75 Jahre Grundgesetz: Ein Bollwerk gegen die Feinde von Demokratie und Freiheit

Verfassung bis heute erstaunlich frisch und modern – Aber: Rechtsextreme nehmen Grundrechte ins Visier

Autor/in:Magnus Koch
Abbildung des Buches mit dem Grundgesetz

Liebe Leser*innen,

es wird dieser Tage viel diskutiert über die deutsche Verfassung. Das verwundert auf den ersten Blick, gelten doch Gesetzbücher allgemein als trockene Materie. Aber in Zeiten, in denen die Sorgen über die Zukunft der Demokratie in Deutschland Schlagzeilen und Diskussionsrunden prägen, scheint die Rückbesinnung auf Grundwerte und „Leitplanken“ staatlich-gesellschaftlicher Ordnung besonders wichtig. Und der Blick ins Grundgesetz zeigt, wie kostbar dieses Regelwerk ist angesichts autoritärer Regime, die Menschen in vielen Teilen der Welt fundamentale Schutzrechte verweigern. Autoritäre Bewegungen und Parteien formulieren oft ganz offen, den Schutz der Menschenwürde, Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit oder die Freiheit von Kunst und Wissenschaft abschaffen zu wollen – das polnische Beispiel etwa hat gezeigt, dass es nicht bei solcherlei Ankündigung bleiben muss.

Wie sich das Grundgesetz seit 1949 weiterentwickelt hat, aber auch wie unsere Verfassung gefährdet ist, das schildert uns in diesem Schmidtletter Dr. Magnus Koch, der Leiter unseres Arbeitsbereichs Ausstellungen und Geschichte. Gleichzeitig lädt er zu einem wissenschaftlichen Workshop ein.

Falls Sie Interesse haben, daran teilzunehmen, melden Sie sich gerne an.
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Die Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes schrieben vor 75 Jahren eine Verfassung, deren erste 19 Artikel ein Bollwerk gegen die Feinde einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung bilden sollten. Erfahrungshintergrund war der „Zivilisationsbruch“ der nationalsozialistischen Diktatur. Der „Führerstaat“ setzte politische Freiheitsrechte planmäßig außer Kraft und weitete im Laufe seiner Herrschaft den Kreis von Verfolgten aus „rassischen“, politischen und anderen Gründen immer weiter aus. Das am 23. Mai 1949 verabschiedete Regelwerk formulierte auch deshalb weitgehende Schutzrechte der Einzelnen gegenüber staatlicher Willkür. Das 1951 geschaffene Bundesverfassungsgericht (BVerfGE) schrieb später fest, dass diese Grundrechte bei der Auslegung der gesamten Rechtsordnung Anwendung finden müssten. Die Grundrechte reichen also heute bis weit in die privaten (Rechts-)Beziehungen zwischen den Bürger*innen hinein.

Ein Menschenalter ist seit der Verabschiedung des Grundgesetzes vergangen. Die meisten Kommentatoren aus Medien, Rechts- oder Geschichtswissenschaft sind sich allerdings einig, dass sich der Text bis heute gleichwohl erstaunlich frisch und modern liest – zumindest in den Teilen, die nahezu unverändert geblieben sind. Sein Umfang hat sich allerdings nahezu verdoppelt. Vieles wurde ergänzt, einiges davon liest sich kleinteilig und kompliziert. Bedeutende Änderungen waren die Wehrverfassung (1956), die Notstandsgesetzgebung (1968) oder die Ausdehnung des Gültigkeitsgebiets des Grundgesetzes auf die damals „neuen Länder“ nach der deutschen Vereinigung (1990).

„Gerüst, an dessen Vervollkommnung alle weiterarbeiten“

Ständig gibt es neue Ansprüche und Initiativen zur Erweiterung grundgesetzlicher Bestimmungen. Dazu zählen die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung, die Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips oder auch die Streichung des Artikels 15, der unter bestimmten Umständen die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln ermöglicht. Ergänzungen des Grundgesetzes bedürfen einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, was eine relativ hohe Hürde darstellt. Auf Antrag kann jeder Deutsche die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen durch das BVerfGE prüfen lassen.

Auch Helmut Schmidt betonte häufig die große Bedeutung einer lebendigen Verfassung. Anlässlich des 30. Jahrestags des Grundgesetzes 1979 mahnte er, dies sei ein „Gerüst, an dessen Vervollkommnung alle weiterarbeiten“ müssten. Als ein gelungenes Beispiel dafür gilt die Einführung des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung“ (1983). Damit wurden die Rechte von Bürger*innen angesichts von (1949 noch unbekannten) „neuen Medien“ oder elektronischer Datenverarbeitung auf die neuen Verhältnisse hin angepasst.

