„Remaking Globalisation!“, aber wie?

Im Gespräch mit den Gästen der Helmut Schmidt Lecture 2023

Unterhaltung am Meeting Point

Ein Resümee von: Raja Albers, Kirsten Hartmann, Tobias Lentzler und Alisa Rieth

Die Helmut Schmidt Lecture 2023 und die dritte Ausgabe unseres BKHS Magazines riefen dazu auf, Globalisierung neu zu gestalten („Remaking Globalisation!“). Um diese Aufgabe bewältigen zu können, braucht es neue Ideen. Dafür haben wir zum ersten Mal die Gäste der Helmut Schmidt Lecture 2023 eingeladen, mit uns an unseren „Meeting Points“ Politikempfehlungen zu diskutieren und darüber abzustimmen. In diesem Beitrag berichten unsere Mitarbeiter*innen Raja Albers, Kirsten Hartmann, Tobias Lentzler und Alisa Rieth über den interessanten Austausch mit den Gästen der Helmut Schmidt Lecture 2023.

Was braucht es, um Globalisierung gerechter und nachhaltiger zu gestalten? Wo sind Veränderungen erforderlich und welche Akteur*innen müssen handeln? Diese und weitere Fragen standen im Zentrum unserer Helmut Schmidt Lecture 2023. Unter dem Aufruf „Remaking Globalisation!“ diskutierten nicht nur unser Redner Professor Dr. Moritz Schularick und die anderen Expert*innen auf der Bühne, sondern auch unsere rund 200 internationalen Gäste.

Ziel der Helmut Schmidt Lecture und des jedes Jahr zur Lecture erscheinenden BKHS Magazines ist es, eine breite Debatte zu ermöglichen, die von unterschiedlichen Stimmen geführt wird und vielfältige Perspektiven einbezieht. So widmen sich im BKHS Magazine#3 unterschiedlichste Personen aus Wissenschaft, Politik und den Künsten der Frage, wie Globalisierung gerechter und nachhaltiger gestaltet werden kann. Dabei verstehen wir unter Globalisierung nicht nur internationalen Handel, sondern viel umfassender die zunehmenden wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Vernetzungen. Das Ergebnis des BKHS Magazins ist eine Vielzahl an themenübergreifenden Politikempfehlungen – von Wirtschaftspolitik, über die Forschung und Lehre globaler Gefüge, bis hin zu Entwicklungs- und Sicherheitspolitik.

Am Abend der Lecture wollten wir genau darüber auch mit unseren Gästen ins Gespräch kommen. Dazu haben wir sie eingeladen, mit uns als auch miteinander über Politikempfehlungen zu diskutieren. An „Meeting Points“ stellten wir Zitate aus dem BKHS Magazine zur Diskussion und luden das Publikum ein, über mögliche Handlungsoptionen und -prioritäten abzustimmen. Die Auswahl der Zitate veranschaulichte die Bandbreite an Themen im BKHS Magazine und repräsentierte die Vielzahl an Stimmen und Perspektiven. Zum einen widmeten sich die Zitate der Frage nach den relevanten Akteuren für eine Neugestaltung von Globalisierung, zum anderen behandelten sie mehrere gegenwärtige Themen wie die Klimakrise oder die Zukunft wirtschaftlicher Zusammenarbeit.

Reflektion der Diskussionen an den „Meeting Points“

Dabei geht es uns nicht um ein repräsentatives Meinungsbild oder den einen „richtigen“ Lösungsansatz. Vielmehr wollen wir ein Stimmungsbild dieses Abends einfangen, dessen Aufruf nach „Remaking Globalisation!“ so viele gefolgt sind.

1. To tackle climate change, what approach is most effective?

Dass angesichts des Klimawandels tiefgreifende Transformationen nötig sind, scheint klar. Doch es wird schnell kompliziert, wenn man genauer nach dem „Wie?“ fragt, die konkreten Strukturen identifizieren möchte, die sich verändern müssen oder die entscheidenden Akteur*innen benennen soll, die wichtige Anstöße zu Transformationen geben müssen. 

Braucht es mehr Ge- und Verbote, um umweltschädliche Praktiken zu verhindern oder wirken positive Anreize – korrekt und zielgerichtet eingesetzt – nachhaltiger? Was können individuelle Verhaltensänderungen, wie der Verzicht auf Fleisch oder Flugreisen bewirken, wenn strukturelle Veränderungen in Politik und Wirtschaft ausbleiben? Über diese und weitere Fragen wurde an den Meeting Points rege diskutiert. Einig waren sich die Mitwirkenden  in einem Punkt: Mehr Bildung und Aufklärung schaden natürlich nie, doch eigentlich haben wir kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem. Hier ist der Staat gefragt – einerseits um klimaschädliche unternehmerische Handlungen stärker zu sanktionieren und andererseits um effektivere Anreize für individuelle Verhaltensveränderungen zu setzen. 

