„We need to start building peace amidst a war”

„Global Expert Group“ entwickelt Vorschläge für Konfliktbewältigung und Friedensförderung der Zukunft

Eine Gruppe von Menschen sitzt um einen Tisch. Im Hintergrund ist eine Wand mit bunten Klebezetteln.

Liebe Leser*innen,

vom 21. bis zum 23. Juni 2023 fand in Hamburg der Kick-Off-Workshop unserer „Global Expert Group on Conflict Resolution and Peacebuilding” statt. Wir haben dieses Netzwerk an Expert*innen aus Konflikt- und Post-Konfliktländern gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) gegründet, um die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in Konfliktländern weltweit besser zu verstehen und konkrete Politikempfehlungen zu entwickeln, wie diesen Folgen begegnet werden kann.

Außerdem soll das Projekt Anliegen von Expert*innen aus allen Weltregionen stärker in europäische Diskurse rund um die globalen Folgen des Ukrainekriegs einbringen. Unsere Forschungsassistentin Kirsten Hartmann gibt Ihnen einen ersten Einblick in die Ergebnisse des Workshops.

Nächsten Samstag folgt wie gewohnt ein Schmidtletter kompakt. Wir verabschieden uns mit diesem Beitrag schon in die Sommerpause und wünschen Ihnen eine angenehme Zeit im Urlaub oder zu Hause.

Ihre Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung



Bis heute werden die Erfahrungen und Expertise von Menschen aus Konfliktkontexten in Maßnahmen der internationalen Konfliktlösung und Friedensförderung oft vernachlässigt. Das ist für nachhaltigen Frieden hinderlich: Zum Beispiel zeigt uns die Friedensforschung, dass die Legitimität und Effektivität multilateraler Friedenseinsätze immer wieder unter zu geringer lokaler Teilhabe leiden. Wenn wir also neue Ideen für Handlungsoptionen entwickeln wollen, etwa wie man mit den direkten und indirekten Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in Konfliktkontexten umgehen kann oder was im Wiederaufbauprozess von Konflikten und Kriegen gut oder weniger gut funktioniert, dann können wir von Expert*innen aus Konfliktländern aus erster Hand lernen. Es geht dabei jedoch nicht darum, eine allgemeingültige Lösungsstrategie für Konflikte zu finden: Frieden hat keine Blaupausen und jeder Konflikt hat eigene, kontext-spezifische Ursachen und Dynamiken.

Die Bedeutung diverser Perspektiven aus Konfliktkontexten

Die „Global Expert Group“ setzt auf diese Vielfalt. Während unseres Kick-Off-Workshops diskutierten Teilnehmende aus vier Kontinenten und acht Ländern, darunter Afghanistan, Äthiopien, Kolumbien, Kosovo und den Philippinen über die Zukunft internationaler Konfliktbewältigung und Friedensförderung in einer sich verändernden Weltordnung. Um verschiedene Perspektiven und Lebensrealitäten aus diesen Ländern einzubringen, versammelt das Netzwerk Expert*innen aus der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik. So tauschten sich während des Treffens zum Beispiel eine Aktivistin, ein Professor und eine stellvertretende Außenministerin aus. Der syrisch-schweizerische Wissenschaftler Joseph Daher betonte, dass die diverse Zusammensetzung der Gruppe für die Expert*innen selbst auch sehr bereichernd sei, da dies ermögliche, sich mit Menschen aus anderen Fachgebieten auszutauschen und dadurch von anderen Erfahrungen und Dynamiken zu lernen. Für Donika Emini, Leiterin der CiviKos Platform, die rund 290 zivilgesellschaftliche Organisationen im Kosovo vereint, zeichnete sich der Workshop besonders dadurch aus, dass er Personen mit unterschiedlichem Hintergrund, umfangreichem Wissen in der Friedensförderung und bedeutender praktischer Erfahrung zusammenbrachte und so einen sehr effektiven Bottom-up-Ansatz ermöglicht.

Von westlicher Doppelmoral zu kontext-spezifischen Ansätzen

Die Workshop-Teilnehmenden identifizierten in mehreren interaktiven Diskussionsformaten jeweils übergreifende Themen und Fragen, die aus ihrer Länder-, Regional- oder Themen-Expertise von besonderer Relevanz sind. Dabei lassen sich auf Basis der Diskussion drei breite Themenfelder identifizieren, die aus Sicht der Teilnehmenden in Zukunft verstärkt im Zentrum politischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit stehen sollten.

