Ehrenbürgerwürde ohne hanseatische Zurückhaltung: „Schmidt schwer beleidigt“

Zwei Tage vor Weihnachten: Sondersitzung im Hamburger Rathaus sorgt für Schlagzeilen

Liebe Leser*innen,

sind Sie noch im Vorweihnachtsstress oder kehrt bei Ihnen allmählich besinnliche Festtagsstimmung ein? Von adventlicher Ruhe konnte keine Rede sein, als die Hamburgische Bürgerschaft am 22. Dezember 1983 ihre Weihnachtsferien verschob und zu einer Sondersitzung zusammenkam.

Warum das Parlament zwei Tage vor Weihnachten noch tagen musste, und was die Sitzung mit einem ehemaligen Bundeskanzler zu tun hat, das schildert Ihnen Ulfert Kaphengst in unserem aktuellen Schmidtletter, mit dem wir uns in die Weihnachtspause verabschieden.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre, vor allem aber ein frohes Fest und einen guten Start in ein gesundes neues Jahr!
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Zwei Tage vor Weihnachten war im Hamburger Rathaus Eile geboten. Die Hamburgische Bürgerschaft, die als „Feierabend-Parlament“ regulär erst ab 16 Uhr tagte, verschob ihre Weihnachtsferien und rief an jenem 22. Dezember im Jahr 1983 ihre 120 Abgeordneten schon um 11 Uhr zusammen. Einziger Tagesordnungspunkt der Sondersitzung war die Senatsvorlage mit der Drucksachen-Nummer 11/1402: „Antrag des Senats auf Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Herrn Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt“. Was wie eine Staatsaffäre anmutet, hatte einen simplen Grund.

Einen Tag später feierte Schmidt seinen 65. Geburtstag. Das war für die Hanseaten die Gelegenheit, um die protokollarisch peinliche Situation zu vermeiden, dass ihnen die Städte Bonn und Bremerhaven zuvorkommen könnten, wie der langjährige Rathaus-Reporter des Hamburger Abendblatt, Veit Ruppersberg, zu berichten wusste. Also fasste der Hamburger Senat schon im Juni 1983 den Beschluss, Helmut Schmidt die Ehrenbürgerwürde angedeihen zu lassen – bevor ihm am 9. September die gleiche Ehre in Bremerhaven und am 6. Oktober in Bonn zuteilwurde. Lediglich die Zustimmung der Hamburgischen Bürgerschaft stand noch aus. Das holten Regierung und Parlament am 22. Dezember nach. 

Helmut Schmidt sollte „für seine großen staatsmännischen Verdienste“ die höchste Auszeichnung seiner Heimatstadt angetragen werden. Schmidt, der vom Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) gleich nach dem Senatsbeschluss am 14. Juni angerufen wurde, soll „den Vorschlag mit Freude entgegengenommen haben“, wie von Dohnanyi am Tag darauf in der Landespressekonferenz berichtete. Die viel zitierte hanseatische Zurückhaltung legte Schmidt in diesem Fall ab. Auch den legendären Brauch, dass ein Hamburger grundsätzlich keine Orden und Ehrenzeichen annehme, ließ Schmidt beiseite. Noch 20 Jahre später überraschte er mit diesem Bonmot den Bundespräsidenten Horst Köhler bei dessen Antrittsbesuch in Hamburg. „Ich habe bisher alle Ehrenzeichen abgelehnt. Aber wenn Sie mir etwas Gutes tun wollen, können Sie mir eine silberne Zigarettendose schenken“, beschied der inzwischen 85-Jährige dem Bundespräsidenten und dem danebenstehenden Ersten Bürgermeister Ole von Beust – und nahm später ein entsprechendes Präsent mit dem eingravierten Hamburger Staatswappen in Empfang, das sich heute noch in seinem Arbeitszimmer in Hamburg-Langenhorn befindet. 

Die Ehrenbürgerwürde sollte die Hamburger Krönung für Schmidts politische Laufbahn werden, die mit dem Misstrauensvotum und dem Kanzlerwechsel von Schmidt zu Helmut Kohl im Oktober 1982 ein jähes Ende genommen hatte. Im Mai 1983 begann Schmidts zweite Karriere. Er wurde Autor und Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit. Sein Arbeitsplatz verlagerte sich vom Rhein wieder an die Elbe. 