Die politische Arbeit im Parlament ist in der Regel geprägt von kontroverser Debatte, bei der sich die Fraktion durchsetzt, die eine Mehrheit zustande bringt. Häufig müssen Kompromisse geschlossen werden. Bei allem Streit über Positionen und Sachfragen scheinen die Werte des Grundgesetzes als gemeinsame Arbeitsgrundlage zuletzt nicht mehr unumstritten zu sein. Dafür spricht etwa die Polemik rechtsextremer Kräfte an einer angeblich gleichgeschalteten „Lügen-“ oder „Systempresse“ oder an einer Politik, die nicht mehr die Interessen einer vermeintlichen „schweigenden Mehrheit“ der Deutschen vertrete. Dass man Aussagen und Drohungen auch namhafter Politiker*innen der Alternative für Deutschland (AfD) in diesem Zusammenhang durchaus ernst nehmen sollte, zeigen Ereignisse und Entscheidungen (nicht nur) in Polen oder Ungarn, wo rechtsstaatliche Prinzipien und Praktiken zum Teil planmäßig außer Kraft gesetzt wurden oder werden.
Auch deshalb diskutieren zurzeit Fachleute aus Rechtswissenschaft, Medien und Politik darüber, ob nicht insbesondere das BVerfGE als die Hüterin der Verfassung besser geschützt werden müsste. So würde eine einfache Mehrheit im Bundestag ausreichen, um etwa die Praxis der Besetzung von Stellen für Richter*innen zu kippen oder anderweitig die Praxis von „Checks and Balances“ der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anzugreifen. Um dies zu verhindern, liegen eine Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch. Aufgrund der verhärteten Fronten zwischen Koalition und Opposition im Bundestag scheinen allerdings neue Regelungen, die einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen bedürfen, derzeit schwer umsetzbar.

Das Grundgesetz: eine wehrhafte Verfassung

Zugleich gibt es Entwicklungen, die Mut machen: Dazu zählt etwa die Ablösung der alten Regierung in Polen durch ein breites politisches Bündnis. Deutlich wird hier, dass man ein demokratisches Staatswesen nicht über Nacht und gegen den Willen einer Bevölkerungsmehrheit abschaffen kann. Und dass auch das Grundgesetz eine wehrhafte Verfassung ist, zeigen wiederum Beispiele aus der Geschichte: So wurden mit der Sozialistischen Reichspartei (1952) oder auch der Kommunistischen Partei (1956) politische Organisationen verboten, die der zuständige BVerfGE-Senat als demokratiefeindlich identifizierte. Ein solches Verbot wird auch gegenüber der in Teilen rechtsextremen AfD diskutiert. Die Entwicklungen rund um die juristischen Verfahren gegen den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump lassen jedoch vermuten, dass ein solches Vorgehen die Partei und ihr Lager eher stärken als schwächen würde.

Anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetzes organisieren die Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr in Hamburg und das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin in Zusammenarbeit mit der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung einen Workshop. Am 14. und 15. März werden Wissenschaftler*innen in der Veranstaltung „Die offene Verfassung. Das Grundgesetz in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach 75 Jahren“ Geist und Praxis einzelner Bestimmungen im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte erörtern. Diskutiert werden jüngere Forschungsarbeiten, die sich mit Beständigkeit, Wandel und Akzeptanz der bundesdeutschen Verfassungsordnung auseinandersetzen.
Interessierte Gäste sind herzlich willkommen. Es wird um Anmeldung über jan.wille@remove-this.hsu-hh.de gebeten.

Schwarz-Weiß Foto der Frauen und Männer, die das Grundgesetz erarbeitet haben.

Die Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes: Konrad Adenauer, Präsident des Parlamentarischen Rats (M.), verkündet am 23. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Pädagogischen Akademie Bonn (v.l. Helene Weber; Hermann Schäfer; Adolf Schönfelder; Jean Stock).

© Bundesregierung/Georg Munker

Schwarz-Weiß Foto von Helmut Schmidt, der im Grundgesetz liest.

Bundesfinanzminister Helmut Schmidt liest das Grundgesetz in seinem Ferienhaus am Brahmsee im Sommer 1973.

© picture alliance/Sven Simon

Acht Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts in roten Roben.

Die Verfassungsrichter*innen Michael Gerhardt, Rudolf Mellinghoff, Lerke Osterloh, Hans-Joachim Jentsch, Vizepräsident Winfried Hassemer (Vorsitzender des Zweiten Senats), Siegfried Broß, Udo Di Fabio und Gertrude Lübbe-Wolff (v.l.) bei der Verkündung des Urteils zum „Kopftuchverbot“ am 24. September 2003.

© Bundesregierung/Ulrich Wienke

Abbildung des Buches mit dem Grundgesetz

Ausgabe des Grundgesetzes zum 70. Jahrestag, Mai 2019.

© Bundesregierung/Ute Grabowsky

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