Weltweit einzigartig – Doch EU-Wahl wirft dunkle Schatten voraus

16- und 17-Jährige erstmals aufgerufen – Aber Prognosen sagen massiven Rechtsruck voraus

 

Autor/in:Alisa Rieth
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Liebe Leser*innen,

wussten Sie, dass in diesem Jahr rund die Hälfte der Weltbevölkerung zu – mehr oder weniger freien – Wahlen aufgerufen ist? Und mitten im Superwahljahr 2024 findet die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Vom 6. bis 9. Juni werden knapp 400 Millionen Menschen in 27 EU-Mitgliedsstaaten zur Wahlurne gerufen. Rein zahlenmäßig macht das die EU-Wahl zur zweitgrößten Wahl in diesem Jahr – nur überholt von Indien mit seinen über 1,4 Milliarden Bürger*innen.

Was die Europawahl einzigartig macht und warum die Vorhersagen letztlich keinen Grund zum Feiern bieten, obwohl die Wahlbeteiligung bei der letzten Wahl zugenommen hat, das schildert Ihnen unsere Kollegin Alisa Rieth in diesem Schmidtletter.

Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre,
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung


 

Die EU-Wahl ist einzigartig, denn sie ist global betrachtet die einzige Parlamentswahl, die über Ländergrenzen hinweg organisiert wird. Sie ist „in dieser Form ein weltweit einzigartiger Versuch, Demokratie jenseits des Nationalstaates auszuüben“. Im Jahr 1979 wurde dieser Versuch das erste Mal umgesetzt, seitdem wird das Europäische Parlament alle fünf Jahre gewählt – in diesem Jahr also bereits zum zehnten Mal.

In Deutschland findet die Europawahl am Sonntag, 9. Juni, statt – im Superwahljahr mit einer bedeutsamen Neuerung: Nach Beschluss des Deutschen Bundestags von 2022 wurde das Mindestwahlalter von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Erstmals sind also auch 16- und 17-Jährige zur Stimmabgabe aufgerufen – so wie in Belgien, Malta, Österreich und Griechenland. Für Deutschland ergibt dies ein Plus von etwas mehr als fünf Millionen Stimmen, sodass 2024 damit fast 65 Millionen Bürger*innen wahlberechtigt sind.

Endlich mehr junge Perspektiven

Die stärkere Einbeziehung junger Menschen in europäische Politik ist wichtig und folgerichtig, um Zukunftsfragen endlich auch mehr an den Perspektiven derjenigen auszurichten, die länger davon betroffen sind. Und mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, dem fortschreitenden Klimawandel und der damit einhergehenden sozial-ökologischen Transformation wird aktuell sehr umfassend an den zentralen Stellschrauben für die künftige Gestaltung unseres Zusammenlebens gedreht.


Dies trifft darüber hinaus einen empfindlichen Nerv. Über die Jahre hinweg verweisen verschiedene Umfragen wie etwa die TUI-Studie Junges Europa 2023 oder die Jugendstudie der Vodafone Stiftung aus dem Jahr 2022 darauf, dass junge Menschen auf europäischer Ebene nicht genügend Gehör finden und sich durch bestehende Bildungs- und Austauschformate nicht ausreichend mitgenommen fühlen. Die Herabsenkung des Wahlalters ist dahingehend zwar kein Allheilmittel, aber dennoch ein bedeutsamer, weil formeller Schritt.


Schaut man sich zudem die Zahlen zur Wahlbeteiligung bei vorherigen Europawahlen an, zeigt sich eindrücklich, dass junge Menschen sich beteiligen möchten und von ihrem Wahlrecht aktiv Gebrauch machen. Nahm die Wahlbeteiligung über die Jahre hinweg von Wahl zu Wahl kontinuierlich ab, bis im Jahr 2014 mit nur knapp über 42 Prozent ein trauriger Tiefpunkt erreicht war, konnte dieser Trend bei der vorherigen Wahl 2019 mit einer Beteiligung von circa 50 Prozent (vorerst) gestoppt werden.


Wie eine nach der Wahl 2019 durchgeführte Eurobarometer-Umfrage belegt, ist dieser Anstieg vor allem durch die vermehrte Stimmabgabe der unter 25-Jährigen zustande gekommen. Wählen zu gehen nahmen die Befragten nicht nur als ihre Verantwortung und wichtige Pflicht als Bürger*innen wahr, sie waren auch überzeugt, mit ihrer Stimme einen Unterschied machen zu können. Dies zeugt von politischem Engagement und wahrgenommener Selbstwirksamkeit, stärkt die Legitimität der Wahl sowie das Vertrauen in demokratische Verfahren und politische Institutionen insgesamt.