2. What is the most pressing task for the EU to make globalisation more just and inclusive?

Welche Rolle kann die Europäische Union (EU) spielen, um die Globalisierung gerechter und fairer zu gestalten? Die Bandbreite möglicher Handlungsfelder ist groß und reicht von Investitionen in erneuerbare Energien über Patentrechte für Impfstoffe und Schuldenerlasse gegenüber Drittstaaten bis hin zu Fragen der Migrationspolitik. Wir wollten deswegen von unseren Gästen wissen, welche Aufgabe sie für die EU als am dringlichsten erachten. 

Eine klare Priorisierung der Politik- und Handlungsfelder mit Blick auf die EU fiel dem Publikum jedoch schwer – nicht nur, weil die jeweiligen Bereiche oft eng miteinander verschränkt sind, sondern auch weil die Handlungsmacht der EU durchaus kritisch hinterfragt wurde. Gemeinsam erörterten wir, in welchen Bereichen die EU ihre Stärken als „regulatory power“, d.h. als standard- und regelsetzende Instanz am ehesten einsetzen kann. Eine klare Antwort war schwierig zu finden, gerade der Bereich des Schuldenerlasses gegenüber Drittstaaten und die Frage von erleichterter regulärer Migration kam aber immer wieder zur Sprache. Skeptisch wurde auch diskutiert, inwiefern sich die EU nicht nur wirtschaftlich, sondern auch (geo-)politisch gegen andere mächtige Player wie die USA oder China behaupten kann.

3. What is most important for a globally just energy transition? 

Die Diskussionen bei der Weltklimakonferenz im Dezember 2023 haben gezeigt, dass ein Ausstieg aus fossilen Brennstoffen auf kurze oder mittelfristige Sicht unausweichlich ist, um der Klimakrise entgegenzuwirken. Es braucht einen Wandel im Energiesektor. Doch wie kann dieser Wandel nachhaltig und global gerecht gestaltet werden? Wie können wir vermeiden, dass Staaten des Globalen Südens disproportional unter den Kosten dieses Wandels leiden? Genau das haben wir die Teilnehmenden der Lecture gefragt. 

Die Bereitstellung von Finanzmitteln für den Ausbau erneuerbarer Energien im Globalen Süden schien vielen eine gute Möglichkeit. Eine Mehrheit sprach sich zudem dafür aus, Umweltkosten beim Energieverbrauch einzupreisen. Insgesamt zeigte sich in den Gesprächen allerdings, dass unsere Gäste vor allem darin ein Problem sehen, dass es in den Industriestaaten an erforderlichem Verantwortungsbewusstsein und Handlungsdrang mangelt. Während am Lecture-Abend eine Finanzierung des Ausbaus erneuerbarer Energien im Globalen Süden von vielen begrüßt wurde, waren sich alle einig: letztlich braucht es eine globale Ausweitung energieeffizienterer Technologien und eine fair gestaltete Reduktion des Verbrauchs.

4. Which economic model benefits societies and people most?

Schon vor mehr als 15 Jahren warnte der Ökonom Dani Rodrik davor, dass die Globalisierung nicht allein ihren „Cheerleadern“ überlassen werden dürfe. Das stärkste ökonomische Wachstum lasse sich nicht unbedingt in den Ländern verzeichnen, die die liberalste Wirtschaftspolitik hätten. Entscheidend hierfür seien auch regelbasierte und gut funktionierende Institutionen. Die Diskussionen am Lecture-Abend zeigten, dass die Debatte in den vergangenen Jahren noch um eine Facette erweitert wurde. Der Einsatz für einen regelbasierten Welthandel fand zunächst – ähnlich wie die Forderung nach zunehmender Regionalisierung inklusive der Etablierung von Handelsunionen – keine breite Zustimmung. Die meisten Gäste hielten die Einführung zirkulärer Ökonomien auf regionaler, nationaler und globaler Ebene für erfolgversprechender. 

Aus den Diskussionen mit unseren Gästen lässt sich also folgern, dass Fragen der Ökonomie sich heute kaum mehr von Fragen des Klimaschutzes trennen lassen. Dies belegen auch die vielen Ergänzungen der Teilnehmenden, die z. B. forderten „Klima in Wirtschaftsfragen mit[zu]denken“. Während ein Teil unserer Gesprächspartner*innen die Hoffnung auf eine Um- bzw. Neugestaltung globaler Märkte noch nicht aufgegeben hatte, war bei einem anderen Teil eine Resignation angesichts der weltpolitischen Lage und ihres Einflusses auf den globalen Handel erkennbar. Dass es im Welthandel nicht mehr allein um Gewinnmaximierung gehen dürfe, war dagegen allgemeiner Konsens in den Gesprächen.

