als die Reise in Gudow, in Helmstedt oder in Herleshausen abrupt unterbrochen wurde und umgekehrt für die Menschen in Ostdeutschland viele Urlaubsziele  unerreichbar waren? Haben Sie noch die Wachtürme vor Augen an den Grenzübergängen zwischen Ost und West? Auch im Haus von Loki und Helmut Schmidt in Hamburg-Langenhorn ist die deutsche Teilung noch präsent. Wir laden Sie ein, gehen Sie mit uns auf Spurensuche und blicken Sie zurück auf den Bau der Berliner Mauer, mit dem genau vor 60 Jahren begonnen wurde.

Viel Vergnügen bei dieser kleinen Zeitreise wünscht Ihnen 
Ihre Bundeskanzler Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Ein fünf Kilogramm schweres Bruchstück aus grauem Beton mit den Resten eines Graffito steht auf dem Regal im Eingangsbereich des Schmidt-Archivs in Hamburg-Langenhorn. Ein anthrazitfarbener Rahmen mit edlem Leinenüberzug schützt das Relikt; in großen weißen Lettern steht darauf geschrieben: DIE MAUER. Es war ein Geschenk der Bild-Chefredaktion an Helmut Schmidt zum 20. Jahrestag des Mauerfalls vom 9. November 1989. Neben diesem Exemplar befinden sich noch zwei weitere Mauer-Stücke im Privathaus der Schmidts. Bis heute sind sie stumme Zeugen der größten Lüge der deutschen Nachkriegsgeschichte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ sagte DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 in einer Pressekonferenz − zwei Monate später, am 13. August, wurde mit dem Bau der „Berliner Mauer“ begonnen.

Von der „Berlin-Frage“ zur „Berliner Mauer“

Nachdem die DDR-Führung die Grenze zur Bundesrepublik 1952 durch Sperrzonen sichern ließ, flohen tausende Menschen über Berlin in den Westen. Ulbricht aber wollte den anhaltenden Flüchtlingsstrom nicht länger akzeptieren und drängte den sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow im November 1960 auch das „letzte Schlupfloch“ abzuriegeln. Erst im Sommer 1961 − die Westalliierten hatten die sowjetische Forderung, ihre Truppen aus dem Westsektor abzuziehen, erneut abgelehnt − stimmte Chruschtschow Ulbrichts Vorschlag zu. Während am 5. August die sowjetische Führung die Pläne öffentlich verkündete und damit unter Ostdeutschen Panik und weitere Flüchtlingsströme auslöste, war zu diesem Zeitpunkt längst alles Notwendige für die sogenannte „Operation Chinesische Mauer“ vorbereitet. Die Volkspolizei wurde aufgestockt und neue Grenzsicherungen wurden geschaffen. Tausende sowjetische Soldaten im gesamten Gebiet der DDR wurden mobilisiert, die Kappung aller direkten Verkehrsverbindungen zwischen Ost- und Westberlin wurden vorbereitet und Baumaterialien wurden beschafft. In der Nacht zum 13. August war es soweit: Einheiten der Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee und die sogenannten Betriebskampfgruppen riegelten unvermittelt die Grenze in Berlin ab und begannen damit eine Mauer zu errichten. Die Westmächte ließen das Ungeheuerliche geschehen. Und auch wenn Willy Brandt protestierte, machten sie klar, dass man trotz des schwerwiegenden Charakters des Mauerbaus nicht bereit sei, einen Krieg zu riskieren.

Die zweite Geburt der DDR

Ulbrichts Aktion, die Schließung der Grenze, galt als zweite Geburt der DDR und wäre ohne massive sowjetische Schützenhilfe nicht geglückt. Die „Berliner Mauer“ wurde zum weltweiten Symbol der politischen Spaltung Deutschlands und Europas.Die schmerzlichsten Folgen hatte der Mauerbau aber für die Menschen, vor allem jene in der DDR. Sie hatten nun kein „Schlupfloch“ mehr in den Westen. Und wer fliehen wollte, musste damit rechnen, erschossen zu werden. Helmut Schmidt verurteilte den Mauerbau als „ein unmenschliches Zeugnis eines völlig verfehlten politischen Regimes.“ Und dennoch: Seine Deutschlandpolitik war stets eine des Händereichens. Immer wieder bemühte sich Schmidt darum, die Beziehung zwischen den beiden deutschen Teilen zu stabilisieren. Während seiner Kanzlerzeit und auch danach führte er regelmäßig persönliche Gespräche mit dem Staatschef der DDR, Erich Honecker. Ein wichtiges politisches Zeichen − vor allem für die Bürger*innen der DDR − war vor allem sein denkwürdiger Besuch in Güstrow im Dezember 1981. Nach dem Ende seiner Kanzlerzeit setzte Schmidt seine Bemühungen fort und entschied 1984, dass sein Kanzler-Portrait von Bernhard Heisig gemalt werden sollte – einem renommierten DDR-Maler. Dies löste eine kulturpolitische Diskussion aus, brachte Bewegung in die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und begründete die „Operation Mütze“ der Stasi zur Überwachung des Kunst-Projekts. Als nach 28 Jahren − erhofft, aber ebenso unerwartet wie ihr Bau − die Mauer tatsächlich fiel, verfolgte Helmut Schmidt die Nachrichten in Hamburg vor dem Fernseher. Er sei tief bewegt gewesen, erinnert sich Schmidt, weil kein Schuss gefallen war und alles friedlich blieb. Den Vollzug der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 habe er, wie wohl die große Mehrheit in Ost und West, als ganz großes Glück empfunden.

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