Trotzdem kein Grund zum Feiern

Trotz des diesjährigen zehnten Jubiläums, der beeindruckenden Zahlen und Neuerungen scheint die Europawahl im Juni kein Grund zum Feiern zu werden. Ganz im Gegenteil –Umfragen zur Wahlentscheidung und eine aktuelle Studie des European Council on Foreign Relations prognostizieren einen massiven Rechtsruck, der sich europaweit durch alle Alters- und Bevölkerungsgruppen zieht. Demnach werden populistische, rechtsextremistische und europaskeptische Kräfte große Zugewinne machen, während gemäßigte, progressive und grüne Parteien deutlich verlieren werden.


Übertragen auf das deutsche Parteienspektrum bedeutet das, dass die AfD wohl hinter der CDU/CSU den zweiten Platz belegen wird. Das mag nach den vergangenen Wahlergebnissen der AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Herbst 2023 nicht mehr sonderlich überraschen. Darüber hinaus werfen die Prognosen für die im Herbst anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen noch düsterere Schatten an die Wand.


Und doch ist dies mit Blick auf die Beteiligung und Ansprache junger Menschen besonders bedrückend. Denn Letzteres gelingt der AfD und ihrem Spitzenkandidaten für die Europawahl, Maximilian Krah, bei Weitem besser als den anderen, aktuell im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Das liegt insbesondere auch an einer Social-Media-Plattform, die die AfD deutlich länger, strategischer und effizienter für die zielgruppengerechte Kommunikation mit jungen Menschen zu nutzen weiß als die anderen Parteien: TikTok. Videos von Krah und seinen Parteikolleg*innen werden dort dreimal so häufig aufgerufen wie die Videos aller anderen Parteien zusammen. Häufig polarisierende, teilweise menschenverachtende, frauenfeindliche und geschichtsrevisionistische Aussagen können sich so millionenfach verbreiten. Bezogen auf die Person Krah hat TikTok nun Konsequenzen gezogen und die Reichweite seiner Videos wegen Verstößen gegen die Community-Regeln gedrosselt.


Die unzureichende inhaltliche Ansprache junger Menschen spiegelt sich auch in den Befunden eines Wahlmonitors der Konrad-Adenauer-Stiftung von März 2024 wider: Gefragt nach der wahrgenommenen Problemlösungskompetenz der Parteien, gibt die überwiegende Mehrheit der befragten 16- bis 22-Jährigen an, dass keine Partei ausreichend kompetent ist, um die anstehenden Probleme in Europa zu lösen. Und mit jeweils 14 Prozent schneiden AfD und SPD noch „am besten“ ab.

Noch ist es nicht zu spät

Natürlich ist die Gemengelage rund um die Europawahlen viel komplexer und der Erfolg der AfD auf TikTok nur eine von vielen möglichen Erklärungen für die Prognosen. Und dennoch sollte es allen Demokrat*innen schon jetzt eine Lehre sein, das Terrain, sei es in etablierten Medienformaten oder in neuen, ungewohnten Plattformen wie TikTok, nicht länger allein rechten Kräften zu überlassen. Nicht nur bei Inhalten, auch bei der zielgruppengerechten Ansprache bedarf es proaktiver Formate, die die Sorgen, Perspektiven, aber auch die Informations- und Kommunikationskanäle der jungen Wähler*innen ernst nehmen. Noch ist es nicht zu spät. Es sind noch genau 50 Tage bis zum Wahltermin in Deutschland am 9. Juni und der Wahlkampf geht erst richtig los.

Darüber hinaus bietet auch die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung während der Hamburger Europawochen ein umfangreiches Programm – mit Ausstellungsführungen, einer „Game Night“ und „Unlock Europe“, dem Escape Game zu Frieden und Sicherheit in Europa. Alle Informationen finden Sie auf unserer Übersichtsseite – wir freuen uns auf Ihren Besuch! 

Die Wahl zum Europäischen Parlament, das in Brüssel (Foto) und Straßburg tagt, ist weltweit einzigartig, da sie über Ländergrenzen hinweg organisiert wird.

© canva

Rückenansicht einer jungen Person, die eine Europaflagge um die Schulter gehängt hat.

Die Zahlen zur Wahlbeteiligung bei vorherigen Europawahlen zeigen, dass junge Menschen sich beteiligen möchten und von ihrem Wahlrecht aktiv Gebrauch machen.

© canva

Vier Jugendliche an einem Tisch mit kleine europäischen Fahnen.

Erstmals sind in Deutschland auch 16- und 17-Jährige zur Stimmabgabe aufgerufen – so wie in Belgien, Malta, Österreich und Griechenland. In unserem Escape Game „Unlock Europe“ (Foto) setzen sie sich mit dem Thema Friedens- und Sicherheitspolitik auseinander.

© BKHS/Zapf

Autorin: Alisa Rieth, M.A.

Projektmanagerin Escape Game

Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Friedens- und Konfliktforschung in Marburg, Den Haag und Frankfurt/Main war Alisa Rieth am Peace Research Institute Frankfurt in der Wissenschaftskommunikation tätig. Seit September 2022 arbeitet sie bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung als Projektmanagerin von „Unlock Europe – Das Escape Game zu Frieden und Sicherheit in Europa“.

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