Doch die Würdigung in seiner Heimatstadt erwies sich durchaus als heikle Mission. Bis heute existieren in Hamburg keine schriftlichen Bestimmungen oder rechtliche Grundlagen für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde, wie Dr. Josef Schmid von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg 2014 in einer wissenschaftlichen Expertise für die Senatskanzlei feststellte. Es gehört schlichtweg zur hanseatischen Tradition, verdiente Persönlichkeiten auf diese Weise zu ehren. Seit 1813 der kaiserlich-russische Oberst Friedrich Karl Freiherr von Tettenborn zum ersten Ehrenbürger ernannt wurde, weil er die Befreiung von den napoleonischen Truppen geleitet und dadurch die Unabhängigkeit Hamburgs wiederhergestellt hatte, ehrte die Freie und Hansestadt 22 Männer auf diese Weise. Adolf Hitler und Hermann Göring wurden die Auszeichnungen 1945 aberkannt. Helmut Schmidt sollte demnach der 21. Kandidat auf der offiziellen Liste der Hamburger Ehrenbürger werden – und sich in Gesellschaft mit Graf von Moltke, Otto von Bismarck oder Johannes Brahms wiederfinden. 

In den ersten 172 Jahren wurde die Ehre übrigens ausschließlich Männern zuteil. Erst 1985 erhielt die Schauspielerin, Regisseurin und Theaterprinzipalin Ida Ehre die Auszeichnung als erste Frau, 1999 folgte die Zeit-Verlegerin und Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, 2005 die Hamburger Mäzenin Hannelore Greve und 2009 schließlich Hannelore „Loki“ Schmidt, die für ihre herausragenden Verdienste um den Naturschutz geehrt wurde.

Von Tettenborn erhielt als erster Ehrenbürger Hamburgs noch ein „Ehrengeschenk“ von 5.000 Goldmünzen („Friedrich d’or“), doch seither ist die Ehrenbürgerwürde in Hamburg mit keinerlei Privilegien mehr verbunden – im Gegensatz zu anderen Städten, die ihren Ehrenbürger*innen etwa freien Eintritt in Museen und Theater gewähren. Auch eine offizielle Grabstelle auf dem städtischen Friedhof ist in Hamburg nicht vorgesehen. Sie ist Sache der Familie. Selbst die Trauerfeier, zu der bei Ehrenbürger*innen üblicherweise Bürgerschaft und Senat einladen, ging 2015 bei Helmut Schmidt nicht auf Kosten der Stadt, da der Bundespräsident einen offiziellen Staatsakt angeordnet hatte und der Abschied federführend vom Bundesinnenministerium organisiert wurde. 

Die Verleihung der Ehrenbürgerurkunde in Hamburg war ursprünglich Sache des Hamburger Senats. Erst 1890 beschloss dieser, die Bürgerschaft einzubeziehen, „um unliebsame Meinungsverschiedenheiten zu vermeiden“, wie es auf der Website der Stadt heißt. Fast 100 Jahre später, beim potenziellen Ehrenbürger Helmut Schmidt gelang dies nur bedingt. Nach der Bürgerschaftswahl vom Juni 1982 galt die Hansestadt als „unregierbar“. Die CDU als Wahlsiegerin und die SPD als zweitstärkste Kraft wollten keine Große Koalition eingehen. Auch eine Regierungsbildung mit der neuen Grün-Alternativen-Liste (GAL) scheiterte. Daraufhin fanden im Dezember 1982 Neuwahlen statt, bei denen die SPD die absolute Mehrheit erreichte. 

Ein halbes Jahr später zeigten sich Regierung und Opposition versöhnlicher. Sowohl die Sozialdemokraten als auch die CDU sprachen sich vor der Abstimmung im Landesparlament klar für einen Ehrenbürger Helmut Schmidt aus. Oppositionsführer Hartmut Perschau erklärte unmittelbar nach der Bekanntgabe der Senatspläne: „Sein Wirken als Innensenator ist unvergessen. Ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten sehen wir in Helmut Schmidt einen Staatsmann von internationalem Rang. Seine Irrtümer und Fehlentscheidungen verstellen nicht den Blick für seine bleibenden Verdienste um Deutschland und Hamburg“. 

