Liebe Leser*innen,
der NATO-Doppelbeschluss ist eine der am häufigsten mit Helmut Schmidt assoziierten Entscheidungen und zugleich ein inner- und außerhalb Europas intensiv diskutiertes Thema. Letzte Woche, zum 40. Jahrestag der Bundestagsentscheidung zum NATO-Doppelbeschluss, blickten wir auf das historische Ereignis zurück und stellten bei einer gemeinsamen Tagung mit der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung die zentrale Frage: Welchen Preis hat der Frieden?
Dr. Magnus Koch, Leiter des Arbeitsbereichs Ausstellungen und Geschichte, war mitverantwortlich für die inhaltliche Ausrichtung der Veranstaltung. Er gibt in diesem Schmidtletter Einblicke in bis heute relevante Diskussionen rund um den NATO-Doppelbeschluss.
Eine aufschlussreiche Lektüre wünscht Ihnen
Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung
Vor 40 Jahren verabschiedete der Deutsche Bundestag den NATO-Doppelschluss. Dieser sah vor, neu aufgestellten sowjetischen Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 eigene atomare Raketen gegenüberzustellen, um – so die Begründung des westlichen Verteidigungsbündnisses – einen Rückstand auf diesem Gebiet auszugleichen. Über Sinn und Rechtfertigung der nuklearen Rüstung inner- und außerhalb Europas wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren erbittert gestritten – nicht nur auf der politischen Ebene und unter Expert*innen. Das Thema bewegte in der Bundesrepublik hunderttausende Menschen, und auch in der DDR bildete sich eine meist durch die Kirchen getragene Friedensbewegung heraus.
In zwei wissenschaftlichen Fachforen wurden auf einer Tagung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung und der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung am 11. Oktober in Berlin zentrale Aspekte des Konflikts diskutiert. Zum einen, bildlich gesprochen, der Blick von den Kommandohöhen auf Politik, militärstrategische und rüstungstechnische Fragen, zum anderen die Sicht der Gesellschaft auf Themen und Entscheidungen der Zeit.
Die gemeinsame Sorge um das strategische Gleichgewicht
Zunächst sprach Dr. Michael Borchard, Vorstandsmitglied der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung, mit Dr. Tim Geiger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und seit vielen Jahren einer der führenden Experten für die historischen Ereignisse rund um den NATO-Doppelbeschluss. Besonders spannend wurde es in diesem Austausch, wenn Geiger scheinbar gängige Gewissheiten aufgrund fundierter Aktenkenntnisse infrage stellte. In zahlreichen Artikeln, Reden und Medienberichten hält sich beispielsweise bis heute das vereinfachende Bild, Helmut Schmidt habe im Oktober 1977 in einer Rede vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies den Doppelbeschluss initiiert. Fakt ist, dass Helmut Schmidt zu den prominenten Wegbereitern der „Nachrüstung“ gehörte, aber eine Verhandlungslösung präferierte. Geiger gab jedoch zu bedenken, dass auch andere Faktoren für die Genese der Nachrüstung zu berücksichtigen sind. So seien auch technologische Sachzwänge mit einzubeziehen: Alte westliche Mittelstreckenraketen in Europa zielten aufgrund kurzer Reichweiten häufig auf das eigene Gebiet – für das Bündnis ein wichtiger Grund zur Modernisierung des eigenen Arsenals. Eine solche Modernisierung stand ohnehin auf der Agenda – hier war entsprechend weniger Überzeugungsarbeit vonseiten Schmidts gegenüber der US-Regierung unter Jimmy Carter notwendig, als dies häufig zu lesen ist.
Geiger wies auf einen anderen wichtigen Punkt hin: Die nukleare Verteidigung Westeuropas war (und ist bis heute) von den USA abhängig. Schmidt habe erkannt, dass ein Atomschlag der Sowjetunion durch modernisierte Mittelstreckenraketen allein auf Europa gerichtet die Entschlossenheit der USA für einen Gegenschlag auf die Probe stellen könnte. Durch einen Gegenschlag der USA wäre unweigerlich auch das US-Territorium und damit die eigene Zivilbevölkerung gefährdet worden. Hier sah Schmidt eine „Glaubwürdigkeitslücke“ und dementsprechend die Notwendigkeit für ein Gleichgewicht in dieser Waffenkategorie zwischen Ost und West begründet – dies ist ebenfalls ein Aspekt, der in populären Darstellungen über die Ereignisse um das Jahr 1980 selten Thema ist. Dazu gehört auch, dass Schmidt sich seit seinen Standardwerken zu militärstrategischen Fragen aus den 1950er- beziehungsweise 1960er-Jahren stets dafür ausgesprochen hatte, konventionelle, also nicht-nukleare Waffenarsenale der NATO zu stärken, um eine glaubwürdige Abschreckung auch auf diesem Wege aufrechtzuerhalten.
Sicherheitspolitik in der gesellschaftlichen Aushandlung
Eine interessante Verknüpfung zum zweiten Panel ergab sich über eine begriffliche Frage: Helmut Schmidt hatte in der erwähnten Rede in London viel über die Rolle sozialer und politischer Stabilität für eine umfassende Sicherheit Westeuropas gesprochen. Beides seien die Grundpfeiler für den Erhalt westlicher Demokratien. Eine moderne atomare Rüstung und die von ihm nachdrücklich vertretene „Politik des Gleichgewichts“ waren für Schmidt nur Teil eines umfassenderen Sicherheitskonzepts. Prof. Dr. Eckart Conze, Zeithistoriker an der Universität Marburg, wandte sich in seinem Kurzvortrag solchen Konzepten von Sicherheit und Sicherheitspolitik zu, die in den Jahren rund um den NATO-Doppelbeschluss und bis heute einem stetigen Wandel unterliegen. Für die Bundesrepublik nahm er die Wahrnehmungen einer zunehmend selbstbewussteren Zivilgesellschaft in den Blick. Er spannte einen Bogen von den Diskussionen um eine erste Friedensbewegung ausgangs der 1950er-Jahre („Kampf dem Atomtod“) über höchst emotional geführte Auseinandersetzungen um die eigene NS-Vergangenheit (etwa am Beispiel der Ausstrahlung der US-Fernsehserie „Holocaust“) bis hin zu den Menschenketten und Massendemonstrationen im Nachgang des NATO-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979. Dabei wurden Bilder vom Massenmord an den europäischen Juden aus der Zeit des Nationalsozialismus mit solchen einer nuklearen Katastrophe verknüpft.