Dazu gehören erstens die direkten und indirekten Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine in anderen Konfliktländern – etwa in Bezug auf Ernährungsunsicherheit, Energieversorgung oder die Verlagerung internationaler Aufmerksamkeit und Ressourcen weg von anderen Konflikten – sowie die strukturellen Untermauerungen dieser Folgen und die Komplexität möglicher „Nebenwirkungen“. So diskutierten die Teilnehmenden etwa, dass als Folge des russischen Kriegs gegen die Ukraine die Energie-Diversifizierung für viele Staaten, besonders in Europa, an Bedeutung gewonnen habe. Obwohl dabei häufig hervorgehoben werde, dass Energie-Exporteure wirtschaftlich profitieren, wenn Europa seine Energieabhängigkeit von Russland senke und Ersatzquellen für Gas und Öl suche, wiesen die Teilnehmenden auf die Komplexität dieser Dynamik hin. Etwa wenn in Exportnationen wie Kolumbien lokale Konflikte verschärft, Umweltaktivist*innen bedroht oder die indigene Bevölkerung vertrieben werden. Ökonomische Überlegungen müssten daher verstärkt gemeinsam mit sozialen Aspekten und Fragen der Demokratie, des Friedens und der Energiewende gedacht werden.

Zweitens diskutierten die Teilnehmenden strukturelle und geostrategische Folgen des Kriegs gegen die Ukraine für die globale Ordnung, für die zukünftige Ausgestaltung von Friedensförderung und Konfliktlösung und für die Beziehung zwischen dem „Westen“ und dem „globalen Süden“. Während der Diskussion wurde deutlich, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine in Ländern des „globalen Südens“ sehr viel differenzierter wahrgenommen wird und die Konsequenzen sehr viel vielschichtiger sind als es die öffentliche Debatte in Europa oft darstellt. Besonders problematisierten die Teilnehmenden die Doppelmoral in der Reaktion „des Westens“ im Vergleich zu anderen Konflikten und Kriegen, sichtbar insbesondere in der unterschiedlichen Behandlung von Geflüchteten.

Drittens sammelten die Teilnehmenden auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Expertise auch „Lessons Learned“, sprich positive wie negative Lehren aus der Friedensförderung und Konfliktlösung. Hier betonten sie die Notwendigkeit einer qualifizierten Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen und Anliegen der lokalen, konflikt-betroffenen Bevölkerung und der Entwicklung von kontext-spezifischen, kohärenten, langfristigen und allumfassenden Ansätzen. Dabei sei es zentral, bereits während eines Kriegs mit der Friedensförderung zu beginnen – „We need to start building peace amidst a war“ – und zu beachten, dass Friedensbemühungen nicht mit einem Waffenstillstand enden und sich nur auf infrastrukturellen Wiederaufbau konzentrieren, sondern auch mentale und psychosoziale Unterstützung umfassen sollten.

Nach dem Workshop ist vor dem Workshop

Die Mitglieder des Netzwerks werden sich im Herbst 2023 erneut zusammenfinden. Die Ergebnisse ihrer Workshops fließen genauso wie Interviews mit zahlreichen weiteren internationalen Expert*innen aus Forschung und Praxis in einen Bericht, der Anfang 2024 in mehreren Sprachen veröffentlicht und konkrete Politikempfehlungen enthalten wird.
Weitere Informationen zur „Global Expert Group“ finden sie hier.

Eine Gruppe von Menschen sitzt um einen Tisch. Im Hintergrund ist eine Wand mit bunten Klebezetteln.

Die „Global Expert Group on Conflict Resolution and Peacebuilding” bringt Expert*innen aus Konflikt- und Post-Konfliktländern an einen Tisch. Darunter sind Joseph Daher, Gastprofessor an der Universität Lausanne, angeschlossener Professor am Europäischen Hochschulinstitut, Florenz (r.), Tatjana Milovanović, Programm Direktorin, Post-Conflict Research Center (l.), Bosnien und Herzegowina, und Zarifa Ghafari, afghanische Aktivistin und Politikerin (2. von l.).

© BKHS/Michael Zapf

Zwei Frauen und ein Mann stehen vor einer Stellwand mit bunten Klebezetteln. Zwei Frauen sitzen am Tisch.

Julia Strasheim (l.) von der BKHS und Tina Blohm (r.) von der FES präsentieren mit Happymon Jacob (außerordentlicher Professor für Diplomatie und Abrüstung an der Jawaharlal Nehru University, Gründer der Denkfabrik „Council for Strategic and Defence Research”, Indien) erste Ergebnisse.

Vorne: Donika Emini (l.), Geschäftsführerin der „CiviKos Platform”, Kosovo, und Catalina Niño (r.), Leiterin des Projekts Regionale Sicherheit der FES in Lateinamerika. © BKHS/Michael Zapf

Jennifer Santiago Oreta, Assistant Professor am Institut für Politikwissenschaft und Direktorin Ateneo-Initiative für Südostasien-Studien (AISEAS), Ateneo de Manila University, Philippinen

© BKHS/Michael Zapf

Autorin: Kirsten Hartmann, M.A.

Wissenschaftliche Assistenz Programmlinie Europa und Internationale Politik

Kirsten Hartmann hat Internationale Beziehungen sowie Peace Research and International Relations in Erfurt, Cali, Tübingen und Haifa studiert. Vor ihrer Tätigkeit bei der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung hat sie unter anderem Praktika bei der deutschen Botschaft in Panama-Stadt, der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ramat Gan und dem United Nations Peacebuilding Support Office in New York absolviert und war als Werkstudentin bei der Berghof Foundation tätig.

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