„Die Nazis sind nicht mit dem Ufo gelandet“: Wie Terror entsteht

Ausstellung über das Konzentrationslager Kislau spannt Bogen in die Gegenwart

Liebe Leser*innen,

„Wir wissen, dass wir nichts ungeschehen machen können, aber wir können Folgerungen für die Zukunft ziehen.“ Helmut Schmidt hat bei seiner Rede als erster deutscher Bundeskanzler in Ausschwitz-Birkenau deutlich gemacht, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist, um extremistischen und antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken. Keine Gesellschaft ist demgegenüber immun. Wenn man aktuelle Entwicklungen in Europa und sogar innerhalb Deutschlands beobachtet, dann werden demokratie- und verfassungsfeindliche Tendenzen deutlich erkennbar.

Unsere Referentin für Bildung und Vermittlung Merle Strunk zeigt uns in diesem Schmidtletter anhand des Konzentrationslagers Kislau exemplarisch, wie sehr Aufarbeitung und Erinnerungskultur für unsere Demokratie von Bedeutung sind. Bis einschließlich zum 3. September können Sie das „Mobile Geschichtslabor“ vom Lernort Kislau e. V. im Helmut-Schmidt-Forum in Hamburg besuchen.

Wir wünschen Ihnen ein schönes Wochenende.
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Ein barockes Jagd- und Lustschloss, Reste einer historischen Burganlage, ein eindrucksvolles Dach im Pyramidenstil – das sind keine Bilder, die man typischerweise mit einem Konzentrationslager verbindet. Auf das Schloss Kislau im Landkreis Karlsruhe trifft genau dies jedoch zu. Das KZ Kislau wurde bereits im April 1933 in dem ehemaligen Bischofssitz eingerichtet und gehörte zu den sogenannten frühen Lagern, die in den ersten Wochen und Monaten der NS-Diktatur errichtet wurden. In diese Lager wurden viele Gegner*innen der NS-Regierung gebracht, die nach dem Erlass der „Reichstagsbrandverordnung“ in Schutzhaft genommen wurden. Die Nazis inszenierten Kislau als vorbildliches Lager und führten es der Presse vor. Die Inhaftierten jedoch erlebten dort Demütigung und Misshandlung und verrichteten Zwangsarbeit. Kislau und andere frühe Lager bildeten damit den „Auftakt des Terrors“ der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Ausstellung Wo fängt Unrecht an? Das mobile Geschichtslabor zum KZ Kislau“ zeichnet nach, wie das Lager entstand, wie im NS-Staat Unrecht zu Recht wurde, wer inhaftiert und verfolgt wurde und welche Rolle Medien dabei spielten. Zugleich macht die Ausstellung an interaktiven Stationen erfahrbar, dass Fragen von Propaganda, Diskriminierung und Rechtsstaatlichkeit weiterhin hochaktuell für unsere Demokratie sind.

Die Geschichte vom Konzentrationslager in einem Schloss zeigt damit, dass Unrecht nicht immer in dem Gewand daherkommt, in dem wir es erwarten und lenkt den Blick auf verschiedenen Dimensionen der Demontage demokratischer Strukturen.

Keine Außerirdischen

„Die Nazis sind 1933 nicht mit dem Ufo gelandet“. Bereits der erste Satz der Ausstellung verdeutlicht ihre Aktualität. Extremismus und Menschenverachtung entstehen nicht im luftleeren Raum, sind keine Naturgewalten und schon gar nicht außerirdische Bedrohungen. Sie sind menschengemacht, oftmals vor unseren Augen und sie bauen auf alten Ideen auf.

So ist zum Beispiel an der „Neuen Rechten“ heute längst nicht alles neu. Ihre Ideologie und Codes bedienen sich bekannter Muster. Auch die Nationalsozialist*innen bauten unter anderem auf völkische Bewegungen des Kaiserreichs auf und etablierten bereits in der Weimarer Republik Werkzeuge zur Zerlegung der Demokratie. Und das auch mit Mitteln innerhalb des rechtlichen Rahmens. Der Weg Hitlers an die Spitze war keine reine „Machtergreifung“, sondern auch eine Machtübertragung, an der viele Akteur*innen mehr oder minder bewusst über einen längeren Zeitraum mitwirkten.

Der Umbau zu autokratischen Strukturen passiert oft schrittweise. Gegenwärtig ist das beispielsweise in Ungarn zu beobachten. Über Jahre wurden Justiz und freie Presse ausgehöhlt, das Parlament umstrukturiert und das System einer „Wahlautokratie“ etabliert. Abgeordnete des Europäischen Parlaments kritisierten bereits 2021, dass die Europäische Union nicht konsequent genug handele, um sich dieser Entwicklung entgegen zu stellen.

Vorausschauen und zurückblicken

Welcher Punkt markiert den Beginn einer Diktatur? Wo fängt Unrecht an? Das ist nicht immer einfach zu beantworten und macht schleichende Entwicklungen so gefährlich. Begleitet werden juristische Schritte in Richtung Diktatur oft von einer zunehmenden Normalisierung bestimmter ideologischen Annahmen, von einer Verschiebung von Werten und von einem gesellschaftlichen Klima der Hetze und Feindbilder.