Zugleich konstatierte Conze ein tiefes Misstrauen an einem übertechnisierten Fortschrittsparadigma, das sich in der Ablehnung gegenüber der nuklearen Hochrüstung in Ost und West gezeigt habe. Für die in den Reihen der Friedensbewegung starke Stimme der Kirchen ging das Verständnis von Sicherheit der Regierungen Schmidt und Kohl nicht mit ihren Vorstellungen von Frieden einher: Beide schlössen sich gegenseitig aus, weil Friede nur mit Vertrauen zu haben sei. Zudem forderten starke Stimmen in der Friedensbewegung eine Demokratisierung der Sicherheitspolitik: Man habe sich zu stark abhängig gemacht von einer „Expertokratie“, die den Zugriff der Menschen auf für sie existenzielle Fragen kaum noch zulasse. Stattdessen habe die Friedensbewegung eine Stärkung der direkten Demokratie gefordert. Dem wollten sich die Regierungskoalitionen vor und nach dem Oktober 1982 jedoch nicht öffnen.
Die Impulsvorträge von Conze und von PD Dr. Claudia Kemper (LWL-Institut der Universität Münster) waren verbunden durch die Frage, was das Streben nach einer zunehmend weiter ausgreifenden Konzeption von „Sicherheit“ demokratiepolitisch bedeutete. Kemper stellte die These auf, dass der Protest um den Doppelbeschluss verknüpft war mit dem Widerstand gegen mangelnde politische Steuerungsfähigkeit angesichts zunehmend schwierigerer wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse in der Bundesrepublik um das Jahr 1980. Die Bewegung gegen die „Nachrüstung“ der NATO habe sich aus dem Reservoir und auch den Erfahrungen anderer sozialer Bewegungen gespeist. Hunderttausende – organisiert häufig in lokalen und regionalen Gruppen – demonstrierten fast ausschließlich friedlich. Das war auch die Leistung einer demokratischen Spielregeln folgenden Zivilgesellschaft. Dass diese Massenbewegung sich bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 nicht habe durchsetzen können, lag laut Kemper auch daran, dass die Koalition aus CDU/CSU und FDP auf wirtschaftliche und soziale Themen setzte, die den meisten nähergelegen hätte als die Angst vor den Folgen eines Atomkriegs. In der anschließenden Diskussion wurden konträre Standpunkte sichtbar, die nicht nur Thesen hinterfragten (etwa: „Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Gebietsreform in der Bundesrepublik und den Protestbewegungen Jahre später“), sondern auch den Gegensatz zwischen Zeitzeug*innen und historisch Forschenden aufleben ließ.
Vom NATO-Doppelbeschluss zur Zeitenwende
In der abschließenden Abendveranstaltung mit Vertretern aus Politik und Bundeswehr verschoben sich die Einschätzungen vom wissenschaftlich abwägenden hin zum politisch zuspitzenden Modus, wobei sich die Akteur*innen auf dem Podium in den wesentlichen Punkten einig waren. So zog der Kuratoriumsvorsitzende der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, Peer Steinbrück, die Verbindung von den historischen Ereignissen um das Jahr 1980 hin zu den jüngsten Kriegsereignissen in der Ukraine und im Nahen Osten. Es gelte heute wie damals klar zwischen aggressiven und friedlich ausgerichteten Kräften zu unterscheiden. Dieser Einschätzung folgten auch der per Videobotschaft zugeschaltete ehemalige Präsident der Republik Lettland Egils Levits und die Podiumsgäste, Bundestagspräsident a. D. Dr. Wolfgang Schäuble sowie der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Carsten Breuer. Levits, dessen Heimatland sich im Baltikum unmittelbar der kriegerischen Politik Russlands ausgesetzt sieht, bezog besonders deutlich Position: Hier Freiheit und Demokratie, dort Unterdrückung und Diktatur. Eine historische Brücke schlagend stellte er fest, dass Schmidt und Kohl damals die freiheitliche Gesellschaftsordnung verteidigt hätten – und dasselbe gelte es heute zu tun. Schäuble und Breuer waren in der anschließenden Diskussion sowohl als politische Akteure und auch als Zeitzeugen gefragt. Der eine für die CDU seit über 50 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestags und enger Mitarbeiter Helmut Kohls in verschiedenen Spitzenpositionen in Partei und Staat, der andere in den 1980er-Jahren junger Soldat und heute General der Bundeswehr. Beide waren sich einig: Die Entschlossenheit der westlichen Regierungen, den NATO-Doppelbeschluss auch gegen massive Proteste durchzusetzen, habe der Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Pakts deutlich gemacht, dass die USA und Westeuropa nicht auseinanderzubringen seien. Dies habe nicht nur unmittelbar zum INF-Vertrag über die Verschrottung aller Mittelstreckenraketen in Europa im Jahr 1987 geführt, sondern auch zum Ende der Blockkonfrontation um das Jahr 1990.
Informationen zur Tagung und eine Live-Aufzeichnung der Abendveranstaltung finden Sie hier.