Autor: Ulfert Kaphengst
Liberaler Haarnetz-Erlass sorgt für Furore – Kuriose Objekte aus dem Haus in Langenhorn
Hamburg, 8. Mai 2019. Das Ausland spottete über die „German Hair Force“. Der Wehrbeauftragte sorgte sich um einen Verfall der Sitten und der Disziplin. Hochrangige Bundeswehr-Offiziere beklagten: „Die Truppe ist schlampig und verdreckt“. Eine haarige Angelegenheit für den Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt. Mit einem neuen Haarnetz-Erlass wollte er 1971 das Bild einer liberalen Armee vermitteln. Die lange Mähne galt für die 68er-Generation als progressiv. Doch ein Jahr später blies Schmidt zum Rückzug. Er ließ die knapp 740.000 Haarnetze, die die Bundeswehr beschafft hatte, um die Haarpracht zu bändigen, einmotten.
Ob das Haarnetz, Schmidts abgewetzte Aktentasche, sein grüner Filzstift, ein Doktorhut und die Schärpe von der Universität Sorbonne: Es sind Objekte wie diese, auf welche die Historiker*innen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung jetzt unter anderem im Archiv und im Wohnhaus in Langenhorn bei ihren wissenschaftlichen Recherchen stoßen. Bislang verborgene Schätze, die Themen greifbar machen – deutsche Zeitgeschichte zum Anfassen. Einige der kuriosen Objekte, deren Herkunft nun in akribischer Detektivarbeit erkundet wird, präsentierte das Team der Stiftung am Samstag, 18. Mai 2019, bei der Langen Nacht der Museen in Hamburg.
Das Haarnetz, mit dem Schmidt als Verteidigungsminister Furore machte, ersteigerte Archivarin Karin Ellermann bei ebay im Internet. Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, recherchierte sie im Archiv. Noch 1967 war für deutsche Soldaten „das Tragen einer schulterlangen oder sonst feminin wirkenden Haartracht (zum Beispiel Beatle-Frisur) unzulässig“. Als Verteidigungsminister der neuen sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt wollte Schmidt auch in der Bundeswehr mehr Demokratie wagen. Mit dem Haarnetz-Erlass vom 5. Februar 1971 läutete er moderne Zeiten ein. Im Detail schrieb der Erlass vor, dass Haar und Bart gepflegt sein mussten und dass im Dienst ein Haarnetz getragen werden musste, falls das lange Haar den Soldaten bei seinen Aufgaben behinderte. Flugs beschaffte die Bundeswehr fast 740.000 Haarnetze – und sorgte sowohl bei den Langhaarigen als auch bei Vorgesetzten monatelang für einen Sturm der Entrüstung. „Rollschinken, olivgrün eingewickelt“, „Scheißding, … die Haare fangen an zu beißen“ urteilten die Soldaten, die sich durch das Haarnetz eingeengt fühlten und mit angeblichen Kopfschmerzen zum Truppenarzt liefen. „Die Vorgesetzten betrachten die Haar-Order mit gedämpftem Zorn. … Außerdem wähnen die Offiziere, ihre Mannschaft sei zur Aufsässigkeit ermuntert“, berichtete der Spiegel im Dezember 1972.
Helmut Schmidts Wortspiel, es interessiere ihn mehr, was unter der Schädeldecke zu finden ist, als das, was auf den Köpfen wächst, brachte den Wehrbeauftragten in Rage. „Es gehört leider zum klassischen Erbe des europäischen Soldatentums, dass das äußere Bild wichtiger genommen wurde als der innere Kern“, konstatierte Helmut Schmidt – und nahm den Erlass im Mai 1972 schließlich zurück. Sein Staatssekretär und enger Freund Wilhelm Berkhan begründete die Änderung damit, dass es in der Truppe vermehrt zu „Ausfällen wegen Verkühlungen durch nasses Haar“ gekommen sei.
Helmut Schmidt bekam für den Haarnetz-Erlass am 8. Februar 1972 in Aachen sogar einen Orden verliehen – den Karnevalsorden „Wider den tierischen Ernst“.