Ab wann ist die Demokratie also in Gefahr? Wie wehrhaft ist sie? Das wird aktuell in Deutschland viel diskutiert. So untersucht eine Gruppe Wissenschaftler*innen diese Fragen anhand des Beispiels Thüringen. Sie fragen: Wenn in Thüringen eine autoritär-populistische Partei die nächste Landtagswahl gewinnen würde (aktuell steht die Landes-AfD in Umfragen bei 34 Prozent), welche Schritte würde sie unternehmen, um die Demokratie zu demontieren? Zum Beispiel könnte, so Maximilian Steinbeis vom „Thüringen-Projekt“ in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, der Medienstaatsvertrag gekündigt werden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird seit Jahren immer wieder von verschiedenen Seiten kritisiert. Würde von Personen, die den öffentlich-rechtlichen Medien beispielsweise fehlende Objektivität vorwerfen, Widerspruch gegen die Abschaffung des ÖRR kommen?

Dieser Vorgang mit Folgen lässt sich leicht ausmalen. Viele weitere mögliche Schritte zur Destabilisierung der Demokratie klingen auf den ersten Blick weniger invasiv, vielleicht etwas abstrakt und längst nicht so bedrohlich wie die Maßnahmen, die die Nationalsozialist*innen bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme umsetzten - wie zum Beispiel die Einrichtung von Sondergerichten oder die Zerschlagung der Gewerkschaften. Ihre Auswirkungen könnten dennoch fatal sein. Noch sind solche Überlegungen für uns in Deutschland hypothetisch. Sie sind dennoch wichtig, um sich bewusst zu werden, wo die Risiken liegen und um Antworten auf die Frage zu finden, was für den Schutz der Demokratie präventiv getan werden kann. Neben dem Blick nach vorne ist auch der Blick in die Geschichte dabei eines unserer wertvollsten Werkzeuge. Zwangläufigkeiten lassen sich daraus natürlich nicht ableiten. Vielmehr sollte der Blick zurück aber ein Antrieb sein, heute genauer hinzuschauen.

Geschichte greifbar machen

Das mobile Geschichtslabor leistet dazu einen wichtigen Beitrag und verbindet die Geschichte mit aktuellen Fragen. Am Beispiel Kislau gibt das Labor Einblicke in die Entwicklung zum Unrechtsstaat ab 1933. Die Nationalsozialist*innen missbrauchten die noch von Paul Hindenburg als „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ erlassene Notverordnung als Grundlage für willkürliche Verhaftungen und ließen Personen auf Grund ihres Glaubens oder ihrer Parteiangehörigkeit in Konzentrationslager verschleppen. So wie den jüdischen SPD-Politiker Ludwig Marum. In einer öffentlichen Schaufahrt wurden er und andere Sozialdemokraten auf der Ladefläche eines LKWs durch Karlsruhe gefahren, bevor sie in das Lager Kislau gebracht wurden. Tausende Schaulustige beobachteten diese öffentliche Demütigung auf der Straße. Protestierende gab es kaum. Das Propagandablatt „Stürmer“ verbreitete zu dem Zeitpunkt schon seit zehn Jahren antisemitische Hetze innerhalb der Bevölkerung. Gleichzeitig herrschte Angst, selbst Opfer der Verhaftungswelle zu werden.

Die Ausstellung zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland Lehren aus dieser Zeit gezogen hat und in ihrem Grundgesetz Diskriminierungsverbote verankerte. Jedoch können die Besucher*innen an einer Station auch Kugeln in Röhren werfen: rot, wenn sie bereits selbst schon Diskriminierung erfahren haben, blau, wenn sie es bei anderen beobachtet haben, beispielsweise aufgrund des Geschlechts, einer Behinderung, der politischen Anschauung oder auf Basis des Glaubens.

Wenige Schritte weiter werden NS-Propagandaschriften und Mechaniken von Fake News gegenübergestellt. Die Station gibt Besucher*innen Hilfestellung an die Hand, um verzerrt dargestellte oder gefälschte Informationen zu erkennen. Fake News, das merkt man hier, geraten schnell in die Nähe von Propaganda. Die Ausstellung setzt Vergangenheit und Gegenwart nicht gleich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit aber auf Stellschrauben der Demokratie, die wir heute genau im Auge haben sollten. Sie zeigt auch, was unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie stark macht und bringt besonders junge Menschen an interaktiven Stationen miteinander ins Gespräch. Damit leistet die Ausstellung nicht nur einen Beitrag zur Demokratiebildung, sie macht vor allem eins: Mut. 

Das „Mobile Geschichtslabor“ ist eine Ausstellung vom Lernort Kislau e. V.

Kislauer Häftlinge beim Unkrautjäten im Jahr 1944 © Landesarchiv Baden-Württemberg / Generallandesarchiv Karlsruhe, Signatur F 1_34,4.

Noch bis zum 3. September kann die Sonderausstellung vom Lernort Kislau e. V. "Wo fängt Unrecht an?" im Helmut-Schmidt-Forum besucht werden © Lernort Kislau e. V. | Katja Reichert

Autorin: Merle Strunk, M.A.

Referentin für Bildung und Vermittlung

Merle Strunk, M.A., ist Historikerin mit dem Schwerpunkt der Wissensvermittlung in Museen. Sie war in verschiedenen Einrichtungen an Ausstellungs- und Publikationsprojekten beteiligt, darunter im Museum der Arbeit. Als Geschichtsvermittlerin beschäftigt sie sich in der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung damit, Brücken zwischen historischen Ereignissen und der Gegenwart zu schlagen. Daneben arbeitet sie zu Fragen der Visual und Public History.

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