5. What should Germany prioritise to strengthen international cooperation?

Eine verstärkte internationale Kooperation ist ein wichtiger Bestandteil bei der Bearbeitung und Lösung von aktuellen sowie künftigen Krisen und Konflikten. So weit, so gut. Doch die Entscheidung was Deutschland hierbei priorisieren soll, fiel unserem Lecture-Publikum gar nicht so leicht. Während einige die fortgesetzte Finanzierung von interkulturellem Austausch hervorhoben, argumentierten andere, dass Deutschland zuerst auf eine Repräsentanz der Länder des Globalen Südens in Entscheidungsgremien drängen sollte. Nur eine gleichberechtigte Einbeziehung aller könne schließlich die Basis dafür sein, dass sich die Zusammenarbeit für alle als langfristig erfolgreich erweist. Wieder andere verwiesen auf den von Moritz Schularick erwähnten notwendigen Pragmatismus, und sprachen sich für ständige, von politischen Schocks unabhängige Formen der Zusammenarbeit in administrativen Fragen aus. 

Viele unserer Gesprächspartner*innen wollten nicht zwischen Bereichen priorisieren, sondern hoben die Bedeutung aller genannten Handlungsfelder hervor. Die Mehrheit unserer Gäste betonte als zentralen Aspekt zur Stärkung internationaler Kooperationen, dass Deutschland Koalitionen bilden müsse, um die strukturellen und historischen Ungleichheiten sowie kolonialen Kontinuitäten im globalen Finanzsystem zu überwinden. 

Multiple Krisen erfordern multidimensionale und interdisziplinäre Lösungen 

So thematisch verschieden die Diskussionen an den Meeting Points auch waren, beobachteten wir doch zwei Punkte, die themenübergreifend immer wieder hervorgehoben wurden. Erstens tendierten die Teilnehmenden dazu, politisch verankerte Anreize oder auch bindende Gesetze einzufordern. Vielen erschienen derlei staatliche Maßnahmen vielversprechender als der Versuch, Wissen zu verbreiten und Werte zu verdeutlichen. Zweitens betonten die Lecture-Gäste an allen Meeting Points, dass für die Bewältigung gegenwärtiger Krisen und Konflikte stärker fach- und themenübergreifend zusammengearbeitet werden müsse. Eine zentrale Forderung war eine interdisziplinäre Verschränkung von bisher immer noch zu häufig getrennt gedachten Bereichen, wie beispielsweise der Wirtschafts-, Klima- und Außenpolitik.

Dieser Idee folgend war unser BKHS Magazine gestaltet. Die Diversität der Ansätze und Disziplinen der Autor*innen im BKHS Magazine zeigt bereits deutlich, wie gewinnbringend sie sein kann. Ebenso war für die Mehrheit der Gäste am Abend der Helmut Schmidt Lecture 2023 klar, dass multidimensionale Ansätze unumgänglich sind, um gegenwärtige Herausforderungen zu meistern, Ansatzpunkte für Veränderungen auszuloten und dazu beizutragen, die Globalisierung gerechter und nachhaltiger zu gestalten. 

Meeting Point bei der Helmut Schmidt Lecture 2023

© BKHS/Michael Zapf

Meeting Point bei der Helmut Schmidt Lecture 2023

© BKHS/Michael Zapf

Meeting Point

© BKHS/Michael Zapf

Meeting Point bei der Helmut Schmidt Lecture 2023

© BKHS/Michael Zapf

Dialog am Meeting Point bei der Helmut Schmidt Lecture 2023

© BKHS/Michael Zapf

Interview am Meeting Point bei der Helmut Schmidt Lecture 2023

© BKHS/Michael Zapf

Autorin: Raja Albers hat den Blog-Beitrag gemeinsam mit Kirsten Hartmann, Tobias Lentzler und Alisa Rieth verfasst. Sie war studentische Mitarbeiterin in den Programmlinien der BKHS.

Autor: Tobias Lentzler

Wissenschaftliche Assistenz in der Programmlinie Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit

Nach einem Studium der Philosophie, Politik und Ökonomik an der Universität Witten/Herdecke und einem unabhängigen Forschungsaufenthalt an der Yale University arbeitete Tobias Lentzler von 2019 bis 2022 als Projektmanager bei der Bertelsmann Stiftung. Seit August 2022 promoviert er an der TU Chemnitz im Bereich der Intellectual History. Von Dezember 2022 bis März 2024 war er als wissenschaftlicher Assistent in der Programmlinie Globale Märkte und soziale Gerechtigkeit tätig.

Autorin: Alisa Rieth, M.A.

Projektmanagerin Escape Game

Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Friedens- und Konfliktforschung in Marburg, Den Haag und Frankfurt/Main war Alisa Rieth am Peace Research Institute Frankfurt in der Wissenschaftskommunikation tätig. Seit September 2022 arbeitet sie bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung als Projektmanagerin von „Unlock Europe – Das Escape Game zu Frieden und Sicherheit in Europa“.

Autorin: Kirsten Hartmann, M.A.

Wissenschaftliche Assistenz Programmlinie Europa und Internationale Politik

Kirsten Hartmann hat Internationale Beziehungen sowie Peace Research and International Relations in Erfurt, Cali, Tübingen und Haifa studiert. Vor ihrer Tätigkeit bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung hat sie unter anderem Praktika bei der deutschen Botschaft in Panama-Stadt, der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ramat Gan und dem United Nations Peacebuilding Support Office in New York absolviert und war als Werkstudentin bei der Berghof Foundation tätig.

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