In der außerordentlichen Bürgerschaftssitzung zollte Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) dem Parteifreund Respekt dafür, dass er „durch seine politische Arbeit […] maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Bundesrepublik Deutschland heute eine starke Demokratie ist“. Dabei räumte er ein: „Nun gilt Helmut Schmidt nicht gerade als jemand, der mit seiner Meinung hinter dem Berge hält. Aber die Menschen haben über viele Jahre mit großem Respekt gesehen, wie unermüdlich Helmut Schmidt immer wieder Tatsachen und Einsichten geordnet hat, um zu rationalen Entscheidungen zu kommen. Die Politik auf diese Weise berechenbar zu machen, war sein immer wieder neues Bemühen“, so der Erste Bürgermeister in seiner Rede vor den Abgeordneten.

Neben dem Ersten Bürgermeister kamen in der 51-minütigen Sitzung lediglich zwei weitere Redner zu Wort: Parlamentspräsident Peter Schulz (SPD), der mit Schmidt eng befreundet war, und der GAL-Politiker Thomas Ebermann. Seine Rede wurde von den Medien mit Spannung erwartet, wie er selbst mit gewisser Genugtuung in der Bürgerschaft erklärte. Der damals 32-jährige Mitbegründer der Grünen und streitbarer Vertreter ihres ökosozialistischen linken Flügels, erfüllte alle Erwartungen. Wortgewaltig und rhetorisch gewandt arbeitete er sich „in dieser Situation bedrückender Feierlichkeit“ an den etablierten Parteien und ihrem „heuchlerischen Konsens“ ab. Er holte zu einem Rundumschlag gegen den Jubilar aus. „Ich darf heute also einen Flak-Helfer loben und nicht fragen, wie er ins Reichsluftfahrtministerium geriet“, ging Ebermann mit Helmut Schmidt und seiner Rolle als Wehrmachtsoffizier hart ins Gericht. „Als Musterknabe undogmatischer Linksintellektualität“, wie das Hamburger Abendblatt 2019 anlässlich einer Retrospektive auf die historischen Ereignisse schrieb, ließ Ebermann kein Thema aus: von Schmidts Bekenntnis zur NATO über seine Position zur Atomkraft, seinem Führungsstil und der Staatsräson im Umgang mit dem Terror der Rote- Armee-Fraktion (RAF) spannte er einen Bogen, um dem Bundeskanzler a.D. zu attestieren: „Sie waren für die Großaktionäre dieser Republik ein hervorragender leitender Angestellter“. 

Sein Auftritt fand die entsprechende Resonanz: „An seinem größten Tag: Schmidt in Hamburg schwer beleidigt“, titelte am nächsten Tag die Bild-Zeitung. Schmidt selbst – so berichten die Journalist*innen – soll die Rede Ebermanns schweigend zur Kenntnis genommen haben und mit unbewegter Miene eine Schnupftabakdose aus dem Sakko gezogen haben. Beim anschließenden Empfang im Großen Festsaal des Rathauses bedankte er sich bei allen Rednern „für Zuspruch genauso wie für Polemik. Beides ist nötig, beides werde ich auch meinerseits unserer Stadt gegenüber nicht verhehlen und ihr nicht ersparen. Beides ist ja auch Ausdruck der Zusammengehörigkeit.“

Für „hervorragende staatsmännische Leistungen“: Die Ehrenbürgerurkunde mit dem Großen Staatswappen aus dem Helmut Schmidt-Archiv.

Helmut Schmidt sitzt in der ersten Reihe des Plenarsaals. Die Mehrheit von SPD und CDU stimmt im Landesparlament dafür, ihn zum Ehrenbürger zu ernennen. Die Grün-Alternative-Liste ist dagegen. Foto: Michael Zapf

Der neue Ehrenbürger Helmut Schmidt (Mitte) beim Empfang im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses gemeinsam mit dem Ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (rechts), Hannelore „Loki“ Schmidt (links) und Parlamentspräsident Peter Schulz (vorne links) inmitten seiner Gäste.

Foto: Michael Zapf

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